Zwischen Anonymität und Intimität - Konstruktionen und Projektionen im Umgang mit dem Anderen


Wenn Identität in so engem Zusammenhang mit Interaktion steht, dann ist der/die/das Andere beim Finden einer Identität ein nicht zu vernachlässigender Faktor. Loggt sich ein Nutzer in das Internet ein, ist er nicht nur selbst als die Kombination aus Nickname und Gesamtheit seiner verbalen Äußerungen repräsentiert, er trifft auch auf andere Personen, deren Identität sich aus den formal gleichen Bestandteilen konstituiert.

Zwar ist auch beim Aufeinandertreffen von Personen im RL von beiden Seiten Konstruktionsarbeit notwendig, um sich jeweils ein Bild des Anderen zu machen, doch liefert das RL mehr Anhaltspunkte, wie Gestik, Mimik et cetera, um Aussagen zu bewerten, zu relativieren und in ein Gesamtbild zu montieren. Auch dieses Bild, das wir uns im RL von unserem Gegenüber machen ist letztlich nur ein Modell, ein Hilfskonstrukt anhand dessen es überhaupt möglich ist, mit anderen zu interagieren. Im Internet jedoch ist die Spannbreite dessen was der/die Andere wirklich sein könnte, wesentlich weiter, dadurch, daß er/sie sich selbst allein durch Worte definiert.

Mißverständnisse - wie eine Äußerung gemeint ist - können zwar teilweise durch den Gebrauch von emoticons vermieden werden, dennoch fällt es aufgrund des Fehlens von bestimmten Indikatoren, wie zum Beispiel der körpersprachlichen Ebene oder des Tonfalls, oftmals schwer, eine Äußerung genau so zu verstehen, wie sie gemeint war. Zudem kann man niemals sicher sein, wie nah oder weit weg das Gegenüber, mit dem man es zu tun hat, in seiner Online-Identität der RL-Identität ist, also inwieweit die Online-Identität Rollenspiel, Aspekt des Selbst oder gar ohne Verstellung ist.

Zwischen den Säulen, die eine Online-Identität tragen, ist viel Raum für Projektion und Interpretation, der, wenn man sich seiner nicht bewußt ist, für unliebsame Überraschungen sorgen kann. Die Fähigkeit, Bilder, die Lückenhaft sind, zu ergänzen, kann in diesem Zusammenhang dazu führen, daß - eben aufgrund des großen Spielraumes zwischen den die Identität des Anderen tragenden Fakten, die zu einem vollständigen Bild ergänzt werden - ein Bild entsteht, daß dem Gegenüber nicht gerecht wird. Dies geschieht sicher im RL ebenso oft, doch ist das Ausmaß der möglichen Täuschung - und Enttäuschung - im virtuellen Raum sicher größer.

Dieses Potential der Täuschung kann , insbesondere, wenn man versucht, die Person, mit der man sich im virtuellen Raum angefreundet hat, auch als körperliche RL-Person in das eigenen RL zu integrieren, zu Problemen führen. Es geschieht sehr oft, daß sich Menschen im MUD oder IRC ineinander verlieben, insbesondere aufgrund der meist größeren Offenheit, mit der über Gefühle und innerste Wünsche gesprochen wird. Zum Problem wird dies dann, wenn ein Nutzer aus diesem Persönlichkeitsaspekt, den er online kennen und lieben gelernt hat, 'hochrechnet' und in seiner Phantasie das Gegenüber zu einer Idealfigur stilisiert, die ohne nennenswerten Makel ist. Hier wird die Sympathie für den Teil der Persönlichkeit des anderen, den man kennengelernt hat, zum Anlaß genommen, den Raum, der zur Interpretation frei bleibt, mit den eigenen Wunschvorstellungen aufzufüllen, die eigenen Wünsche in den oder die Andere hineinzuinterpretieren. Insbesondere wenn die Online-Identität des anderen ohne große Brüche ist, fällt es den meisten Nutzern schwer, sich Fehler und negative Seiten am Gegenüber vorzustellen . Kommt es dann zu einem RL-Treffen, ist die Wahrscheinlichkeit einer Enttäuschung groß.

Turkle beschreibt einen recht charakteristischen Verlauf einer Online-Beziehung so: zunächst, in der ersten Phase, vertieft sich die Beziehung recht schnell, aufgrund des leichteren Sich-Öffnens schneller als dies normalerweise in RL der Fall ist. In der zweiten Phase wollen die Nutzer sich im RL treffen - und werden dann oft enttäuscht. Turkle beschreibt den Fall von Peter, der glaubte, sich in eine MUD-Spielerin mit dem Nicknamen Beatrice verliebt zu haben:

"Their relationship was intellectual, emotionally supportive, and erotic. Their virtual sex life was rich and fulfilling. The description of physical actions in their virtual sex (or TinySex) was accompanied by detailed descriptions of each of their thoughts and feelings. It was not just TinySex, it was TinyLovemaking. Peter flew from North Carolina to Oregon to meet the woman behind Beatrice and returned home crushed. '[On the Mud] I saw in her what I wanted to see. Real life gave me too much information.'" (Turkle 1995)

Peter hatte sämtliche logfiles seiner Interaktionen mit Beatrice gespeichert. Als er sie noch einmal durchlas, wurde ihm klar, wie weit die Projektion seiner eigenen Wünsche und Sehnsüchte zur Konstruktion dieser Beziehung beigetragen hatte. Die Wärme und das Mitgefühl, die Peters Bild von der Beziehung geprägt hatten, waren in den logfiles nirgends zu Ausdruck gekommen. Sie waren lediglich in seinem Kopf entstanden. Peter hatte, wie ihm später klar wurde, unbewußt versucht, ein Liebesobjekt zu schaffen, das einer idealisierten und unerreichbaren älteren Schwester ähnelte.

Es soll an dieser Stelle nicht unerwähnt bleiben, daß auch hier für viele Nutzer ein Lernprozeß vonstatten geht, d. h. daß sie sich, spätestens nach einer solchen Enttäuschung ihrer eigenen Projektionen bewußter werden, und versuchen das Bild des Gegenübers , liquider, offener, sozusagen mit mehr Fragezeichen versehen zu halten, weil sie gelernt haben, daß der Versuch, das Gegenüber anhand der wenigen Information zu definieren und festzulegen kaum gelingen kann. Es wird dann wohl nicht weniger in den Anderen hinein projiziert, doch ist man sich des Potentials bewußt. Zu einer solchen Einstellung gelangt, sind RL-Treffen oft wesentlich erfolgreicher, da weniger enttäuschend.

Für das Selbst-System des Einzelnen kann jedoch auch gerade diese Projektion in den anderen hinein höchst interessant sein - zum einen werden unbewußte Wünsche sich hier ausdrücken, zum anderen können Projektionen auch in therapeutischen Prozessen zu einer Entwicklung beitragen, indem das Gegenüber Stellvertreterfunktionen, etwa für die Mutter (siehe oben), einnehmen, und so alte Konflikte neu durchgespielt und auf andere Weise gelöst werden. Letztlich zeigt sich gerade in diesem Projektionen die enge Verbindung zwischen den verschiedenen Aspekten des Selbst, sei es nun im RL oder im virtuellen Raum.

Oft werden solche Geschehnisse, also das Projizieren eines bestimmten Verhaltens oder einer bestimmten Intention in ein Gegenüber im MUD oder IRC, zwar erst im Nachhinein, beim Betrachten des logfiles deutlich, jedoch können sie durchaus zur Selbstreflexion, zum Selbst-Verständnis, zur Bewußtwerdung und zum Abarbeiten von Konflikten aus der eigenen Geschichte beitragen, wie das Beispiel von Jeremy, einem zweiunddreißigjährigen Rechtsanwalt, zeigt:

"I didn't even realize this connection to my mother and the MUDding until [in the game] somebody tried to boss my pretty laid-back character around and I went crazy ... I hated her. ... And then I saw what I was doing. When I looked at the logs I saw that ... this woman was really doing very little to boss me around. But I hear a woman with an authoritative tone and I go crazy. Food for thought." (Turkle 1995)

Somit wird deutlich, daß im Internet nicht nur in der Wahl der Online-Persönlichkeit, also im Ausprobieren von Aspekten des eigenen Selbst, sondern auch im Umgang mit Anderen ein Potential zur Selbstentwicklung steckt, das zwar mit Enttäuschungen verbunden sein kann, letztlich jedoch durchaus seinen positiven Stellenwert hat, dadurch, daß es unbewußte Verhältnisse und Vorgänge dem Nutzer sozusagen schwarz auf weiß vor Augen führen kann. Ob der Einzelne dieses Potential erkennt, oder ob er es für sich zu nutzen weiß, sei im einzelnen Fall dahingestellt. Turkles Fallbeispiele zeigen, daß zumindest manche Nutzer sie als sehr hilfreich erfahren, und daß bei diesen Nutzern ein Prozeß der Selbstreflexion ausgelöst wird.

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