Die andere Seite - mißglückte Therapieversuche



Selbstverständlich sind die oben beschriebenen Erfahrungen zwar häufige und möglicherweise wünschenswerte, jedoch nicht die einzig möglichen Erfahrungen, die Nutzer im Cyberspace machen. Nicht immer werden die virtuellen Umgebungen für den einzelnen Nutzer therapeutische Wirkung zeitigen. Für manche Nutzer sind Erfahrungen in MUDs oder IRC-Channels auch deprimierend, insbesondere, wenn sie es nicht schaffen, sich aus von ihnen selbst als defizitär empfundenen Mustern zu lösen, wenn eventuell sogar die ungeliebten Muster sich im Cyberspace noch stärker und deutlicher zeigen, und es ihnen dennoch nicht möglich ist, diese zu überwinden. Diese Fälle zeigen, daß, um therapeutische Effekte zu erzielen, oftmals mehr notwendig ist, als ein sicherer Raum innerhalb dessen man Dinge tun und sagen kann, zu denen man im RL nicht den Mut oder die Kraft findet.

Turkle (1995) beschreibt den Fall von Stewart , einem jungen Mann mit einem komplexen Familienhintergrund: Stewart war seit seiner Kindheit krank und leidet unter Angst vor dem Tod. Er fühlt sich verantwortlich für die starken Migräneanfälle seiner Mutter, sein Vater zog sich emotional zurück in eine Welt zurück, die aus Arbeit und Dingen, die zu reparieren sind, besteht. Stewart hat diese Strategie im Umgang mit Gefühlen übernommen, seine Hauptabwehrstrategie gegen Depressionen ist "not to feel things". Stewart bevorzugt die sichere Welt der Naturwissenschaften gegenüber der flüchtigeren und unvorhersagbaren Welt der Menschen. Er bezeichnet sich als unfähig, seinen emotionalen Problemen Ausdruck zu verleihen, während sie noch relevant sind: "I have to wait until they have become just a story" .

Stewart hatte von den MUDs durch Carrie erfahren, eine Klassenkameradin, die im MUD eine Zuflucht und Trost für ihre Vielzahl an Sorgen - sie hatte ein Alkoholproblem und einen Freund, der sie mißhandelte - fand. Stewart wollte Carrie mit ihren Problemen helfen, doch als sie seine Freundschaft ablehnte, indem sie sich mit ihren Problemen statt an ihn an die Leute im MUD wandte, dauerte es nicht lange und Stewart führte das Ende der Beziehung herbei, indem er Carries Eltern von ihrem Alkoholproblem informierte. Carrie empfand dies als Übergriff in ihre Privatsphäre, Stewart argumentierte er sei moralisch im Recht. Carrie beschloß, nicht mehr mit Stewart zu sprechen.

Schließlich, im Herbst des selben Jahres, ging es Stewart extrem schlecht: Er hatte Carrie verloren, seine Mutter war schwerkrank, er selbst hatte eine Lungenentzündung. Diese Erkrankung brachte seine lange unterdrückte Todesangst wieder an die Oberfläche und führte nach der Rückkehr aus dem Krankenhaus zu Depressionen. Wie immer wandte sich Stewart, um der Depression Herr zu werden, der Arbeit zu, aber als das nicht funktionierte, weil er den Anschluß an seine Klasse durch die lange Krankheit bereits verloren hatte, versuchte er es mit Carries Strategie und ging in die MUDs. Nach kaum einer Woche verbrachte er 10- 12 Stunden im MUD, wo er endlich (und endlos, wie er selbst sagt) über seine RL-Probleme sprechen konnte und eine elaborierte MUD-Existenz aufbaute, ja, sogar eine MUD-Hochzeit feierte.

Obwohl MUDs Stewart dazu brachten, erstmals über seine Probleme zu reden, solange diese noch emotional relevant für ihn waren, empfand er dies nicht als erleichternd, sondern unterstreicht, daß dies sein Gefühl der Unzulänglichkeit noch verstärkte. Turkle vergleicht Stewarts Situation mit der des Cyrano de Bergerac: sein Erfolg bei der Werbung um Roxanne ändert nichts an seinem niedrigen Selbstwertgefühl.

Stewarts Bemühungen, sein MUD-Selbst, oder Teile dieses MUD-Selbst, in sein RL und seine RL-Persönlichkeit zu integrieren, schlugen ins Gegenteil um, indem sie ihn auf neue Art verletzlich machten:

From Stewart's point of view, MUDs have stripped away some of his defenses but have given him nothing in return. In fact, MUDs make Stewart vulnerable in a new way. Although he hoped that MUDs would cure him, it is MUDs that now make him feel sick. He feels addicted to MUDs: 'When you feel you're stagnating and you feel there's nothing going on in your life and you're stuck in a rut, it's very easy to be on there for a very large amount of time.'"(Turkle 1995)

Da Stewart die Eigenschaften, die er in RL so gerne hätte, lediglich im MUD zum Vorschein bringen kann, zieht es ihn immer wieder dort hin, wo er seiner Ansicht nach die 'bessere' Persönlichkeit ist, das 'bessere' Leben führt. Gleichzeitig aber macht ihm das 'bessere' virtuelle Leben die Defizite seines RL um so schmerzlicher bewußt, so daß er immer wieder in die MUDs flüchtet.

Turkle unterstreicht, daß MUDs - und dies gilt für IRC wohl ebenso wie für andere virtuelle und reale Räume - nur dann therapeutische Effekte zeitigen können, wenn diese Räume "reworking space" darstellen. Für Stewart hingegen entwickelten sich MUDs mehr und mehr zu 'reenacting space', insofern als er begann, die Schwierigkeiten, die er im RL hatte, im MUD wieder und wieder durchzuspielen. Erneut, wie im RL, erhob er sich moralisch über die anderen Spieler und warf ihnen ihre Unzulänglichkeiten vor, outete ihre RL-Identitäten - verfiel also in das gleiche Muster, das er auch bei Carrie gezeigt hatte. Als er von anderen Spielern darauf hingewiesen wurde, daß er sich, indem er so selbstgerecht auf andere zeigte und sie bloßstellte, unrecht verhielt, reagierte er wütend. Turkle bemerkt hier das Manko der MUDs:

"A psychotherapist might have helped Stewart reflect on why he needs to be in the position of policeman, judge, and jury. Does he try to protect others because he feels that he has so often been left unprotected? How can he find ways to protect himself? In the context of a relationship with a therapist, Stewart might have been able to address such painful matters. On the MUD, Stewart avoided them by blaming other people and declaring right on his side."

Nutzer, die MUDs als therapeutischen Raum erfahren, betonen immer wieder, daß sie die Anonymität in MUDs als etwas empfinden, das es erleichtert, sich zu öffnen. Stewart lehnte diese Anonymität ab, sprach ununterbrochen mit jedem, der zuhörte. Die so umfassende Aufgabe der Schutzmechanismen, die im RL so charakteristisch für Stewart waren, erzeugten bei ihm das Gefühl eines Kontrollverlustes. Er kompensierte dies, indem er die Vorgänge in MUDs leugnete und ihnen jeglichen Wert oder Relevanz absprach.

Indem Stewart seine Stärken abspaltete und zu Fähigkeiten machte, die nur in MUDs Teil seines Verhaltensrepertoires waren, vergrößerte er die Distanz zwischen seinem RL und dem MUD-Leben so sehr, daß es für ihn unmöglich wurde, die Erfahrungen aus dem MUD in das RL zu übertragen. MUDs konnten so nicht dazu beitragen, die positiven Seiten, die im MUD ausgelebt wurden, in die Gesamtidentität zu integrieren. Turkle formuliert den Unterschied deutlich:

"Stewart has used MUDs to 'act out' rather than 'work through' his difficulties. In acting out we stage our old conflicts in new settings, we reenact our past in fruitless repetition. In contrast, working through usually involves a moratorium on action in order to think about our habitual reactions in a new way."

Gerade dadurch, daß Stewart erfahren hat, daß er im MUD der sein kann, der er so gerne in RL wäre, ist es ihm unmöglich, sein MUD-Leben aufzugeben: immer wieder kehrt er, wie zwanghaft, zu diesem MUD-Leben zurück, obwohl es ihm nicht gelingt, positives für sein RL daraus zu beziehen. In dieser 'Sucht', wie Stewart sein Verhalten selbst bezeichnet, scheint sich gerade die Sehnsucht, der Wunsch nach der Integration dieses Teils des Selbst widerzuspiegeln.

Es steht zu befürchten, daß für Stewart in dieser Konstellation keine Entwicklung mehr möglich ist, sondern daß er weiter zwischen den beiden voneinander abgespaltenen Polen seines Selbst hin- und herpendeln wird. Da er unfähig ist, den Teil seines Selbst, den er online lebt, wirklich als Teil seiner Selbst integriert zu sehen, wird das Aushalten dieses Widerspruchs zwischen RL und MUD-Leben - denn für Stewart bleibt es eine Erfahrung des Widerspruchs und der Unvereinbarkeit - schmerzhaft bleiben.

Das Beispiel von Stewart zeigt deutlich, daß MUDs nicht für jeden der geeignete Ort sind, um nach persönlichem Wachstum, nach Selbsterfahrung und Selbstbildung zu suchen. Es existieren in den MUDs einmalige Möglichkeiten zu Erfahrungen mit therapeutischem Effekt, doch sind diese Möglichkeiten nicht grenzenlos und hängen auch von der Problematik, welcher der Einzelne sich gegenübersieht, sowie den emotionalen Ressourcen und dem Potential zur Selbstreflexion ab.

Wenn, wie in Stewarts Fall, den Turkle in seinem Verlauf mit einer mißglückten Psychotherapie vergleicht, die Integration der im virtuellen Raum erfahrenen Fragmente des Selbst im RL nicht gelingt, besteht die Gefahr, daß der Einzelne zwischen diesen Fragmenten verhaftet bleibt, unfähig, die einzelnen Teile des Ganzen, das ihn selbst ausmacht, miteinander auf konstruktive Weise zu verknüpfen. Turkle beschreibt jedoch auch verschiedene geglückte Fälle, die in ihrem Verlauf ebenfalls dem einer - geglückten - Psychotherapie ähneln. Diese Fälle unterstreichen das große Potential, das in den virtuellen Räumen für Selbst-Erfahrung und für ein Hinauswachsen über das RL-Selbst liegt.

Wie bei anderen Medien auch, kann bei den verschiedenen Welten im Internet nicht für alle Nutzer vom gleichen Effekt ausgegangen werden, vielmehr können nur beobachtete Effekte beschrieben und Potentiale aufgezeigt werden, möglicherweise und zukünftigen Untersuchungen die Häufigkeit der einzelnen Phänomene bestimmt werden.

Gerade in einem Medium, das so sehr seine Form, seine Wirkung und sein Potential aus dem bezieht, was jeder einzelne Nutzer in es hineinträgt und einbringt, ist die Vielfalt der Möglichkeiten dessen, was die Nutzer aus ihm beziehen, fast überwältigend. Für den einen Nutzer gleicht es schon einer Offenbarung, sein eigenes Verhalten schwarz auf weiß am Bildschirm zu sehen, und umwälzende Reflexionsprozesse werden in Gang gesetzt; ein zweiter wird im Ausleben verschiedenster Identitäten eine Ergänzung und Vervollständigung der eigenen Identität erfahren und zu mehr Zufriedenheit in sich selbst finden, wieder andere, wie Stewart, werden im virtuellen Raum an dem Scheitern, was sie schon im RL belastet.

Turkles Antwort auf die Frage nach dem identitätsbildenden und therapeutischen Potential von MUDs drückt die Vielfalt der möglichen Erfahrungen so aus:

"..one is tempted to say that they stand the greatest chance to be so if the MUDder is also in psychotherapy. Taken by themselves, MUDs are highly evocative and provide much grist for the mill of a psychodynamic therapeutic process. If 'acting out' is going to happen, MUDs are relatively safe places, since virtual promiscuity never causes pregnancy or disease. But it is also true that, taken by themselves, virtual communities will only sometimes facilitate psychological growth." (Turkle 1995)

Die Erziehungswissenschaft sollte sich dieses ganzen Spektrums der Potentiale im virtuellen Raum bewußt sein und sie in einer Theorie der Identitätsbildung zu integrieren vermögen, indem sie nicht der Versuchung erliegt, sich der einen Seite anzunehmen und die andere zu vernachlässigen; es ist also weder sinnvoll, sich auf die Gefahren des virtuellen Lebens zu versteifen, und das Medium Internet als Sucht-und-Flucht-Medium zu verteufeln, noch es als Allheilmittel und neues therapeutisches Wunderding zu postulieren. Hier ist die Erziehungswissenschaft auch gefordert, Differenzen und Vielheit, sowie vermeintliche Widersprüche auszuhalten und anzunehmen, ihrer bewußt zu sein um sie so nicht als unvereinbar abzutun, sondern als erfahrbare Möglichkeiten in eine Theorie der Selbstbildung, und damit der Bildung allgemein, einzubinden.

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