Verliebt in den Entführer - Teil 2
by Tia



Fröstelnd zog sich Reggie die Decke über die Schultern und drehte sich auf die andere Seite. Sie wollte weiter schlafen, aber es war wahnsinnig kalt geworden. Verschlafen sah sie sich um und erst jetzt wurde sie sich bewusst, wo sie war. Da war sie auf einmal hellwach. Sie war noch immer eine Gefangene. Lee hatte abhauen können, aber sie war noch immer hier.
Sie setzte sich auf und strich sich die Haare aus dem Gesicht. Auf dem Tisch stand frischer Kaffee und Brötchen mit Marmelade. Sie sah sich noch einmal um, um sicher zu sein, dass niemand hier war. Dabei entdeckte sie, dass das Fenster offen war und die frische Morgenluft hineinliess.
Schnell stand sie auf und schloss das Fenster, kroch aber danach wieder unter die Decke. Obwohl es eigentlich fast Sommer war, war es doch am Morgen noch bitterkalt, gegen Mittag wurde es dann aber heiss.
Sie war nicht mehr müde, aber ausgeschlafen war sie auch noch lange nicht. Irgendein Traum hatte sie gestört. Er war schaurig gewesen, aber sie wusste nicht mehr, um was es gegangen war. Vermutlich um diese Entführung.
Zögernd stand sie auf und setzte sich auf einen Stuhl an den Tisch, die Beine jedoch eng an den Körper gezogen. Sie nahm einen Schluck Kaffee. Er war schwarz, genau das richtige für diese Situation. Dazu wärmte er sie. Während sie das Brötchen ass, ging sie ein bisschen umher und versuchte, ihre Muskeln zu lockern.
„Gut geschlafen?“ fragte da Mulroney von der Tür her und lächelt freundlich. Er schien seinen Schlaf bekommen zu haben und war jetzt frisch ausgeruht.
Reggie zuckte mit den Schultern. „Ich habe schon besser geschlafen“, antwortete sie leise und setzte sich wieder an den Tisch.
Mulroney schloss die Tür hinter sich und nahm ebenfalls Platz. Er musterte sie kurz und kam dann auf den Punkt.
„Die Zeitungen von heute morgen berichten von dieser Entführung. Ich denke, in einer Stunde werden wir uns beim Präsidenten melden und das Lösegeld fordern.“
„Was ist mit Lee?“ fragte Reggie sofort. Vielleicht hatten sie unterdessen die Suche fortgeführt und hatten sie in einem anderen Zimmer untergebracht.
„Leider haben wir sie nicht wiedergefunden. Sie ist uns entwischt, dummerweise. Aber Sie alleine haben auch immer noch einen gewissen Wert“, meinte er und sprach dabei, als wäre er irgendein teures Auto, das geklaut wurde und nun für einen noch teureren Preis verkauft wurde.
„Aber mit Lee wäre es besser gewesen, habe ich Recht?“
„Natürlich. Lee ist die Tochter des Präsidenten. Aber Sie sind die Tochter von Skeet McGowan, das ist auch nicht wenig. Sobald wir den Präsidenten informiert haben, wird dieser McGowan anrufen und ihm alles erzählen. Danach werden wir die Bedingungen und den Übergangsort bestimmen.“
Es klang alles so einfach, dabei war es das ganz und gar nicht. Mulroney verlangte von ihrem Vater für eine Tochter zu bezahlen, die er eigentlich nie gehabt hatte. Trotzdem war er sicher, dass er das Geld bekam. Es kam ihm einfach nicht in den Sinn zu glauben, dass jemand seine Forderungen nicht erfüllen könnte.
Reggie musterte ihn leicht. Wenn seine Forderungen wirklich nicht erfüllt wurden, was passierte dann? Würde er sie tatsächlich umbringen? Oder war das nur so eine Art, die er überall auftrug, damit man ihn wirklich ernst nahm? Sie wusste es nicht.
„Ich werde Sie dann gegen Mittag abholen, damit Sie mit dem Präsidenten reden können. Er muss überzeugt werden, dass Sie auch wirklich noch leben“, sagte er grinsend und stand wieder auf.
Reggie nickte leicht und folgte ihm mit den Augen bis zur Tür. Sie dachte nicht an Flucht, sie dachte an Lee. Ging es ihr gut? Hatte sie sich an die Polizei gewendet? Suchten sie sie schon? Oder wurde Lee nicht ernst genommen? Aber die Zeitungen berichteten doch schon davon. Sie musste einfach ernst genommen werden.
Mulroney nickte ihr zu und verschloss die Tür. Jetzt war sie wieder allein und musste sich mit Gedanken quälen, die sie nicht haben wollte.

Jack bot Lilly an, bei ihm zu bleiben, bis der Präsident in New York ankam. Vermutlich glaubte er, dass sie süchtig oder so war, und gab ihr darum kein Geld. Statt dessen durfte sie bei ihm bleiben, da hatte er unter Kontrolle, was sie mit seinem Geld anstellte.
Dankbar nahm sie an und versuchte nicht, seinen Irrtum aufzuklären. Solange er dachte, sie sei süchtig, versuchte er ihr zu helfen.
Am Mittag kamen sie dort an, was er hin musste. Jacks Chef war genauso ein Typ wie Jack selber und hatte sofort Mitleid mit einem Mädchen ohne Geld. Er bot ihr an, einen Tag für ihn zu arbeiten, für einen guten Lohn. Dankbar nahm sie natürlich sofort an.
Jack nahm sie mit zu sich nach Hause. Seine Frau, Grace, nahm sie freundlich auf. Sie schien es gewohnt zu sein, heimatlose junge Menschen aufzunehmen. Vermutlich brachte Jack öfter Anhalter mit nach Hause und liess sie über Nacht bei sich schlafen.
Grace fütterte sie zuerst einmal, bis sie nicht mehr essen konnte. Sie schlang alles so hinunter, dass ihr fast schlecht wurde, aber es war ein gutes Gefühl, wieder einmal den Magen voll zu haben. Danach liess ihr Grace ein Bad ein.
Lilly wusste nicht mehr, wann sie zum letzten Mal gebadet oder geduscht hatte, aber sie fühlte sich, als wären es mindestens zehn Jahre gewesen. Sie blieb so lange im Wasser, bis es kalt wurde.
„Komm, Lilly, ich zeige dir dein Zimmer. Du kannst dich ein wenig ausruhen, wenn du willst. Ich wecke dich dann rechtzeitig zum Nachtessen“, meinte Grace, als sie aus dem Bad heraus kam.
Sie folgte ihr. Das Zimmer war so gross, als ob es nicht nur ein Gästezimmer wäre. Es hatte ein riesiges Bett und einen noch grösseren Schrank. Das ganze war ein wenig altmodisch eingerichtet, aber es war angenehm.
„Wenn du mir deine Kleider gibst, werde ich sie dir waschen. Es hat im Schrank ein paar Pyjamas, die dir vielleicht passen.“
Lilly lächelte dankbar und zog eines der Pyjamas aus dem Schrank und gab ihre Kleider an Grace weiter. Sie ging hinaus und schloss die Tür hinter sich. Lilly legte sich auf das Bett und kuschelte sich in die Decke.
Fast sofort schlief sie ein.

Donnie nickte einem seiner Männer zu und dieser gab die Telefonnummer in das Handy ein. Dann tippte er auf seinem Laptop umher, damit man ihre Position nicht feststellen konnte. Donnie nahm das Telefon ruhig in die Hand und sah auf einen Punkt an der Wand. Nach dem zweiten Mal Läuten nahm Mulroney ab und spielte das Spiel gut.
„Geben Sie mir den Präsidenten“, verlangte Donnie und grinste dabei leicht. Wenn er mit Mulroney verhandeln könnte, wäre es um einiges leichter. Aber Mulroneys Rat war dem Präsidenten viel wert, also dürfte es trotzdem kein allzu grosses Problem sein, das Geld zu bekommen.
„Hier ist President Leard“, sagte eine tiefe Stimme, die ziemlich gefasst war.
„Ich verlange fünf Millionen amerikanische Dollar für Skeet McGowans Tochter“, sagte er sofort.
Der Präsident antwortete: „Skeet McGowan hat gar keine Tochter, Mister.“
Donnie lächelte leicht. Damit hatte er gerechnet. „Sie haben ja auch keine, Mr. President, oder?“
Für eine Weile war es still und die Männer, die das Gespräch mithörten, grinsten breit und hielten ihren Daumen hoch. Das war ein harter Schlag, für jemanden, dessen Karriere von der Anzahl Schmutzfleck auf der Weste abhing. Sobald bekannt werden würde, dass der Präsident eine Tochter hatte, die er vor langer Zeit zur Adoption freigegeben hatte, würde die Presse über ihn herfallen wie eine Herde Wölfe über ein verletztes Schaf.
„Ich rufe morgen noch einmal an. Ich verlange, dass Sie das Geld bis dahin bereit haben. Es sollen unmarkierte Scheine sein, klar?“
„Das ist zu wenig Zeit. Wir können nicht fünf Millionen in einem Tag bereit machen.“
Donnie lächelte. Das hatte es schon viele Male gehört und es ging dann immer trotzdem.
„Doch, natürlich können Sie, Mr. President.“
Er hörte ein leichtes Gemurmel. Vermutlich flüsterte Mulroney seinem Präsidenten gerade zu, was er zu tun hatte.
„Ich will mit der Geisel sprechen.“
Er winkte einem der Männer zu, der sofort hinausging.
„Ich lasse sie gerade herbringen. In dieser Zeit können wir ein bisschen plaudern. Was halten Sie davon, dass ich das Vergnügen hatte, Ihre Tochter kennenzulernen, Mr. Leard? Sie ist wirklich ganz bezaubernd.“
Wieder war es am anderen Ende der Leitung eine Weile still, aber als er wieder sprach, war die Stimme gefasst. „Haben Sie sie auch in Ihrer Gewalt oder tun Sie nur so?“
Donnie lachte laut. „Ich würde nicht in meiner Gewalt sagen. Die beiden jungen Damen hatten es sehr angenehm gehabt. Allerdings muss ich zugegeben, dass Ihre Tochter abgehauen ist. Sonst wäre meine Forderung bei zehn Millionen gelegen.“
„Sie ist abgehauen?“ fragte der Präsident erstaunt und vergass einen Moment fast, dass er mit einem Entführer sprach.
„Ja, sie ist wahnsinnig schnell. Meine Männer haben sie leider nicht mehr gefunden.“
Der Mann kam Reggie herein. Donnie gab ihr den Hörer in die Hand und versuchte, nicht allzu freundlich zu sein. Sie war seine Geisel.
„Hallo?“ sagte Reggie mit fester Stimme.
„Regina? Geht es Ihnen gut? Hier ist John Leard. Hat man Ihnen etwas getan?“
„Nein, mir geht es gut. Sie haben mir nichts getan. Werden Sie das Geld bezahlen? Haben Sie ... meinen Vater informiert?“ fragte sie.
Der Präsident nickte. „Wir werden tun, was wir können. Aber Ihren Vater haben wir schon informiert. Darf ich Ihnen eine Frage stellen, Regina?“
Reggie konnte sie gut vorstellen, was das für eine Frage war. „Ja, ich kenne Ihre Tochter und sie ist abgehauen. Wir sind zusammen abgehauen, aber mich haben sie wieder geschnappt. Hat sich Lee schon gemeldet? Wissen Sie, ob es ihr gut geht?“
Dem Präsidenten fiel es schwer, von ‚seiner‘ Tochter zu sprechen. „Bis jetzt haben wir nichts von ihr gehört. Wir haben angenommen, Sie sei immer noch mit Ihnen zusammen.“
Donnie gab ihr ein Zeichen, dass sie ihm das Telefon wieder zurückgeben solle und sagte mit klarer Stimme. „Genug geplaudert. Ich melde mich morgen wieder. Sorgen Sie dafür, dass Sie das Geld haben!“
Er drückte auf den Kopf und lächelte Reggie jetzt leicht an. „Sie sind erstaunlich tapfer. Immerhin könnten Sie jetzt dann bald sterben.“
Reggie zuckte leicht mit den Schultern. „Wenn Sie mich töten, bekommen Sie kein Geld. So einfach ist das. Es gibt keinen Grund, mich zu töten.“
Donnie lachte wieder. „Man kann es natürlich von dieser Seite her betrachten.“
Er führte sie zu ihrem Zimmer zurück. Reggie setzte sich auf das Sofa und sah ihn ruhig an. Sie sah in ihm nicht der Mann, der ihr das vielleicht schrecklichste Erlebnis in ihrem Leben einbrachte. Er war zu freundlich dafür und es schien ihm wirklich etwas daran zu liegen, dass sie sich so wohl wie möglich fühlte.
„Würden Sie mich umbringen, wenn der Präsident oder mein Vater nicht zahlen will?“ fragte sie zögernd.
Er sah sie kurz an und sie fühlte, dass sie einen wunden Punkt getroffen hatte. Darüber machte er sich selbst immer Gedanken und bis jetzt hatte er noch keine Antwort gefunden.
„Ich weiss es nicht“, antwortete er leise und setzte sich in das Sofa vor sich, „Ich bin nicht der Typ dafür, der einfach jemanden umbringt, aber ich muss zugeben, ich habe schon sehr viele umgebracht, einfach weil sie zur falschen Zeit am falschen Ort waren.“
Das, was er sagte, beruhigte Reggie. Sie hatte nicht damit gerechnet, auf jemanden zu treffen, dem nicht vollkommen egal war, was mit ihr geschah. Wenn der Präsident jetzt also nicht zahlen wollte, würde Donnie vielleicht ein gutes Wort für sie einlegen, damit sie nicht getötet wurde.
Sie schenkte ihm ein Lächeln und er lächelte zurück. „Der Präsident wird zahlen, machen Sie sich keine Sorgen. Er kann keinen Bürger der Staaten einfach umbringen lassen, wenn er die Chance hat, ihn zu retten.“
Er stand wieder auf und ging mit einem Nicken hinaus. Reggie blieb einen Moment sitzen und sah aus dem Fenster. Es war wieder ein wunderschöner Tag, den sie unter anderen Umständen mit Lee am Strand verbracht hätte.
Der Präsident wusste, dass Lee seine Tochter war. Er hatte sie vermutlich immer beobachten lassen und war über sie informiert. Hatte Skeet McGowan das auch gemacht? Wusste er, dass seine Tochter Reggie hiess? Wusste er überhaupt, dass er eine Tochter hatte?
Sie nahm eine der Zeitschriften, die sie noch nicht gelesen hatte. In allen war irgend etwas von Skeet McGowan oder dem Präsidenten drin. Wenn das keine Absicht war. Sie las die Berichte, aber es stand nichts neues.
Nach einer Weile kam Donnie mit einer Zeitung in der Hand zurück. „Ich dachte, es würde Sie interessieren, was so über diese Entführung geschrieben wird“, sagte er und zeigte auf die Titelseite, die ganz mit dieser Geschichte beschrieben.
Sie dankte ihm und begann zu lesen. Es war wirklich interessant zu sehen, wie ein Aussenstehender die ganze Sache sah. Der Schreiber fragte sich vor allem, warum ausgerechnet zwei College - Mädchen entführt wurden, die weder besonders reiche Eltern hatten noch sonst irgendwelche Persönlichkeiten waren.
Die wussten noch nicht, was für Persönlichkeiten entführt wurden, dachte Reggie. Die hatten keine Ahnung, wer sie oder Lee waren.
Belustigt legte sie den Artikel zur Seite. Eigentlich war sie hier ganz glücklich. Sie glaubte nicht, dass Donnie sie umbringen oder es befehlen würde. Eigentlich konnte ihr hier überhaupt nichts passieren. Sie konnte nur die freien Schulstunden geniessen und sich zurücklehnen.

Als Lilly am nächsten Morgen von Grace geweckt wurde, war sie erstaunt, wie müde sie gewesen war. Grace meinte, sie hätte sie schlafen lassen und nicht zum Nachtessen geweckt, weil sie so erschöpft gewesen war. Lilly war dankbar dafür und griff beim Morgenessen kräftig zu. So viel hatte sie wohl noch niemals zum Frühstück gegessen, da war sie ziemlich sicher, auch wenn sie sich nicht daran erinnern konnte.
Jack nahm sie mit zur Arbeit, wo sie verschiedene Päckchen sortieren oder Rechnungen kontrollieren musste. Es war keine besonders anstrengende Arbeit, und dafür war sie dankbar. Obwohl sie solange geschlafen hatte, fühlte sie sich immer noch müde und zerschlagen. Ihr Fuss war unterdessen wieder ein wenig abgeschwollen, aber wenn sie zu fest auftrat, tat er immer noch weh.
Am Mittag ass sie mit Jack und seinen Arbeitskollegen in der Kantine. Die Freunde waren höflich, aber es war klar, dass sie nicht so waren wie Jack. Sie waren härter und rüpelhafter, obwohl sie sich alle Mühe gaben, das zu verbergen. Sie respektierten Jack und diejenigen, die er mitbrachte, weil Jack sie auch respektierte.
Der Tag ging wahnsinnig schnell vorbei und am Abend wollte Lilly eigentlich schon zu dem Hotel fahren, in dem der Präsident untergebracht werden sollte, aber Grace überredete sie, noch die Nacht hierzubleiben und sich noch einmal auszuschlafen. Vielleicht ahnte die gute alte Frau ja, dass sie in nächster Zeit nicht mehr so schnell zu viel Schlaf kommen würde.
Weder Jack noch Grace hatten sie gefragt, was sie vom Präsidenten wollte oder wer sie wirklich war. Sie hatten ihr überhaupt keine Fragen gestellt. Das machte Lilly ein schlechtes Gewissen, weil sie so gut zu ihr waren und sie ihnen nicht vertraute, aber sie sagte trotzdem nichts. Was hätte sie sagen sollen? Dass sie nicht mehr wusste, wer sie war?
Es würde nicht viel bringen, sie konnten ihr auch nicht helfen. Wenn der Präsident sie empfangen würde, würde sie sich wieder an alles erinnern können, da war sie ziemlich sicher.
Aber vorerst war es noch nicht soweit und es konnte noch so gut wie alles passieren. Vielleicht war sie ja auch eine Killerin, eine Mörderin, die den Präsidenten umbringen wollte. Es wäre möglich. Sie würde sich morgen aus Reflex eine Waffe von den Bodyguards stehlen - denn wer achtete schon gross auf eine junge Frau? - und würde Leard dann einfach erschiessen. Sie könnte das alles aus Reflex tun werden, obwohl sie sich an nichts erinnerte, nur weil sie eine Killermaschine war, die nicht so weit dachte, was hinterher passierte.
Es war eine ungewohnte Vorstellung, die ihr ganz und gar widerstrebte, also schloss sie aus, dass sie eine bezahlte Killerin war. Vermutlich ging sie noch in die Schule und lebte in einer behüteten Familie, die nur durch die Zeitung von den schrecklichen Dingen der Realität erfuhr.

Den ganzen Tag über war Reggie in ihrem Zimmer eingesperrt gewesen und hatte sich gelangweilt. Die Zeitschriften kannte sie schon fast auswendig und wollte nichts mehr von ihnen wissen. Sie wusste, dass der nächste Anruf beim Präsidenten erst am nächsten Morgen fällig war, aber irgendwie erwartete sie doch, dass sich irgendwer um sie kümmerte. Mulroney wollte doch hinterher keine Klagen hören.
Gegen Mittag war einmal ein Mann gekommen, der ihr etwas zu essen gebracht hatte, aber seither hatte sie keine Menschenseele mehr gesehen. Man hatte sie einfach in Ruhe gelassen.
Irgendwie war es ihr klar, warum. Donnie wäre gekommen, auf jeden Fall, wenn man ihn gelassen hätte. Aber Mulroney musste gehört haben, was er zu ihr gesagt hatte. Schliesslich hatten sie in der Ecke dort oben eine Videokamera installiert, die alles aufzeichnete, was hier geschah. Durch sie hatte Mulroney bestimmt erfahren, dass Donnie nicht bereit war, Reggie umzubringen. Darum hatte er ihm befohlen, sich von ihr fernzuhalten, um nicht zu riskieren, dass er sie vielleicht sogar befreite.
Die Vorstellung, dass Donnie sie befreien wollte, gab ihr eine gewisse Geborgenheit. Bis jetzt hatte sie nicht viel Glück bei Männern gehabt. Diejenigen in ihrem Alter kamen ihr alle so kindisch vor und wollten sowieso nur das eine, und diejenigen, die älter waren, wollten nichts von ihr wissen. Donnie war zwanzig Jahre älter als sie und trotzdem ... Sie fühlte sich zu ihm hingezogen, als ob er erst zwanzig Jahre alt wäre.
Sie wusste, dass es nicht richtig wäre, wenn sie mit ihm ein Verhältnis hätte. Er war ihr Feind, er gehörte der Seite an, die sie vielleicht umbringen würde, aber trotzdem ... Sie ahnte, dass er sie nie umbringen würde. Das könnte er nicht tun.
Mit den eigenen Argumenten versuchte sie sich zu überzeugen, dass sie ihn nur als ihren Entführer ansehen sollte, nicht als Freund oder auch nur als einen Menschen, den sie gerne mochte. Ausserdem war er viel zu alt. Er könnte ihr Vater sein, aber trotzdem ...
Trotz allem wusste sie, dass sie für ihn nicht so empfand, wie sie es eigentlich tun müsste. Eigentlich müsste sie ihn hassen, ihn fürchten oder zumindest nicht mögen, statt dessen fühlte sie sich zu ihm hingezogen. Das war doch irgendwie völlig verdreht. Eine noch nicht einmal volljährige Entführte liebte ihren in einigen Jahren fünfzigjährigen Entführer. Das gäbe bestimmt eine gute Story für jeden Reporter ab. Es würde die Geschichte des Jahres geben.
Leicht lächelnd versuchte sie sich, von diesen Gedanken zu lösen. Wenn sie sich verliebt hatte, konnte sie nichts dagegen tun. Liebe kam wann und wo sie wollte. Keiner konnte sie aufhalten. Man konnte sie nur verleugnen.
Das war es, was sie wahrscheinlich tun musste. Sie konnte doch nicht ihren Mörder lieben! Sie durfte keinem zeigen, dass sie etwas für Donnie empfand. Das würde sowohl ihr das Herz brechen als auch Donnie den Kopf kosten. Wenn er sie zu befreien versuchte, würde er ganz bestimmt getötet werden.
Sie stand auf und öffnete das Fenster. Warme Luft strömte herein und strich um ihr Gesicht. Draussen war nichts als ein riesiges Stück Land, auf dem nichts war. An ein paar Stellen war Wiese, an anderen lagen Haufen von Schutt, aber nirgendwo war ein Ort, an dem sich ein Mensch aufhielt, der ihr helfen konnte. Wenn sie ohne Donnies Hilfe hier fliehen könnte, wären sie beide gerettet. Sie würde ihn wieder vergessen und er käme nicht in Versuchung, ihr zu helfen.
Aber diese Möglichkeit musste sie ausschliessen. Wenn schon, dann musste sie aus eigener Kraft fliehen. Aber wie? Die Tür war abgeschlossen und eine Wache stand davor. Weiter den Gang hinauf waren die Quartiere der anderen Männern und den Gang hinunter war das Hauptzimmer, in dem immer ein Mann sass, um allfällige Telefonanrufe oder sonstige wichtige Dinge entgegenzunehmen und zu erledigen. Sie könnte vielleicht die Türe aufkriegen, aber der Lärm, den die Wache machen würde, weckte dann alle auf. Zu fliehen versuchen war also auch keine gute Idee, weil es nicht funktionieren würde. Dadurch würde man ihr vielleicht wieder Handschellen anlegen und sie ans Bett ketten, damit sie nicht davonlaufen konnte. Das wollte sie nicht noch einmal. Es war gestern - war es erst gestern gewesen? Ihr kam es vor wie eine Woche - sehr unangenehm gewesen an dieser Stange gefesselt gewesen war.
Ein paar Vögel flogen vorbei und kreischten dabei unaufhörlich. Sie waren frei und konnten dorthin fliegen, wohin sie wollten. Reggie musste in diesem wunderschönen Käfig bleiben und darauf warten, bis sie jemand der Katze zum Frass vorwarf. Die Katze konnte sie dann fressen oder nicht. Es kam ganz darauf an, ob der Präsident und ihr Vater das Lösegeld bezahlten.
Wenn sie nicht bezahlten, wurde sie von der Katze gefressen und nur noch ein paar Federn blieben zurück. Bezahlten sie aber das Geld, dann war sie wieder frei und konnte mit den anderen Vögeln da draussen mitfliegen.
Ohne an irgend etwas zu denken ausser an die Vögel blieb sie am Fenster stehen und sah zu, wie es immer dunkler wurde. Die Umrisse weit entfernter Häuser wurden schwarz vor einem dunkelblauen Himmel. Mit der Zeit sah man überhaupt nichts mehr ausser schwarzer Umrisse, die merkwürdige Gestalten abgaben. Reggie konnte nicht genau sagen, was sie darstellten, aber sie konnten eigentlich so gut wie alles sein. Wenn man nur genug Phantasie hatte.
Mit der Dunkelheit wurde es wieder kälter, auch wenn noch immer ein warmer Wind blies. Sie schloss das Fenster und ging in das Badezimmer. Sie hatte sich bis jetzt noch nicht geduscht. Irgendwie fühlte sie sich nicht wohl dabei. Immerhin könnte einer der Männer plötzlich herein kommen. Sie wusch sich nur das Gesicht und die Arme mit einem Tuch, um nichts ausziehen zu müssen. Ihre Haare standen in alle Himmelsrichtungen von ihrem Kopf ab und liessen sich nicht bändigen.
Seufzend ging sie ins ‚Wohnzimmer‘ zurück und legte sich ins Bett. Wenn sie schlief, verging die Zeit schneller. Dann war es schneller Morgen und sie konnte schneller mit dem Präsidenten reden, der wiederum schneller dafür sorgen konnte, dass sie befreit wurde. Wenn er es wirklich tat.

Gleich mit ihrem Aufstehen war Lilly voll wach. Sie wusste, heute würde der Tag sein, an dem sie wieder wusste, wer sie war, oder es würde nie mehr sein. Voll neuer Energie half sie Grace beim Frühstück und beim Abwasch.
Sie hatte es nicht eilig. In den Nachrichten hatten sie gesagt, dass der Präsident erst gegen elf Uhr auftauchen würde. Vorher kam er nicht aus seinem Zimmer heraus. Die vielen Reporter, die trotzdem darauf warteten, dass er sich vielleicht am Fenster zeigte, waren die ganze Nacht vor dem Hotel gestanden und hatten gewartet. Das machte Lilly klar, dass sie nicht Reporterin werden wollte. Eine ganze kalte, lange Nacht lang auf etwas zu warten, das sowieso nicht kam, schien einfach nicht zu ihr zu passen. Jedenfalls dachte sie das, soweit sie es beurteilen konnte.
Mit dem riesigen Laster hielt Jack an und liess sie aussteigen. Lilly lächelte ihn vom Boden aus an.
„Vielen Dank für alles, Jack. Sie waren wirklich sehr nett zu mir. Richten Sie Grace einen Gruss von mir aus.“
Jack lächelte. „Das mache ich. Passen Sie gut auf sich auf, Lilly. Viel Glück.“
Lilly dankte noch einmal, schloss die Türe und machte ein paar Schritte zurück. Sie winkte Jack nach, bis er hinter der nächsten Ecke verschwunden war und ging dann auf das Hotel zu. Sie fühlte sich in frisch gewaschenen Kleidern wie neugeboren und hatte nun auch wieder mehr das Gefühl, dass der Präsident sie empfangen würde.
Der Portier am Eingang der Tür liess sie durch, ohne sie nach ihrem Ausweis zu fragen. Sie sah also auch nicht aus wie eine Reporterin. Oder vielleicht war er auch nur ein wenig unachtsam. Die riesige Halle war voll mit Männern in schönen Anzügen, die einen mit einer Waffe unter dem Arm und die anderen nicht, aber im Grunde sahen sie alle gleich aus.
Zögernd ging Lilly an die Rezeption.
Die Frau dort sah beschäftigt von ihrem Computer auf und musterte sie einen Moment ziemlich abschätzig. Sie fragte, was sie wolle. Lilly zögerte kurz.
„Ich möchte mit President Leard sprechen“, sagte sie nach dem Zögern.
Die Frau lächelte. „Das wollen viele“, meinte sie und wandte sich wieder ihrer Arbeit zu. Als Lilly aber stehenblieb, schaute sie wieder auf.
„Sie können nicht zum Präsidenten. Er will keine Besuche. Gegen Sie um ein Uhr zur Pressekonferenz.“
Aber Lilly wollte nicht zur Pressekonferenz gehen, sondern jetzt mit ihm reden. Sie ging zögernd von der Rezeption weg und sah sich um. Mehrere Türen grenzten von der Eingangshalle ab. Allerdings sahen sie ziemlich verschlossen aus, vor allem diejenigen, vor denen ein Mann im Anzug stand.
Mit entschlossenen Schritten entschied sie sich für die Toilette. Sie stiess die Tür auf und hoffte, dass niemand anderer gerade drin war. Sie hatte Glück. Sie stiess das kleine Fensterchen auf und kletterte hinaus. Es war fast zu eng für sie, aber sie kam knapp durch. Der Hof, in den sie jetzt kam, war ein Vorraum für die Küche. Es roch ziemlich schrecklich nach verfaulten Lebensmitteln.
Ohne darauf zu achten schlich sie der Wand entlang zu der Tür der Küche. Es herrschte reger Betrieb. Die Mittagszeit begann bald. Lilly schlich sich hinein und packte einen der dreckigen Schösse, die an der Wand hingen. Dann ging sie durch die ganze Küche hindurch, vorbei an allen Köchen und Kellnern, bis in einen Gang hinaus. Niemand hielt sie auf oder sprach sie an. Alle waren zu sehr damit beschäftigt, das Essen für die noble Gesellschaft fertigzustellen.
Sie zog die Schoss wieder aus und ging den Flur entlang. Sie hatte keine Ahnung, in welchen Stock der Präsident seine Suite hatte, also musste sie ihn suchen. Dort, wo es am meisten Bodyguards hatte, würde er wahrscheinlich sein. Leise ging sie die Stufen der Feuertreppe hinauf und spähte durch die Tür. Sie konnte niemand sehen, also stieg sie weiter hinauf.
Das Hotel hatte fünfzehn Stöcke, es würde eine Weile dauern, bis sie alle abgesucht hatte. Sie schaute die Treppe hinauf und seufzte leise. Sie brach hier sozusagen ein und wollte zum Präsidenten, ohne Grund, nur wegen einem Gefühl. Sie würde nie an den Bodyguards vorbeikommen.
Trotzdem ging sie weiter hinauf, bis zum fünfzehnten Stock. Sie hatte unbewusst damit gerechnet, dass es der oberste Stock war. Dort seien immer die schönsten Zimmer, hatte sie gehört. Sorgfältig öffnete sie die Tür und versuchte, keinen Lärm zu machen oder Aufmerksamkeit zu erregen. Ein paar Meter vor der Tür sass ein Bodyguard, die Augen in eine Zeitung vertieft. Weiter vorne im Flur konnte sie noch weitere erkennen. Blitzschnell versuchte sie herauszufinden, wo das Zimmer des Präsidenten war. Vermutlich gehörte der ganze Stock ihm.
Mit langsamen Bewegungen trat sie in den Gang und schloss die Tür hinter sich. Die Wache sah nicht auf. In Zeitlupentempo machte sie mehrere Schritte zur Seite, um die Tür zu erreichen, die dort war. Wenn sie nicht offen war, hatte sie ein Problem. Ein wenig verwundert schlüpfte sie dann blitzschnell in den Raum hinein. Die Wache hatte tatsächlich nicht aufgepasst. Das ziemte sich aber nicht für einen Beschützer des Präsidenten.
Sie sah sich um. Es war ein ganz normales Hotelzimmer. Vor dem Bett war ein Fernsehapparat. Die Klimaanlage surrte vor sich hin. Die Vorhänge wehten wegen den offenen Fensters hin und her. Das war typisch Hotel. Die Klimaanlage einschalten und das Fenster offenlassen.
Ihr Blick fiel auf die Tür, die gleich neben ihr war. Es konnte nicht das sein, denn das war auf der anderen Seite des Eingangs. Es musste eine Verbindungstür sein.
Ihr Herz fing an heftig zu klopfen und trieb ihr den Schweiss aus den Poren. Sie brach hier ein, in die Zimmer des Präsidenten. Das machte sie schon fast zu einem Staatsverbrecher. Sie konnte verurteilt werden.
Ihre Hände waren schweissnass, als sie die Tür öffnete. Hier schien nichts abgeschlossen zu sein. Vorsichtig spähte sie in das Zimmer hinein. Es war ein Sitzungszimmer. Mehrere Blätter lagen verstreut auf dem Tisch herum. Aber niemand war hier. Sie ging hinein. Immer nervöser werdend betrachtete sie die Blätter. Es waren Notizen von der Rede, die er heute in der Stiftung halten wollte.
Uninteressiert wandte sie sich ab und ging auf die Tür zu, die dieses Zimmer mit einem weiteren verband. In diesem Augenblick wurde die Klinke hinunter gedrückt und ein Mann kam herein. Er hatte einen schwarzen Anzug an. Seine Haare waren schon ergraut und er trug eine Brille. Vermutlich war er schon gegen die sechzig, aber eigentlich sah er noch ziemlich jung aus.
Er starrte sie zuerst erschrocken, dann erstaunt und schliesslich verwirrt an. Aber er sagte kein Wort, rief nicht nach Hilfe. Er schloss die Tür hinter sich und musterte sie von oben bis unten. Lilly konnte auch nicht sprechen, weil sie wusste, dass dies der Präsident war.
Es war der Präsident, und trotzdem konnte sie sich nicht daran erinnern, wer sie war und woher sie kam. Es war alles ein bisschen näher gerückt, aber wenn sie danach zu greifen versuchte, wich es immer aus. Sie war sich mehr denn je bewusst, dass er eine wichtige Rolle in ihrem Leben spielte, aber welche wusste sie nicht.
„Ent ... Entschuldigen Sie bitte, ich ... ich wollte zu Ihnen, ... aber die Frau hat mich ... ich meine, sie hat ... sie meinte, dass ...“ Sie brach ab.
Das, was sie wissen wollte, war so verdammt nah, und trotzdem meilenweit entfernt. Sie kam einfach nicht an es ran. Es war zum verrückt werden.
„Setzen Sie sich doch“, meinte der Präsident mit ruhiger Stimme und deutete auf einen der Stühle.
Nickend nahm sie Platz. Sie bemühte sich, die richtigen Worte zu finden, für das, was sie sagen wollte, aber das war schwierig. Sie wusste ja gar nicht, was sie sagen wollte. Sie hatte keine Ahnung, was sie eigentlich hier machte.
„Sie wollten also mit mir reden“, sagte Leard und machte ein aufforderndes Zeichen, „Bitte, ich bin hier und ich habe sogar ein bisschen Zeit.“
Lilly schluckte einmal schwer und entschloss sich, einfach einmal zu erzählen beginnen.
„Vor zwei Tagen bin ich mitten im der Wildnis aufgewacht und wusste nicht mehr, wer ich war und was ich dort tat. Ich wusste nur, dass ich unbedingt mit dem Präsidenten reden musste, dass er ... das Sie mir sagen können, wer ich bin. Zufällig habe ich erfahren, dass Sie hierher kommen. Unten an der Rezeption wollten sie mich nicht zu Ihnen lassen, also bin ich einfach hier ‚eingebrochen‘.“
Der Präsident musterte sie mit einem Ausdruck in den Augen, bei dem sie ein wenig beschämt die Augen abwandte. Es war ein Blick, als könne er tief in sie hineinsehen, als wisse er alles über sie.
„Und Sie glauben, dass ich weiss, wer Sie sind?“ fragte er nach einer Weile.
Lilly nickte nicht, aber sie schüttelte auch nicht den Kopf. Sie konnte es nicht sagen. Sie wusste es einfach nicht.
„Ich weiss nicht. Ich kann an nichts mehr erinnern. Es war so ein Gefühl, das ich habe. Ich kann es nicht beschreiben.“
Der Präsident nickte. Er hörte nicht auf, sie anzusehen. Irgendwie schien er zu überlegen, ob er ihr sagen sollte, wer sie war, oder nicht. Etwas in seinen Augen kämpfte gegeneinander.
Er ging ein paar Schritte zur Seite und sah sie dann wieder an. „Ich bin zwar der Präsident dieses Landes, aber ich kenne nicht alle Bürger, das ist Ihnen klar, oder?“
Lilly nickte und fühlte sich ein wenig verarscht. „Natürlich. Aber ich glaube nicht, dass ich einfach irgendein Bürger bin. Irgend etwas muss doch gewesen sein, dass ich mich nur an Sie erinnern kann. Das ist doch nicht ohne Grund. Ich bin mir fast zu hundert Prozent sicher, dass Sie mich kennen.“
Ein leichtes Lächeln umspielte seine Lippen. Seine Gedanken irrten hin und her und mussten blitzschnell überlegen, was er jetzt tun sollte. Vor ihm sass eine junge Frau, die nicht mehr wusste, wer sie war. Sie glaubte wirklich, dass er ihr helfen konnte, aber vielleicht konnte er es nicht. Er könnte, ja, aber konnte er es wirklich tun?

Am nächsten Morgen wurde Reggie von einem Mann, den sie noch nie gesehen hatte, geweckt. Er sagte, dass sie jetzt dann den Präsidenten wieder anrufen würden. Verschlafen ging sie vor ihm her in das Hauptzimmer. Dort waren alle Männer versammelt - ausser Donnie.
„Wo ist Donnie?“ fragte sie den Mann hinter sich.
Dieser zuckte mit den Schultern. „Keine Ahnung. Er ist heute morgen noch nicht aufgetaucht.“
Sorgenvoll runzelte sie die Stirn. Waren ihre schlimmsten Befürchtungen schon eingetroffen? War er tatsächlich nicht mehr hier, weil er zuviel für sie empfand? War er tot oder hatte er nur verschwinden müssen?
Der Mann, der hier nun scheinbar das Kommando übernommen hatte, seufzte, während er sie ansah. Er war nicht glücklich darüber, dass er nun den Befehl hatte, aber so war es schon immer abgemacht gewesen. Wenn Donnie einmal nicht hier war, musste er die Stellung halten. Bis jetzt war es noch nie vorgekommen, dass Donnie in einer brenzligen Situation einfach nicht aufgetaucht war.
Er ging unruhig hin und her und wartete scheinbar darauf, dass Donnie doch noch kam. Er konnte sie doch nicht einfach hier allein lassen. Sie hatten keine Ahnung von Politik und Verhandlungstechniken. Das hatte bis jetzt immer nur Donnie gemacht. Sie hatten nur die Geiseln bewacht. Das war ihr Gebiet, nicht das Verhandeln mit dem Präsidenten.
Das Telefon brach die Stille, die bis jetzt nur von den unruhigen Schritten unterbrochen worden war. Der Mann fuhr herum und starrte das Telefon an. Reggie konnte sehen, dass er wirklich nervös war.
Er nahm das Telefon ab und fragte: „Hallo?“ Er lauschte einen Moment und bestätigte dann. Er hängte ohne ein weiteres Wort wieder auf.
„Das war Mulroney“, antwortete er auf die fragenden Blicke der Männer, „er sagte, wir sollen sofort ins Lager 2 wechseln und dann den Präsidenten anrufen.“
Die Männer fragten nicht, warum oder wieso, sie gehorchten einfach. Ohne zu murren fingen sie an, ihre Habseligkeiten einzupacken und die Autos bereit zu machen. Der Leiter packte Reggie am Arm und brachte sie in den grossen Lieferwagen, den sie bereits kannte. Er legte ihr Handschellen um und fuhr dann sofort los, ohne auf die anderen zu warten.
Sie fuhren nur sehr kurz, aber dafür ziemlich heftig, vor allem in den Kurven. Der Mann holte sie wieder aus dem Wagen und brachte sie in ein Zimmer, das fast genauso aussah wie das Hauptzimmer vorher. Er befahl ihr, sich auf einen Stuhl zu setzen und still zu sein.
Nach und nach kamen die restlichen Männern herein und stellten alle möglichen Geräte auf. Sie machten das in einer Routine, die Reggie vermuten liess, dass sie das nicht zum ersten Mal machten.
Sie stellten alles auf und schliesslich nickte der Leiter. Er nahm das Handy und tippte die Nummer ein. Der Mann neben ihm fing wieder an auf seinem Laptop herum zu tippen, damit der Anruf nicht nach verfolgt wurde.
Er sagte: „Ich erwarte, dass Sie das Geld haben. Ihr Sicherheitschef wird es uns heute abend übergeben, allein, ohne Ihre Männer. Um genau sieben Uhr wird er das Geld in den Abfalleimer am Central Drive werfen. Und ich warne Sie: Sie bekommen die Geisel, darauf haben Sie mein Wort, aber Sie bekommen sie erst, wenn wir das Geld haben, klar?“
Reggie hörte, wie der Präsident seufzend einstimmte. Der Leiter hängte sofort wieder auf und sah ‚seine‘ Männer an.
„Okay, machen wir uns daran, alles abzusichern. Jeder weiss, was er zu tun hat. Sobald jemand stört, bringt ihr ihn weg. Ist er ein Regierungsbeamter, blasen wir die ganze Sache ab, klar?“
Die Männer nickten und gingen hinaus. Reggie wandte dem Blick vom Leiter ab. Er war nicht Donnie. Er würde sie erschiessen, wenn er es müsste.
„Was passiert, wenn der Präsident Ihre Forderungen nicht einhält? Werden Sie mich erschiessen?“ fragte sie leise.
Der Mann musterte sie. In seinen Augen war weder Zuneigung noch Abneigung. Es war nur ein Job für ihn, ein Job wie jeder andere auch. „Vielleicht. Vielleicht aber auch nicht.“
Das war Reggie nicht sehr hilfreich. Soweit war sie auch schon gekommen. Aber sie fragte nicht weiter. Sie wusste nicht, wie viel Geduld dieser Mann hatte, aber er sah nach einen Kerl aus, der nicht sehr viel davon hatte.
Er brachte sie in ein Zimmer. Es war kleiner als das vorher. Es hatte keine Badezimmer mehr und auch kein Fenster. Ein schmales Bett stand in einer Ecke und ein wackliger Tisch mit drei Stühlen in der Mitte des Zimmers. Eine Lampe, die lose von der Decke hing, erhellte den Raum. Der Teppich am Boden sah ein wenig abgenutzt aus. Er hatte eine Farbe zwischen blau und grau, so genau konnte man es nicht mehr erkennen. Die Wände waren weiss, aber an einigen Stellen splitterte die Farbe schon ab. Wenn es jetzt noch nach verfaulten Wasser und toten Mäusen gerochen hätte, hätte Reggie geglaubt, sie wäre in ein tiefes Kellerloch gesperrt worden. Aber eigentlich roch es nach gar nichts.
Es war so ein Zimmer, wie Reggie es sich vorgestellt hatte. Das Hotelzimmer vorher hatte sie schon ziemlich erstaunt. Das war wohl so etwa der Standard für die Unterkunft einer Entführten. Sie versuchte es sich auf dem Bett so bequem wie möglich zu machen.
Ihre Gedanken schweiften ab, aber sie wollte nicht nachdenken. Sie zwang sich, an ihre Adoptiveltern zu denken, die bestimmt fast verrückt vor Sorge um sie waren.

Der Präsident hatte Lilly bis jetzt nicht gesagt, was sie hatte wissen wollen. Er hatte ihr ein paar Fragen gestellt, aber sonst hatte er eigentlich nichts getan.
Plötzlich ging die Tür auf und ein Mann kam herein. Er hatte ein Telefon in der Hand, blieb aber erstaunt stehen, als sein Blick auf Lilly fiel.
„Wie ist sie hier herein gekommen?“ fragte er den Präsidenten und war schon dazu bereit, seine Waffe zu ergreifen.
„Nicht, Bob, es ist alles in Ordnung.“
Lilly starte diesen Mann an, an den sie sich nicht erinnern konnte, aber wusste, dass sie ihn schon einmal gesehen hatte. Irgendwo war er ihr begegnet. Ein paar der Bilder, die ohne Gesichter und Handlung blieben, nahmen Gestalt an. Sie sah Robert Mulroney, der Sicherheitschef der USA, und sie spürte Angst und Verwirrung.
Etwas mit ihm war nicht in Ordnung. Sie konnte es nicht in Worte fassen, aber es war ein sehr starkes Gefühl. Noch stärker, als das, das sie zum Präsidenten geführt hatte. Mulroney war nicht das, was er zu sein vorgab.
„Sir“, sagte Mulroney, nachdem sie intensiv gemustert hatte, „Es ist Zeit. Die Entführer werden bald anrufen.“
Der Präsident nickte und nahm das Telefon. Er schickte Lilly nicht hinaus, obwohl das eigentlich ‚vertrauliche‘ Gespräche waren. Wenn sie mit dem, was sie hier hörte, an die Öffentlichkeit ging, würden sie von den Medien nur so zerfetzt werden.
Genau in diesem Moment läutete das Telefon in die Stille hinein. Der Präsident nahm ab und lauschte.
Mulroney hatte eine Hand ans Ohr gehoben, von wo ein dünnes Kabel in den Kragen hinein verlief. Er lauschte ebenfalls dem, was am Telefon gesagt wurde.
Nach einer Weile sah der Präsident fragend auf Mulroney. Dieser nickte, also sagte der Präsident seufzend: „Okay, wir werden uns an die Forderungen halten.“
Er drückte auf den Knopf, um das Telefon abzuschalten.
„Sie werden ein paar Leute rund um den Ort herum postieren. Geben Sie normale Kleidung. Machen Sie Penner aus Ihnen. Was immer Sie wollen. Aber ich erlaube nicht, das Sie alleine gehen.“
Mulroney lächelte leicht, war aber vom Vorschlag des Präsidenten nicht begeistert. „Sir, diese Männer sind Profis. Vermutlich haben sie den Central Drive schon seit Wochen beobachtet. Sie wissen, wer dort hin gehört und wer nicht. Es wäre viel zu gefährlich, auch nur einen einzigen Mann zu postieren.“
Lilly hörte dem Gespräch zu und fing langsam an zu verstehen. Es ging um eine Entführung und nun liefen die Verhandlungen. Der Übergabeort war abgemacht, es ging nur noch darum, ob Mulroney das Geld alleine übergeben sollte oder nicht.
Ihr war es, als wäre sie ganz tief in diese Geschichte verwickelt. Es kam ihr alles bekannt. Eine Entführung und Mulroney passten aus ihrer Sicht gut zusammen. Ihr Gefühl sagte ihr, dass sie Mulroney von einer Entführung her kannte.
In ihrem Kopf setzten sich langsam die Puzzleteile zusammen. Wenn sie ihn von einer Entführung kannte, musste sie entweder selbst kriminell sein oder einmal eine Geisel gewesen sein. Mulroney musste ein Entführer oder ebenfalls eine Geisel gewesen sein. Das passte auf ihn wie zugeschnitten. Er war ein skrupelloser Entführung, der seine hohe Stelle schamlos ausnutzte, während sie als unscheinbares Mädchen eine Entführte gewesen war. Aber warum hätte er sie entführen sollen, wenn sie so unscheinbar war?
„Entschuldigen Sie, Mr. President. Ich glaube, ich habe irgend etwas mit dieser Sache zu tun, genauso wie Mr. Mulroney, oder?“ fragte sie.
Mulroneys Gesicht erstarrte zu Eis und seine Augen starrten sie an. Sie wich seinem Blick aus und konzentrierte sich dafür auf den Präsidenten. Er war erstaunt darüber, dass sie so etwas herausgefunden hatte, obwohl sie sich an nichts erinnern. Er war aber auch verwirrt, den was meinte sie damit, dass Bob auch etwas damit zu tun habe, ausser, dass er der Sicherheitschef war?
„Ich glaube nicht, dass jetzt der richtige Zeitpunkt dazu ist, Mr. President“, sagte Mulroney. Er meinte nicht das, er wollte nur vom Thema ablenken.
Lilly spürte immer deutlicher, dass sie nur noch einen ganz, ganz kleinen Schritt davon entfernt war, sich wieder an alles zu erinnern. Der Präsident musste nur diese eine Frage beantworten, dann würde sie alles wissen.
Der Präsident zögerte einen Augenblick. Sollte er auf den Rat seines Sicherheitschef hören oder auf die flehenden Augen dieser jungen Frau? Er war hin und her gerissen, denn wenn er es sagte, musste auch er sich sehr zusammen nehmen.
Sein Blick glitt hin und her und blieb dann beim Mädchen hängen.
„Bob, holen Sie die Zeitung von gestern.“
Mulroney wollte protestieren, aber der Präsident sah ihn so an, dass er ging. Lilly starrte auf die Tür, bis er wieder hineinkam. Er brachte eine Zeitung mit.
„Sir, wenn Sie erlauben, werde ich alles vorbereiten lassen.“
Abwesend nickte der Präsident, während er Lilly aufmerksam beobachtete.
Lilly sah die Zeitung an. Auf der Titelseite war ein Bericht über diese Entführung. Auf dem einen Bild war eine junge Frau etwa in ihrem Alter, auf dem anderen war sie selbst. Es erstaunte sie nicht besonders. Aber wenn sie gestern in der Zeitung gewesen war, warum war sie dann nicht als Geisel irgendwo gefesselt und geknebelt?
Sie musterte die andere Frau und wusste, dass sie sie kannte, sehr gut kannte.
Und dann wusste sie wieder alles.

Trotz aller Mühe, die sich Reggie gegeben hatte, musste sie dann trotzdem über ihre missliche Lage nachdenken. Donnie war nicht mehr hier und nun war irgendein Mann der Chef, dem sie egal war.
In ihrer Verzweiflung war sie davon überzeugt, dass Donnie doch kommen, und sie befreite, oder das zumindest die Polizei das Gebäude stürmten. Irgend wer musste einfach kommen.
Das schlimmste an sich war eigentlich nicht die Tatsache, dass sie sterben könnte, sondern die Zeit. Sie war jetzt schon seit Stunden in diesem Zimmer eingesperrt, konnte nichts anderes tun als nachdenken und musste warten. Niemand hielt es für angebracht, ihr zu sagen, was als nächstes passieren wird. Das einzige, was sie wusste, war, dass um sieben Uhr am Abend die Übergabe stattfand, das bedeutete, dass man sie vielleicht um acht Uhr frei liess. Bis dahin mussten noch fünf endlose Stunden vergehen.
Ihr Finger trommelten nervös auf dem Tisch herum. Sie wusste nicht, was sie tun sollte. Ihr war sterbenslangweilig. Irgendwie war es wie verhext. Einmal verging die Zeit viel zu schnell, man würde sie am liebsten anhalten wollen, und ein anderes Mal ging sie so schleppend vorbei, dass man nicht glaubte, dass sich überhaupt etwas bewegte.
Sie stand auf und drückte die Türfalle herunter. Natürlich ging sie nicht auf. Laut klopfte sie dagegen und rief: „Kann mir nicht mal jemand etwas zum Lesen bringen?“
Sie wusste nicht, ob jemand sie hören konnte. Das änderte sich aber schnell, als ein paar Minuten später eine Zeitung durch den Spalt unter der Tür durch geschoben wurde.
Ehrlich dankbar nahm sie sie auf und setzte sich an den Tisch. Es war die Zeitung von heute. Ihre Entführung stand immer noch auf der ersten Seite, sagte aber nicht mehr viel neues aus. Man wusste in der Öffentlichkeit noch immer nicht, was der Präsident tun würde. Er hatte noch keine Erklärung abgegeben.
Sie blätterte weiter, las alles durch, aus das, was sie nicht interessierte. Sie musste Zeit schänden. Wenn sie zu schnell fertig war, wurde es ihr wieder langweilig. Sie zwang sich dazu, langsam zu lesen und immer zu überlegen, ob sie wirklich verstand, um was es eigentlich ging. Sie machte sich selbst ein wenig zum Narren, aber das war besser als diese schreckliche Langeweile.
Einige der Artikel waren aber noch ziemlich interessant. Sie hatten in der Schule von den Kriegen geredet, von denen jetzt ein paar hier Schlagzeilen machten. Als sie sie durchlas, fiel ihr auf, dass der Lehrer einen ziemlich Schwachsinn erzählt hatte. Wenn sie wieder zurückkam, würde sie ihn darauf ansprechen. Das würde ihm schon peinlich werden.
Da blieb nur noch die Frage offen, ob sie jemals wieder auf das College gehen würde. Mit einem Vater wie Skeet McGowan würde sie auf eine Privatschule gehen, oder gleich einen Privatlehrer bekommen.
Es war ja eigentlich egal, ob sie dem Lehrer seinen Fehler noch zeigen konnte oder nicht, Hauptsache war, dass sie lebend aus diesem Desaster herauskam.

Es war ein herrliches Gefühl, auf einmal wieder ein neuer Mensch zu sein. Lee wusste alles wieder. Von ihrer ersten Erinnerungen an ihrem fünften Geburtstag, als sie ihren Hund Billy bekam, bis hin zu dem Zeitpunkt, als sie den Kopf anschlug und nicht mehr wusste, wer sie war. Alles war wieder da.
Auch das mit der Entführung und dem Geheimnis, das sie erfahren hatten. Sie starrte John Leard, ihren Vater an, als hätte sie ihn noch nie in ihrem Leben gesehen. Wenn man es genau betrachtete, hatte sie ihn auch noch nie gesehen, jedenfalls nicht mit diesen Augen und diesem Wissen, das sie jetzt hatte.
Er musterte sie und eine Liebe spiegelte sich in seinen Augen wieder, die vorher auch schon da gewesen war, die sie aber nicht bemerkt hatte. Er wusste, dass sie seine Tochter war. Bestimmt hatte er sie beobachten lassen, um sicherzugehen, dass es ihr auch wirklich gut ging.
Lees Augen füllte sich mit Tränen und sie umarmte ihren Vater. Sie hatte ihn fast achtzehn Jahre lang nicht umarmen können, jetzt wurde es langsam Zeit, dass sie einmal tat. Schliesslich war er ihr leiblicher Vater.
„Es tut gut, einmal eine Tochter im Arm zu halten“; flüsterte er leise und drückte sie fest an sich.
Lee freute sich so sehr, dass sie weinte. Sie verzieh ihm, dass er sie weggeben hatte. Irgendwie verstand sie ihn. Viele Eltern gaben ihre Kinder weg, damit sie es schöner hatten. Vielleicht hatte er das auch gewollt. Wenn er sie bei sich behalten hätte, wäre sie als Tochter eines Mannes gross geworden, der keine Zeit für seine Kinder hatte. Bei ihren Ersatzeltern hatte sie immer einen Vater und eine Mutter gehabt, die beide für sie da waren, wenn sie zu ihnen gegangen wäre. Leider hatte sie das selten ausgenutzt.
„Ich hatte gewusst, dass du ein wichtiger Teil meines zukünftigen Leben wärst“, sagte Lee und löste sich langsam von ihm. Es war ziemlich ungewohnt, den Präsidenten mit ‚Du‘ anzusprechen, aber es gefiel ihr.
Dann plötzlich war ihre Freude verflogen. „Mulroney ist einer von Geiselnehmern. Er hatte Reggie noch immer in seiner Gewalt. Wir müssen sie sofort befreien.“
John starrte sie entgeistert an. „Bob? Ein Geiselnehmer? Bist du sicher, dass du nicht noch einen Schock hast?“
Sie schüttelte heftig den Kopf. „Nein, mir geht es prächtig. Er hat Reggie und mich entführen lassen, um Geld zu erpressen. Ich weiss nicht, für was er es genau einsetzen wollte. Aber er ist es gewesen. Hast du sein Gesicht nicht gesehen, als er hereingekommen ist, und mich hier sitzen sah?“
Doch, das hatte er tatsächlich gesehen und er hatte sich gewundert. Aber wie konnte Mulroney, sein engster Vertrauter, ihn hintergehen? Er war nicht nur im Beruf ein Partner, sondern auch im privaten Leben ein guter Freund. Er und seine Frau hatten oft bei ihm und Michelle gegessen. Sie hatten sich immer köstlich amüsiert. Nützte er das etwas aus? Glaubte er dadurch besser davonzukommen, wenn man ihn erwischte? Was erhoffte er sich?
John konnte seinen eigenen Freund nicht verstehen, aber er glaubte seiner Tochter. Warum sollte sie Mulroney sonst beschuldigen? Sie hätte doch gar keinen Grund, so eine arge Beschuldigung gegen ihn zu richten.
John ging zur Tür und rief Mulroney herein. Dieser fühlte sich nicht mehr so wohl in seiner Haut. Er war sich nicht sicher, ob Lee ihn erkannt hatte oder nicht. Er wusste nicht, warum sie ausgerechnet zum Präsidenten gegangen war. Durch irgend etwas musste sie das Gedächtnis verloren haben. Wieso aber war sie zu Leard gekommen, wenn sie nichts mehr wusste? Es war alles vollkommen ... unlogisch.
Lee starrte Mulroney an und jetzt wusste er, dass sie sich an ihn erinnerte und dass sie Leard alles erzählt hatte. Auch dieser starrte ihn an und zweifelte noch an ihren Worten, jedenfalls in seinem Verstand. Mit seinem Herzen hatte er schon das erste Wort von seiner Tochter geglaubt und würde ihr auch immer alles glauben.
„Was haben Sie mit dieser Verbrecherbande zu tun?“ fragte Leard direkt und sah ihn dabei eisig an. Mulroney konnte seinem Blick nicht standhalten. Er sah zwischen ihm und Lee hin und her und er wusste, seine Verteidigung konnte er vergessen.
Der einzige Weg blieb die Flucht. Er drehte sich blitzschnell und rannte aus der Tür. Leard lächelte leicht und flüsterte etwas in seinem Hemdkragen.
Gleich darauf konnten sie hören, wie Mulroney schrie, dass sie ihn loslassen solle, er befehle es ihnen. Aber er wurde nicht losgelassen. John und Lee gingen hinaus und er sah ihn wütend und verletzt an.
„Bringen Sie ihn zur Polizei und lassen Sie ihn verhören. Sorgen Sie dafür, dass er mit allem auspackt. Ich will noch heute diese Entführung beendet haben, klar?“ Der eine Mann nickte und ging mit seinen vier Kollegen und Mulroney den Gang hinunter zum Personallift.
Lee war erleichtert. Jetzt wurde bestimmt alles wieder gut. Sobald Mulroney verriet, wo Reggie jetzt war, konnten sie sie befreien. Dann war sie wieder mit Reggie zusammen und sie konnten einander erzählen, was alles passiert war. Dann würde alles wieder gut werden.
Weitere Assistenten des Präsidenten hatten sich eingefunden und fragten sich nun, was eigentlich los war. Der Präsident liess sich zu keiner Erklärung herab, weder zu einer wegen Mulroney noch zu einer wegen Lee.
„Sagen Sie die Rede heute ab. Sagen Sie als Erklärung, dass wir wichtige Fortschritte im Fall dieser Entführung haben. Und rufen Sie endlich McGowan an. Er soll sofort hierher kommen!“
Damit schob er Lee wieder in das Zimmer hinein und durch eine weitere Zwischentür in ein gemütlich eingerichtetes Wohnzimmer. Lee sah ihn erstaunt an. Wegen ihr sagte er einfach eine Rede ab. Er hätte einen guten Vater abgegeben. Leider war ihm das nicht bewusst.
„Möchtest du etwas essen?“ fragte er.

Die Zeit verging ein bisschen schneller, aber immer noch nicht schnell genug. Die Zeitung war nicht so dick, um sich damit drei Stunden lang beschäftigen zu können. Also riss sie sorgfältig - und langsam - die Doppelseiten auseinander und häufte sie auf. Dann nahm sie ein Blatt nacheinander, faltete Papierflugzeuge und kleine Pferde und Hunde. Das hatten sie einmal im der ersten Klasse gemacht. Dort waren schaurige Monster und unerkennbare Figuren herausgekommen, doch nun ging es besser. Es dauerte einige Versuche, bis sie es perfekt hinkriegte, aber sie hatte ja Zeit und Papier.
Nach ein paar gelungenen Tests versuchte Reggie, die Hunde in Katzen abzuändern. Das war nicht ganz einfach. Hunde aus Papier sahen Katzen verdammt ähnlich. Doch schliesslich schaffte sie es und war stolz auf sich. So etwas hatte sie noch nie ohne Fremde Hilfe geschafft. Es war das erste Mal, dass sie in einer handwerklichen Angelegenheit so etwas wie Talent gezeigt hatte.
Vielleicht macht die Not auch erfinderisch, sagte sie zu sich selbst. Sie liess ein paar Flugzeuge durchs Zimmer fliegen, machte neue, die das Gewicht besser ausbalancierten. Die meisten flogen in einer Schraube direkt auf den Boden, aber einige schafften es durch das ganze Zimmer und prallten dann gegen die entgegengesetzte Wand.
„Verdammt noch mal“, tönte es plötzlich von der Tür her und jemand schlug mit dem Fuss dagegen. Er fluchte gleich noch einmal über den Schmerz, bis er die Türe aufgebracht hatte.
Reggie sah auf die Uhr. Es war fast sieben Uhr.
Der Mann, der herein kam, war der, der nach Donnies Abgang die Leitung übernommen hat. Er hinkte ein paar Schritte lang, bevor er sich von dem Schmerz erholt hatte. Sein Gesicht war mit Schweiss bedeckt und er sah müde aus. Verwundert betrachtete er die vielen Papierflugzeuge am Boden, vergass sie dann aber sofort wieder. Er nickte ihr zu.
„Wir gehen jetzt zum Übergabeplatz. Wenn alles glatt läuft, sind Sie in einer Stunde wieder ein freier Mensch“, sagte er und wollte dabei sicher klingen. In seiner Stimme schwang jedoch eine Unsicherheit mit, die Reggie sich nicht erklären konnte. Irgend etwas musste passiert sein.
Sie ging wortlos mit und wurde, sobald sie aus dem Zimmer war, von zwei Wachen flankiert, die beide entsicherte Waffen trugen. Es herrschte wieder reger Betrieb. Alle packten ihre Sachen ein, nun nicht mehr so hastig wie am Morgen. Sie machten sich bereit, um für eine Weile unterzutauchen und sich nicht mehr blicken zu lassen. Mit dem Geld, das sie von dieser Entführung bekamen, konnten sie es sich eine Weile gutgehen lassen. Die meisten der Leute waren aber schon am Übergabeort, wo sie mit gepackten Taschen darauf warteten, das Geld zu bekommen. Sie wollten nicht länger als nötig hier bleiben.
Der Mann legte Reggie Handschellen an und führte sie zum Lieferwagen. Er selbst und eine der Wachen stiegen vorne ein, während die andere hinten bei ihr blieb. So kurz vor dem Ziel konnten sie das Risiko nicht eingehen, dass sie es irgendwie schaffte, aus dem Wagen zu springen.
Aus der Fahrerkabine tönte ein Gespräch in den hinteren Teil. Es sprach aber immer nur jemand, lauschte einer Antwort und fragte wieder etwas. Der Leiter musste mit einem Handy oder einem Funkgerät mit jemandem sprechen. Vermutlich war der Jemand am Ort der Übergabe, während sie ein paar Strassen weiter warteten. Sie hörte ein ‚Okay‘ und dann herrschte Schweigen.
Reggie wagte nicht, die Wache anzusprechen und zu fragen, was nun passierte. Der Mann sah nicht aus, als habe er viel Geduld, sondern schien eher der Schlägertyp zu sein. Obwohl er ihr eigentlich nichts machen konnte, wollte sie das Risiko trotzdem nicht eingehen.
„He, Jungs, wie geht’s euch?“ fragte plötzlich ein Mann. Seine Stimme war tief und sanft und tönte wie die Stimme eines Engels.
„Hey, Donnie, wo warst du, Mann? Ich habe mir fast in die Hosen gemacht, als ich mit dem Präsidenten telefonieren musste. Wie konntest du uns einfach alleine lassen und mir die Leitung überlassen?“
Reggie hörte ein lautes Lachen. Donnie war also wieder da.
„Ich hatte eine wichtige Angelegenheit zu klären. Sorry, dass ich euch nicht informiert habe, aber es war wirklich sehr dringend.“
Reggie fragte sich, was wohl wichtiger als eine Entführung sein konnte.
„Ich habe eben mit Mulroney telefoniert. Er sagte, wir sollen die Aktion abbrechen und für eine Weile untertauchen. Ich nehme die Kleine mit. Wenn wir sie zappeln lassen, können wir unser Lösegeld verstärken.“
„Aber Mulroney wurde verhaftet. Die andere Kleine ist zum Präsidenten gelaufen und hat ihn dort identifiziert. Er sitzt im Knast. Wir müssen die ganze Sache ohne ihn durchziehen.“
Lee hatte es also geschafft. Wenigstens war sie in Sicherheit.
„Oh, das hat er mir nicht erzählt. Er muss schon wieder entkommen sein. Auf jeden Fall sagte er nur, es sei wichtig, dass wir sofort verschwinden. Der Präsident hat überall seine Männer postiert“, erwiderte Donnie.
Reggie glaubte zu hören, dass auch er unsicher war. Log er da etwa eine Geschichte zusammen?
„Okay. Ich ruf die Männer von dort weg. Wann treffen wir uns wieder?“
„Mulroney hat alle unsere Tarnidentitäten. Er wird uns zusammenrufen, sobald es soweit ist. Er will kein Risiko eingehen. Zuerst muss er wohl noch die Cops loswerden.“
Ja, das wäre sicher nützlich, dachte Reggie. Der Wächter öffnete die Türe, aber nicht ohne einen warnenden Blick auf sie zu werfen. Er stieg aus, nur soweit, dass er sie noch im Blickfeld hatte.
„Hey, Männer, was ist los?“ rief er nach vorne, obwohl auch er alles gehört hatte.
„Ich übernehme die Kleine. Am besten, ihr überlasst mir den Bus. Ich muss mit ihr so schnell wie möglich verschwinden“, tönte Donnies Stimme nun schon viel näher, „Die Gegend hier wimmelt nur so von Bullen.“
Der Wächter schloss die Türe zu und übergab Donnie die Schlüssel der Handschellen, obwohl er selbst hatte.
„Du bist der Boss. Lass dich von der Kleinen nicht unterkriegen, klar?“
Donnie lachte laut. „Okay, ich wird‘ mir Mühe geben.“
Sie klopften einander auf die Schultern, während die beiden anderen Männer ausstiegen. Der stellvertretende Chef gab ihm die Autoschlüssel. Sie verabschiedeten sich mit einer kurzen Umarmung. Dann stieg Donnie ins Führerhaus ein und fuhr davon.
„Donnie, warum machen Sie das?“ fragte Reggie. Sie wäre in ein paar Minuten vielleicht frei gewesen. Und er hatte sie doch nicht umbringen wollen. Sie hatte doch gespürt, wie er sie am liebsten befreit hätte.
„Ich rette Ihnen gerade das Leben. Die Abmachung mit Mulroney lautete, das Geld zu kassieren und Sie danach zu erledigen. Sie hätten Sie niemals freigelassen, ausser als Leiche.“
Für einen Moment war Reggie gelähmt vor Schock. Sie hatten sie umbringen wollen? Aber warum? Dadurch machten sie ihr Verbrechen doch nur noch schlimmer. Dadurch wären sie des Mordes angeklagt worden, wenn man sie erwischt hätte, nicht nur der Entführung. Die mussten vollkommen verrückt sein. Mulroney musste vollkommen verrückt.
„Ist Mulroney wirklich im Gefängnis gewesen und jetzt wieder draussen? Wie hat er das geschafft?“ fragte sie weiter. Es störte sie, dass sie durch die Wand miteinander redeten.
„Ich habe keine Ahnung, was passiert ist. Aber wenn er wirklich im Gefängnis gesessen hat, dann sitzt er jetzt auch noch. Ihre Freundin Lee hat bestimmt dafür gesorgt, dass der Präsident ihn wirklich gut einsperrt.“
Das erleichterte sie ein wenig. Allerdings war es fraglich, ob die anderen Männer dann nicht Verdacht schöpften. Irgendeiner hatte bestimmt Verbindung zu ihm und wenn sie erfuhren, dass Donnie sie angelogen hatte, würden sie ihn - und damit auch sie - bestimmt verfolgen.
„Was passiert, wenn die anderen Männer erfahren, dass Sie gelogen haben?“ äusserte sie zögernd ihren Verdacht.
„Ich weiss es nicht“, antwortete er, und schien besorgt zu sein. Er kannte die Männer, schliesslich hatte er mehr als nur ein paar Tage mit ihnen zusammengearbeitet, und das war das Problem. Sie konnten Verräter in ihrer Mitte nicht ausstehen. Ihre Arbeit beruhte auf gegenseitigem Vertrauen. Wenn jemand dieses Vertrauen missbrauchte, war er bei ihnen nicht abgeschrieben und vergessen, sondern im Gegenteil. Sie würden ihn bei der nächsten Gelegenheit umbringen.
Doch das sagte er Reggie nicht. Er wollte sie nicht unnötig beunruhigen.
„Hat Mulroney Sie weggeschickt? Oder hatten Sie wirklich eine wichtige Angelegenheit zu klären?“
Donnie lacht laut. „Glauben Sie, ich würde mitten in einer Entführung einfach so verschwinden, weil ich etwas anderes zu tun habe?“
Genau das hatte sie gedacht. Mulroney hatte ihn von diesem Fall hier abgezogen. Also stimmte es, dass er etwas für sie empfand. Und dieses Etwas war gross genug, um eine ganze Entführung in Gefahr zu bringen.
„Bringen Sie mich jetzt zum Präsidenten, oder zur Polizei?“ fragte sie hoffnungsvoll.
Zwar hatte sie Donnie gern, vielleicht sogar mehr als nur gern, aber trotzdem wollte sie lieber wieder ihre Freiheit haben. Wenn er sie gehen liess, konnte er sowieso besser fliehen und sich irgendwo absetzen. Sie könnte es vielleicht sogar arrangieren, dass er Geld bekam, mit dem er gut leben konnte. Mit ihr musste er immer für zwei zahlen und musste erst noch auf sie aufpassen, damit sie nicht weglief. Und immer konnte er nicht ein Auge auf sie haben.
„Das geht nicht. Es gibt einen Spitzel im Weissen Haus. Ich weiss nicht, wer er ist, aber ich weiss, dass es ihn gibt und dass er eine ziemlich hohe Position einnimmt. Sobald er erfährt, dass Sie frei sind, wird er alles daran setzen, Sie wieder als Geisel zu nehmen oder Sie umzubringen. Und ich weiss, dass er gut ist. Eine ganze Armee von Bodyguards könnte ihn nicht aufhalten.“
Donnie hielt den Wagen an und öffnete die Hintertüre. Sie sah ihn an. Er wirkte so gepflegt wie immer, aber dünne Sorgenfalten lagen auf seiner Stirn. Er machte sich wirklich Sorgen um sie.
„Kommen Sie, ich nehme Ihnen die Handschellen ab. Aber Sie müssen mir versprechen, nicht wegzulaufen. Es ist wirklich nur zu Ihrem Besten.“
Sie nickte. Donnie nahm die Schlüssel und öffnete die Handschellen. Erleichtert rieb sie die roten Abbrücke auf ihren Handgelenken.
Sie stieg aus und setzte sich auf den Beifahrersitz. Donnie fuhr wieder los. Der Verkehr ging nur stockend vorwärts, es herrschte ein reges Hupkonzert. Die vielen gelben Taxis stachen aus den übrigen, meist schwarzen oder grauen Autos heraus. Auf den Seiten jeder Strasse hasteten, spazierten und standen Menschen. Sie hatte ihre Regenmäntel an oder einen Schirm über ihren Köpfen gespannt, denn es regnete in Strömen.

„Sir, wir sind bereit. Wir warten nur noch auf Ihr Kommando.“
Der Mann hatte seine ganze schwarze Ausrüstung an. An seinem Gürtel waren kleine Taschen, die voll mit Sachen gefüllt waren, von denen Lee keine Ahnung hatte. Auf seinem Rücken stand in grossen, weissen Buchstaben ‚FBI‘ geschrieben. In seiner Hand hielt er locker ein voll automatisches Gewehr. Ein kleiner Lautsprecher hing in seinem Ohr und auf der Brust war das Mikrophon angemacht.
„Sind Sie sicher, dass sie Sie nicht bemerken werden?“ fragte der Präsident besorgt. Neben ihm stand Skeet McGowan. Er rieb sich immer wieder nervös die Hände an seinem schönen Anzug ab.
Er war vor etwa einer Stunde angekommen und seitdem war er nicht einen Moment lang ruhig gewesen. Immer hatte er irgend etwas machen müssen. Entweder ging er unruhig umher oder dann spielte er mit dem leeren Glas, in dem früher Wasser war.
Lee war zuerst berauscht gewesen. Sie traf diesen unbeschreiblichen Mann persönlich. Fast hätte sie dabei vergessen, warum er hier war und warum sie hier war. Sie war die Tochter des Präsidenten und die beste Freundin von Skeet McGowans Tochter. War sie nicht genauso berühmt wie er oder würde es zumindest bald werden?
Das liess sich leicht einreden, aber es war trotzdem ein überwältigendes Gefühl. Sie hatte ihm ein wenig von Reggie erzählt. Und je mehr sie erzählte, desto mehr Sorgen machte er sich.
„Haben Sie Jamie auch schon informiert?“ hatte er den Präsidenten gefragt, kurz nachdem er angekommen war.
Dieser musste verneinen. Sie hätten keine Ahnung, wo sie sei. Aber sie würden es immer wieder probieren. Irgend wann kam sie bestimmt wieder nach Hause und dann würden sie sie erreichen.
Jetzt war es fünf Minuten vor sieben. Jamie Campbell war noch nicht aufgetaucht. McGowan konnte es kaum mehr erwarten, seine Tochter zu sehen.
„Ja, Sir, ich bin sicher. Sie werden uns nicht entdecken. Sollte jemand ungewollte Blicke auf sich lenken, wird er weggehen, als sei er ein einfacher Spaziergänger. Wir haben genug Männer postiert“, antwortete der Mann selbstbewusst. Er wartete noch immer auf das Kommando des Präsidenten.
„Okay, dann beginnen Sie.“
Der Mann nickte und rannte davon, während ein paar Namen rief und sofort weitere Männer in voller Ausrüstung ihm nachrannten.
John musterte Lee und McGowan und seufzte. „Jetzt können wir nur noch abwarten.“
McGowan schnaubte leise. „Das ist das, was ich am meisten hasse. Warten.“
Lee lächelte leicht. Sie hatte schon von klein auf warten gelernt. Ihre Eltern - ihre Adoptiveltern - waren oft spät nach Hause gekommen. Als kleines Mädchen hatte sie Angst gehabt und gewartet, bis sie fast wahnsinnig geworden war. Später gab sie es auf und entspannte sich. Es hatte keinen Sinn, sich Sorgen zu machen, denn ändern konnte man ja sowieso nichts.
Es hatte ihr bis jetzt nicht viel ausgemacht, aber trotzdem spürte sie jetzt, wie auch sie langsam nervös wurde. Reggie würde bald wieder frei sein. Sie konnte ihren Vater kennenlernen. Wenn nur alles glatt lief. Wenn sie ihr nur nichts angetan hatten.
„Sir, einer der Geiselnehmer“, flüsterte ein Mann, der mit einem Telefon angerannt kam.
Lee starrte erschrocken auf ihren Vater. Warum meldeten sich die Entführer wieder? Es war doch alles klar. In einer Minute war die Übergabe und dann war die Sache beendet. Warum riefen sie jetzt noch an?
John Leard nahm das Telefon an sich und meldete sich. Er lauschte kurz und erblasste. Dann hängte er den Hörer auf und sah Skeet McGowan und Lee an, als hätte er gerade einen Anruf von seiner Urgrossmutter aus dem Jenseits bekommen.
„Sie sagen, die Sache stinke. Sie wollen alle untertauchen und Reggie mitnehmen. Sie werden sich wieder melden. Eine zweite Chance, sozusagen, aber eine dritte werde es nicht geben.“
 
 

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