Alltagsnähe


Ong bezeichnet Oralität als nahe an der menschlichen Lebenswelt (1982). In oralen Kulturen leben die Menschen in enger Beziehung zu ihrer unmittelbaren Umwelt und zueinander. Das Denken und Wissen in diesen Kulturen ist nicht abstrakt und distanziert, sondern befaßt sich ganz konkret mit dem, was die Menschen direkt und nahe umgibt. Lernen basiert in solchen Kulturen auf direkter Vermittlung und Nachahmung, wobei das Lernen unmittelbar mit der Person des Meisters/Lehrers, der verkörpertes Wissen darstellt, verknüpft ist. Die Jüngeren sind auf die Älteren als Träger des Wissens angewiesen.

In der oralen Kultur verbindet die Vermittlung von Wissen durch die Stimme den Sprecher und Zuhörer, den Wissenden und den Lernenden direkt. Schreiben hingegen ermöglicht eine räumliche und zeitliche Distanz Wissendem und Informationssuchendem und unterstützt in gewissem Maße die Entwicklung von distanziertem und objektivem Denken. Das Wissen von Meistern, Lehrern oder Älteren wird indirekt, mittelbar, über die Schrift weitergegeben. Während in oralen Kulturen die Älteren als unschätzbare Quellen des Wissens respektiert werden, braucht man in einer Schriftkultur nicht mehr den Wissenden als Person, um an das gesammelte Wissen der eigenen Kultur zu gelangen, da durch das Aufschreiben und den Buchdruck das Wissen einer Person selbst über deren Tod hinaus zugänglich ist: "writing separates the knower from the known"(Ong, 1982).

Computervermittelte Kommunikation (CMC) ermöglicht, zum Beispiel in MUDs (Multi-User Dungeons oder Multi User Domains) oder beim IRC (Internet Relay Chat), schriftlichen Austausch in Echtzeit (obwohl jeder, der zum Beispiel IRC schon genutzt hat, das Phänomen des 'lag' nur allzu gut kennt) . Dies führt dazu, daß die zeitliche Distanz in schriftlicher Kommunikation teilweise aufgehoben wird. Unter diesem Aspekt ist die Kommunikation im IRC oder in MUDs wesentlich ähnlicher dem oralen Austausch, als der herkömmlichen Schriftlichkeit: sie ist direkter und weniger distanziert.

Ebenso gibt es im Internet eine Art Wiederbelebung der direkten Konsultation von "Wissenden". In vielen Newsgroups zum Beispiel beteiligen sich internationale Fachleute an der Diskussion der jeweiligen Themen. So kann man, wenn man eine Frage zum Thema künstliche Intelligenz hat, in einer der entsprechenden Newsgroups auf eine der weltweit anerkanntesten Koryphäen auf diesem Gebiet treffen, zum Beispiel eine/n der MitarbeiterInnen des MIT (Massachusetts Institute of Technology), und diese direkt befragen. Zwar werden Standardfragen oft mit einem mehr oder weniger freundlichen "RTFM" (Read the fucking Manual) oder einem Hinweis auf das FAQ-File ("frequently asked questions" file) beantwortet, doch herrscht im allgemeinen die Bereitschaft vor, auf Fragen einzugehen und zur Beantwortung dieser zur Verfügung zu stehen. So kann es passieren, daß einer der weltweit führenden Forscher auf einem bestimmten Gebiet aufs Ausführlichste die Fragen eines Grundschülers beantwortet und mit diesem in einen Lehr/Lerndialog eintritt.

Viele Nutzer erklären sich bereit, neuen Nutzern bestimmte Regeln, Fertigkeiten oder anderes im Netz oder außerhalb notwendiges oder gewünschtes Wissen zu vermitteln bzw. zu erläutern. So entsteht dann zum Beispiel in einem WWW-Chat ein "HTML-Classroom" (etwa in einem der www-chats, wie in Firefly), indem ein User den interessierten anderen Usern direkt und online Basiskenntnisse in der Hypertext Markup Language vermittelt, auch im IRC existieren ähnliche Channels, in denen man sich online Hilfe bei bestimmten technischen Problemen beschaffen kann . Hier greift das von der oralen Kultur bekannte Prinzip des Lernens durch direkte Nachahmung und Konsultation, das Wissen ist wieder eng mit den Wissenden verknüpft. Besonders deutlich erkennbar ist die Wiederkehr der Weitergabe von Information im Dialog zwischen Wissendem und Informationssuchendem in den Newsgroups und in MUDs und IRC, wo technische Hilfestellungen ebenso direkt gegeben werden, wie in den Channels, in denen es um Erfahrungsaustausch geht. Wissender und Informationssuchender kommunizieren hierbei zwar medial, doch auf eine Weise, die dem Verhältnis zwischen Lehrendem und Lernenden wie es in oralen Kulturen existierte wesentlich ähnlicher ist als der Wissensvermittlung per Printmedium.

Gerade bei den verschiedenen Chats zeigt sich die Alltagsnähe in der Sprache und im Umgang miteinander sehr deutlich: hier wird, wie der Ausdruck "Chat" ja bereits andeutet, in Umgangssprache gesprochen, gerade so als säße man gemeinsam am Tisch. Im IRC oder in MUDs werden gemeinsam auf Text basierende Welten und Räume geschaffen - etwa ein "Channelsofa" , auf dem man gemütlich beieinander sitzt, um zu plaudern, zu essen, zu trinken. Die Unterhaltung geht schnell voran, zu schnell und spontan als daß man, wie etwa bei einem Brief, lange an einem Satz herumformulieren würde. Der Umgang miteinander, auch mit Fremden, ist weit weniger förmlich:

"Durch das Fehlen des sozialen Umfelds, das normalerweise beim Umgang mit Fremden eine gewisse Scheu und Zurückhaltung erzeugt, ist CMC oft durch eine erstaunliche Offenheit geprägt. Beispielsweise ist die Anrede "Sie", die sonst für eine gewisse Distanz sorgt, im Umgang der deutschen Netzteilnehmer völlig unüblich, so daß der erste Kontakt um einiges einfacher ist." Drakos, 1994)

Oft wird das "RL', also das reale Leben oder 'real life', auf mehr oder weniger humorvoll gemeinte Weise in den Chat miteinbezogen, wenn etwa ein User sich vor dem Computer ein Glas Wein einschenkt, den anderen Usern dann auch Wein anbietet, und denen, die annehmen, dann virtuell einschenkt , oder wenn ein Channeluser erzählt, daß er gerade Kekse ißt und dann von einem anderen User ermahnt wird "den Channel nicht vollzukrümeln". Natürlich existieren auch, vor allem in den MUDs, virtuelle Welten, die mit dem realen Leben nichts zu tun haben. Dennoch kann man sagen, daß die Kommunikation, der Austausch, in MUDs und IRC, aber auch in den WWW-Chats, obgleich er auf schriftlichem Text basiert, in seiner Form, seiner Sprache, eher dem mündlichen Austausch, wie man ihn eben in der face-to-face-Kommunikation des Alltags erlebt, entspricht, als herkömmlichem schriftlichem Austausch. Wie Drakos ausführt, ist der Umgang meist auch weniger förmlich, als im RL.

Auch Simulationsprogramme und Computermodelle, die vereinzelt auch heute schon im Internet verfügbar sind, und die, mit der Weiterentwicklung der verschiedenen Programmiersprachen und der Netze insgesamt, in nicht allzu ferner Zukunft wohl noch viel stärkere Verbreitung im Netz finden werden, können zurück zu einem anderen, direkteren Austausch mit der Umwelt führen. Zwar wird auch hier nicht [immer] das unmittelbare Lehrer-Schüler-Verhältnis wiederbelebt, dennoch ist die Lernerfahrung am Computer eine direktere als die Vermittlung durch gedruckten Text. Die Eigenschaften von Computersimulationen, animierten 3D-Modellen und virtuellen Realitäten ermöglichen beim Lernenden einen Effekt, ähnlich dem des learning by doing . Ein Beispiel simplerer Art ist hierfür die Virtuelle Froschssezierung

Lanham bezeichnet diese Rückkehr zu alten Mustern des Lernens als "dramatizing of experience"(Lanham, 1993): Die Möglichkeit, nicht länger Erfahrungen nur nachzulesen, sondern innerhalb einer Simulation nachzuerleben, oder sie, wie im IRC, erzählt zu bekommen, bedeutet, daß ein Lernender das Wissen anderer, ähnlich wie in oralen Kulturen, direkter und weniger abstrahiert erfahren und durchleben kann, als dies mit der Hilfe nur eines Buches allein der Fall wäre, nämlich mittels Übung und Nachahmung. Dies ist vor allem dann interessant, wenn es durch die Simulation gelingt, eine solche Erfahrung Menschen zugänglich zu machen denen diese sonst nicht zugänglich wäre - zum Beispiel, weil dies zu teuer wäre - oder , wenn, wie bei der "Virtual Frog Dissection", darauf verzichtet wird, einem Lebewesen Schaden zuzufügen, oder schließlich, weil die Simulation, etwa bei einer Flugsimulation, ungefährlicher ist und die beliebige Wiederholbarkeit einer Lernsituation, und damit größtmöglichen Übungseffekt bei Ausschaltung von Risiken bietet.

Zusammenfassend läßt sich sagen, daß sich in einigen Teilbereichen des Internet Aspekte finden, die der menschlichen Alltags- und Lebenswelt näherstehen, als dies bei Printmedien der Fall ist. Zwar ist die Erfahrung einer Simulation, oder auch der Austausch zwischen Personen vermittelt, dennoch ist die Kommunikation im Austausch lebendiger und weniger abstrahiert, als dies bei Büchern der Fall ist.

Insbesondere sei hier nochmals auf die Verwendung der Alltagssprache, der Umgangssprache, verwiesen, die im Internet, vor allem bei der interpersonellen Kommunikation, eher die Regel als die Ausnahme zu sein scheint. Ausführliche Untersuchungen zu speziell dieser Thematik stehen noch aus, doch läßt sich für den Bereich der Chats sagen, daß dort die Alltagssprache dominiert. Auch für den Bereich der E-Mail scheint es so zu sein, daß sie für einen Großteil der Nutzer eher dialogischen und mündlichen Charakter hat, und daß weitaus weniger Formalitäten zu beachten sind, als dies bei konventionellem Austausch per Brief der Fall wäre, wie auch ein Nutzer auf meine Frage nach seiner Sprache in E-Mail-Botschaften so treffend meinte: "Ich bin schreibfaul und schreibe normalerweise keine Briefe. Eine E-Mailbotschaft kann aber auch nur aus einer Zeile bestehen, und ich kann schreiben, wie mir der Schnabel gewachsen ist und keiner verzieht das Gesicht. Das macht es leichter".


weiter...inhalt...zurueck...

Copyright © 1997 I. Strübel. All Rights Reserved. Nutzung des Textes nur mit ausdrücklicher Genehmigung.


This page hosted by Get your own Free Home Page