Es war ein Tag wie jeder andere auch. Jedenfalls wollte
er Lee das glauben machen. Am Morgen brachte sie wie immer nur ihr Hund
Billy dazu, aufzustehen und sich dem gemeinsamen Frühstück mit
ihren Eltern und dem kleinem Bruder zu stellen. Sie stritt sich wie immer
mit ihrer Mutter über ihre Kleidung, die ihrer Meinung nach viel zu
offenherzig und zu provozierend war. Der Vater sagte nie etwas zu ihrem
Aussehen oder über ihre Kleidung. Es war ihm egal, solange sie nicht
ganz nackt herum lief. Er war - wenn auch nur wenig - besser informiert
als ihre Mutter, was Mode anging.
Wie immer schnappte sich Lee nur ein Brötchen und
versuchte dann so schnell wie möglich zu verschwinden. Erst auf dem
Weg zu ihrer Freundin fühlte sie sich wieder wohl. Dort begegneten
ihr nur solche Menschen, die so wie sie waren, die die gleiche Kleidung
trugen und die gleiche Sprache redeten.
Ihre Freundin, Reggie - eigentlich Regina, aber sie hasste
diesen Namen - hatte zusammen mit einer anderen Kollegin eine kleine Wohnung.
Lee beneidete sie darum. Ihre Eltern hatten ihr nicht erlaubt, wegzuziehen,
und solange Lee minderjährig war, konnten sie ihr das auch verbieten.
Aber sie hatte sich entschlossen, an ihrem achtzehnten Geburtstag gleich
in eine neue Wohnung zu ziehen. Nach mehreren Stunden gut zureden hatte
ihr das ihre Mutter auch erlaubt.
Jetzt klopfte sie an die Tür von Reggie und fühlte
sich gleich viel besser. Diese Wohnung hatte etwas an sich, das sie sich
immer besser fühlen liess. Es war, als ob die Wohnung an sich gute
Laune hatte und sie immer aufmuntern konnte, wenn sie Trost brauchte.
Reggie machte auf und sah schrecklich aus. Ihre wilden,
blonden Locken hingen ihr ungekämmt und unbeherrscht über die
Schultern hinab. Das Make-up war verschmiert, als ob sie geweint hätte.
Tatsächlich waren ihre Augen rot und hatten Tränensäcke.
Lee kam sofort hinein und fragte: „Was ist denn mit dir
passiert? Ist eine Dampfmaschine über dich hergefallen?“
Reggie zuckte leicht mit den Mundwinkeln. Es schien ihr
wirklich ganz und gar nicht gut zu gehen. War es etwa wegen Johnny? Sie
wusste doch, dass er schon eine Freundin hatte und sich nicht auf eine
andere einliess. Vor ein paar Tagen hatte Reggie Lee erzählt, dass
sie sich voll in ihn verknallt hatte und Lee redete es ihr gleich wieder
aus. Sie hatte geglaubt, dass es wirklich nur ein dummer Furz von ihr war,
aber scheinbar war die Sache noch nicht beendet. Vielleicht war sie ja
gestern bei ihm gewesen und er hatte sie abgewiesen. Das musste ihr den
Rest gegeben haben.
Plötzlich wurde Lee von hinten gepackt und eine
Hand hielt ihr den Mund zu. Ihre Augen weiteten sich und vor Schreck liess
sie ihren Schulrucksack fallen. Sie wollte schreien, und versuchte, den
Arm ein wenig von sich wegzuziehen, um nicht erwürgt zu werden.
„Sei still, verdammt noch mal“, flüsterte ihr jemand
ins Ohr. Es war ein Mann und sein heisser Atem blieb ihr genau ins Gesicht.
Sie probierte nur noch mehr zu schreien, doch die Hand
liess nicht locker.
„Sei still, oder ich bringe dich zum Schweigen“, drohte
der Mann weiter und ein Messer kam in ihr Blickfeld.
Ihr stockte der Atem. Was, zum Teufel, ging eigentlich
hier vor? Sie biss sich auf die Zunge und unterdrückte ihren Wunsch
zum Schreien.
„Gut so“, flüsterte er und zog langsam die Hand
von ihrem Mund, aber das Messer blieb. „Wenn ihr beide still seid und das
tut, was man euch sagt, wird euch nichts geschehen.“
Erst jetzt bemerkte Lee, dass Reggie ebenfalls von einem
Mann bedroht wurde, doch dieser hielt ihr eine Pistole an die Schläfen.
Darum war sie so verstört gewesen! Die Männern zwangen sie, so
zu tun, als wäre alles in Ordnung. Es hatte überhaupt nichts
mit Johnny zu tun.
Sie wurde grob zu Reggie hin gestossen und stolperte
dabei fast über ihre vom Schreck bewegungsunfähigen Beine. Der
Mann, der sie bedrohte, war schon ziemlich alt, jedenfalls sah er so aus.
Vermutlich war er um die Vierzig, aber seine Haare waren zumindest an den
Schläfen schon grau. Er hatte sie mit Gel nach hinten gekämmt
und sah nun genauso aus wie einer dieser Mafia-Typen, die sie immer im
Fernsehen sah. Zusammen mit dem schwarzen Anzug konnte die Beschreibung
gut passen.
Er musterte Lee von oben bis unten. Auf seinen Lippen
lag ein leichtes Grinsen. Seine Hände spielte noch immer mit dem Messer.
„Was wollen Sie von uns?“ fragte sie eingeschüchtert,
voller Angst und trotzdem noch tapfer.
Das Grinsen wurde breiter. „Ich will gar nichts“, meinte
er und kam ein paar Schritte näher. Sie wollte zurückweichen,
doch sie prallte gegen den anderen Mann.
„Mein Boss will etwas“, fuhr er fort und liess dabei
seinen Blick immer wieder über ihren Körper wandern. Sie fühlte
sich nackt und ausgestellt, diesem Mann vollkommen ausgeliefert. „Aber
das erfahrt ihr erst, wenn wir bei ihm sind.“
Er löste sich nur ungern von ihrem Anblick, aber
er drehte sich um und winkte zur Tür, gerade als jemand mit lautem
Gelächter sich daran machte, das Schloss zu öffnen.
„Wer ist das, zum Teufel?“ fuhr er Reggie an.
Stotternd brachte sie heraus: „Meine Mitbewohnerin.“
Sie wurden in Reggies Zimmer gestossen. „Keinen Ton oder
ihr seid tot.“
Der Mann mit der Pistole sah durch einen Spalt in der
Tür. Er sah, wie die Mitbewohnerin, Sarah hiess sie, mit einem ihrer
vielen Eroberungen hereinkam. Sie schmusten dauernd wieder.
„Ist deine Freundin nicht hier?“ fragte der Freund zwischen
den heftigen Küssen Sarahs.
„Nein, die ist in der Schule“, antwortete sie und zog
ihn immer weiter in ihr Zimmer hinein. Sie schlossen immer noch kichernd
und schmusend die Tür hinter sich.
Der Mann an der Tür grinste den anderen an. Dieser
gab ihm einen freundschaftlichen Schlag auf den Kopf.
„Du denkst immer nur an das eine“, flüsterte er
und drehte sich sofort wieder drohend zu Lee und Reggie um. „Jetzt kommt
mit, aber leise, wenn ich bitten darf.“
Er zog Reggie am Arm hoch und der andere nahm Lee. Sie
führten sie hinaus, zum schwarzen Lieferwagen, der an der Ecke stand.
Sofort sprangen zwei Männer aus dem Führerhaus und öffneten
die Hintertüren. Sie trugen die gleichen Anzüge wie die zwei
ersten Männer schon.
Reggie und Lee wurden in den Wagen hinein geschoben.
Die ersten gesellten sich zu ihnen, während die anderen sich wieder
vorne hinsetzten und mit quietschenden Reifen losfuhren. Lee und Reggie
wurden durchgeschüttelt, aber irgendwie gelang es ihnen trotzdem,
die zwei Pistolen, die auf sie gerichtet waren, im Auge zu behalten.
Die Männer legten ihnen Handschellen an. Etwas tief
in Lee drin fand das alles wahnsinnig aufregend. Sie wurde entführt,
wie in einem Film, mit Handschellen und Waffen und Mafia-Typen, die mit
ihren Messern herumfuchtelten. Ein anderer, wesentlich grösserer Teil,
hatte Angst wie noch nie zuvor. Sie konnte nicht glauben, dass sie entführt
wurde. Sie war nichts und hatte nichts. Warum waren ausgerechnet sie beide
ausgesucht worden? Das machte doch einfach keinen Sinn.
„Was wollen Sie von uns?“ fragte sie noch einmal und
versuchte dabei stark zu sein, keine Angst zu zeigen, obwohl sie wusste,
dass auch ein Blinder sehen könnte, wie sehr sie sich fürchtete.
Der Mann mit den grauen Schläfen blickte ihr grinsend
direkt ins Gesicht. „Du wiederholst dich. Aber ich will dir antworten.
Mein Chef will Lösegeld für euch beide.“
Sie zog die Augenbrauen zusammen und versuchte, nicht
zu weinen. „Aber warum wir?“ Der Mann zuckte mit den Schultern und blieb
stumm. Vielleicht wusste er es selbst nicht.
Reggie drückte sich fest an Lee, als ob sie sie
beschützen könnte. Sie schluchzte in ihre Schulter hinein. Nur
mit Mühe gelang es Lee, nicht ebenfalls zu weinen, aber ihr liefen
die Tränen auch aus den Augen, wenn es auch nur ganz langsam, eine
nach der anderen.
Die Fahrt dauerte nicht lange. Sie wurden in ein grosses
Lagerhaus gebracht. Es war sozusagen leer, nur ein paar Kisten und Container
standen herum. In einer Ecke stand ein Bürotisch, der mit den neusten
Computern ausgerüstet war. Ein paar Männer standen um ihn herum,
beachteten aber Lee, ihre Freundin und ihre Entführer nicht, als sie
hereinkamen.
Sie gingen auch nicht zu ihnen, sondern durch eine weitere
Tür, die in ein kleines Zimmer führte. Ein Bett mit ausgeleierter
Matratze und einem kaputten Gestell stand in einer Ecke. Es war total verrostet
und machte nicht den Eindruck, dass es das Gewicht eines Menschen aushalten
würde. Weiter stand eine kleine hölzerne Kommode im Zimmer, aber
sie war mit Schimmel bezogen. Der Fussboden war aus Stein und dreckig.
Dieses Zimmer hatte schon längere Zeit keine Menschenseele mehr gesehen.
Die Handschellen wurden gelöst, aber nur um an eine
Stange an der Wand angemacht zu werden. Reggie und Lee wurden gezwungen,
auf den kalten, schmutzigen Boden zu sitzen. Die Mafia-Männer gingen
hinaus und schlossen die Tür ab.
Reggies Tränen vermehrten sich sofort und sie fing
an zu jammern. „Oh Lee, was geschieht hier nur? Was ist nur passiert? Warum
wir? Wir haben doch nichts getan.“
Lee versuchte, sie zu beruhigen, aber sie stellte sich
die gleichen Fragen und fand auch keine Antworten darauf. Sie legte Reggies
Kopf an ihre Brust und strich beruhigend darüber. Das war das einzige,
was sie tun konnte.
Die beiden Männer gingen zum Tisch mit dem Computer
und den anderen Männer. Wie zu erwarten war, surften sie auf dem Internet
herum, und sahen sich die neusten Nacktfotos von bekannten und unbekannten
Personen an. Dabei grölten sie dauernd.
Die beiden Männer gesellten sich dazu und lachten
mit. Sie waren eine rohe Bande, die sich nicht erlauben konnten, richtige
Freundinnen zu haben und sich so immer mit Nutten oder willigen - manchmal
auch unwilligen - Frauen begnügen mussten. Würde einer von ihnen
mit einer Freundin antanzen, könnte er gleich wieder gehen. In dem
Geschäft, in dem sie waren, mussten sie auf Liebe und Freundschaft
verzichten, zumindest zwischen Männern und Frauen. Sie zusammen war
die besten Freunde und jeder würde sich für den anderen töten
lassen.
„Hey Donnie, hast du hier schon gesehen? Die ist echt
scharf!“ rief einer der Männer dem Mann mit den grauen Schläfen
zu.
Dieser grinste nur. „Hört doch endlich damit auf.
Der Boss kommt gleich. Dem wird nicht gefallen, wenn ihr nur vor diesem
Ding sitzt und nichts gescheites tun. Wir haben schliesslich Gäste!“
Unbeeindruckt, aber trotzdem gehorchend, stellen sie
den Computer ab und machten sich an Arbeiten, die sie gerade eben erfanden,
um beschäftigt auszusehen, wenn der Boss zurückkam.
Und als hätte Donnie es vorausgesehen, kam er wirklich
ein paar Minuten später. Er war schon ein älterer Mann, seine
besten Jahre hatte er längst hinter sich gelassen. Doch noch immer
wirkte er imposant und keiner der Männer würde es wagen, mit
ihm Streit anzufangen. An seinem Bauch zeigten sich leichte Fettpölsterchen,
aber in seiner Jugend musste er schlank und sehr gut ausgesehen haben.
Sein Gesicht war ein bisschen zu rund und die Nase zu klein im Verhältnis,
aber sonst zeigten sich auch jetzt noch Züge, die von einem schönen
Mann stammten. Seine dunklen, fast schwarzen Augen waren wachsam und sein
Haar, dass schon fast vollkommen weiss war, bildeten einen anziehenden
und fast ein wenig mysteriösen Kontrast dazu. Sein Anzug war massgeschneidert,
und sass ihm perfekt. Er verdeckte die kleine Rundung am Bauch fast vollkommen.
Da der Boden der Halle sauber und verdreckt war, fielen seine glänzenden
Schuhe positiv auf. Die helle Licht widerspiegelte sich in ihnen.
Er kam mit ruhigem Gang auf die Männer zu. Sie grüssten
ihn alle freundlich, bevor sie sich wieder ihren ‚Arbeiten‘ zuwandten.
Der Boss rief Donnie und den anderen Mann zu sich. „Ist alles glatt gelaufen?“
Donnie nickte. „Sie haben sich nicht gewehrt. Ich denke,
wir werden keine Schwierigkeiten mit ihnen haben, Sir.“
Der Boss nickte. „Das ist gut. Und sollten sie fliehen,
mache ich euch beide dafür verantwortlich, klar?“
Die beiden nickten. Das war klar und deutlich gewesen.
Keinem von ihnen würde es einfallen, die beiden Mädchen fliehen
zu lassen. Sie hatten zwar keine Ahnung, was der Chef mit ihnen wollte,
aber sie waren sehr wichtig. Und wenn sie flohen, bedeutete das ihren Kopf.
Der Boss ging in sein kleines Büro, das direkt an
das Zimmer grenzte, in dem die beiden Mädchen waren.
Donnie wandte sich seinem Partner zu. „Du übernimmst
die erste Wache, Ricardo. Ich löse dich dann so gegen Mittag ab.“
Der Mann nickte und setzte sich an den Computer. Dort
tippte er einen Befehle ein und daraufhin erschien das Bild von dem Zimmer,
in dem die ‚Gäste‘ waren. Sie sassen noch immer am Boden. Wie könnten
sie auch anders, wenn ihre Hände an der Stange am Boden angemacht
waren? Sie stützten sich gegenseitig und weinten.
Ricardo verdrehte die Augen. Dass diese Weiber auch immer
weinen mussten! Es war ihm rätselhaft, dass sie so viele Tränen
hatten.
Er legte die Beine auf den Tisch und nahm sein Buch,
das auf dem Tisch lag. Es war ein Kriminalroman. Er war verrückt nach
solchen Büchern, vor allem seitdem er selbst ein Mitglied dieses Geschäfts
war. Eigentlich hatte er zwar Polizist werden wollen, aber er hatte herausgefunden,
dass man auf der anderen Seite wesentlich mehr verdiente und es spannender
war. Schon alleine immer darauf gefasst zu sein müssen, dass die Polizei
das Lagerhaus stürmten, war ein gewisser Reiz. Er liebte das, was
er machte und würde es nie gegen etwas anderes eintauschen.
Die Mädchen regten sich nicht. Das war gut. Dann
konnte er sich in aller Ruhe seinem Buch widmen.
Gegen Mittag löste Donnie Ricardo wie versprochen
ab. Der Boss war nicht aus seinem Büro gekommen, doch Donnie wusste,
dass er in der ganzen Gegend herum telefoniert hatte. Es war ihm nie klar
gewesen, warum er das tat, aber dem Boss erschien es wichtig.
So nahm er die Haltung von Ricardo am Tisch ein, und
starrte auf dem Bildschirm. Die Wartezeit nach einer Entführung war
immer am langweiligsten. Zuerst mussten die Eltern merken, dass sie nicht
mehr da waren. Das ging manchmal ziemlich lange.
Er seufzte und stand wieder auf. Der Mann, der ihm das
Essen bringen sollte, war wieder da und drückte ihm eine Tüte
in die Hand. Er nahm sie und ging damit zum Zimmer der Gefangenen.
Als er die Tür öffnete, starrten sie ihn immer
noch vollkommen verängstigt an und drückten sie enger aneinander.
Ihre Augen waren trocken, aber wahrscheinlich nur, weil sie schon den ganzen
Vormittag über geweint hatten.
„Keine Sorge. Ich bringe euch nur etwas zu essen“, sagte
er mit einem leichten Lächeln. Er kam zu ihnen hin und setzte sich
vor sie auf den Boden. Während er die Tüte auspackte, spürte
er die ängstlichen und verwirrten Blicke auf sich, aber er sah nicht
auf.
Sein Kollege hatte ihnen Brot, Äpfel und sonstiges
Zeug gebracht. Sie sahen es mit hungrigen Augen an. Lee hat am Morgen noch
überhaupt nichts gegessen - sie hatte bei Reggie essen wollen - und
diese wurde am Morgen von diesen Männern aus dem Bett geholt worden.
Aber sie beide wollten nicht essen. Sie konnten nicht essen, vor Angst,
was noch mit ihnen geschehen konnte.
Donnie sah sie an und fragte dann: „Kein Hunger?“
Er zog dabei so die Stirn hoch, als sei er erstaunt darüber.
Dabei musste er doch wissen, dass man in so einer Situation nicht mehr
essen konnte. Er musste es doch schon mehrere Male erlebt haben.
„Na gut, ich lasse es euch da“, sagte er und stand wieder
auf. Nach kurzem Zögern fügte er hinzu: „Keine Angst, es ist
nicht vergiftet. Wenn wir euch töten wollten, hätten wir andere
Mittel.“ Er lächelte aufmunternd, wie ein Lehrer seine Schüler
aufmuntern würde, nachdem sie schlechte Noten geschrieben hatten,
nicht wie der Entführer zu den Entführten.
Lee hob die Augen und sah den Mann an. Sie zitterte vor
Angst, aber trotzdem fragte sie: „Warum halten Sie uns hier fest?“
Donnie drehte sich wieder um. Er hatte die Braune zusammengezogen,
als müsse er überlegen, was sie damit meinte. „Warum? Weil wir
euch entführt haben“, gab er zur Antwort.
„Aber warum? Wir sind dem Staat keinen Cent wert!“
Donnie begann laut zu lachen. Reggie klammerte sich erschrocken
an Lee und starrte ihn an. Auch Lee erschrak. Was war so komisch daran?
Was hatten sie schon? Warum ausgerechnet sie beide?
Er erholte sich langsam wieder und gluckste nur hin und
wieder. Er hielt sich den Bauch und wischte sich die Tränen aus den
Augen. „Das ist wirklich ein guter Witz. Wirklich. Der beste, den ich seit
langem gehört habe.“
Damit er ging er hinaus, immer noch leise lachend. Die
Tür fiel mit einem lauten Knall ins Schloss. Reggie sah Lee an und
sie war wieder den Tränen nahe. Lee nahm sie in die Arme, so gut das
ging, da ihre eine Hand an dieser verdammten Stange angemacht war. Sie
zerrte immer wieder daran, aber sie schürfte sich nur die Hand auf
und machte sich selbst weh. Die Stange würde halten. Es hatte keinen
Sinn, trotzdem zu versuchen, sie loszureissen. Ausserdem war da noch diese
Kamera in der Ecke.
„Es wird uns nichts geschehen, bestimmt nicht. Sie brauchen
uns,
um ihre Forderungen zu unterstützen. Sie werden uns nichts machen“,
versuchte Lee ihre Freundin zu beruhigen, aber es half nicht viel.
Sie beide rührten nichts von dem Essen an. Sie hatten
keinen Hunger. Es lag vor ihnen und die Fliegen hatten ihre Freude daran.
Sie surrten umher und gingen Lee wahnsinnig auf den Nerv. Die Fliegen waren
frei und sie musste hier herum hocken und warten, dass endlich mal etwas
passierte. Sie wünschte sich nichts mehr, als dass etwas geschah,
egal was. Es konnte auch etwas schlimmes sein, das war immerhin besser
als gar nichts.
Mehrmals war der Mann wiedergekommen, hatte gefragt,
ob sie nicht endlich etwas essen wollen oder aufs Klo müssten. Er
war sehr freundlich, und sie konnten fast vergessen, dass sie hier Gefangene
waren, wären da nicht noch die Handschellen gewesen, die sie an den
Boden fesselten.
Die Tür ging wieder auf, doch diesmal kam nicht
nur Donnie herein, sondern auch ein älterer Mann in einem teuren Anzug.
Er blieb kurz stehen, musterte sie und zog sich dann einen Stuhl heran.
Sie starrten ihn beide erschrocken an.
„Darf ich mich vorstellen? Mein Name ist Robert Mulroney.
Ich bin der Sicherheitschef der USA. Ich habe veranlasst, Sie beide zu
entführen.“
Lee richtete sich ein bisschen auf. Das war also der
Mann, der Schuld an diesem ganzen Schlamassel war. Der Sicherheitschef
persönlich. Sie wusste, dass es im Weissen Haus nicht immer ganz korrekt
vor sich ging, aber dass der Sicherheitschef Leute entführte, das
hätte sie echt nicht gedacht.
„Ich habe eigentlich gedacht, dass Sie sich bewusst sind,
warum wir Sie entführten, aber Donnie erzählte mir, dass Sie
immer fragten. Sie scheinen keine Ahnung von allem zu haben.“
Tatsächlich wusste sie nicht, wovon dieser Mann
hier sprach. Donnie hinter ihm musterte sie und Mitleid schwang in seinem
Blick mit. Reggie wusste nicht, warum, aber sie bedankte es ihm mit einem
leichten Lächeln, das er erwiderte.
„Warum sagen Sie uns nicht einfach, warum ausgerechnet
wir beide?“ fragte Lee verzweifelt. Seit Stunden hatte sie diese Frage
Donnie gestellt, und jetzt war da jemand, der sie beantworten konnte, es
aber wahrscheinlich nicht tat.
Mulroney sah nicht so aus, als sei er jemand, mit dem
sich verhandeln liesse. „Was wissen Sie von Ihren Eltern, Lee?“ stellte
er als Gegenfrage.
Sie runzelte die Stirn. „Was hat das damit zu tun?“
Mulroney war nicht wütend, aber der Ton in dem er
sagte, dass sie seine Frage beantworten soll, war genug um zu zeigen, dass
es nicht mehr lange ging und er die Geduld verlor.
„Sie sind meine Eltern. Was meinen Sie mit dieser Frage?“
Lee war verwirrt. Was hatten ihre Eltern mit dieser Entführung zu
tun? Wollten sie vom Staat Geld für sie erpressen und hatten sie Mulroney
dafür bezahlt? Nein, ihre Eltern wären nicht dazu fähig.
Warum sollten sie ihrem eigenen Kind Angst machen? Sie verstanden sich
nicht immer gut, aber Lee wusste, dass sie sie liebten, egal, wieviel Streit
zwischen ihnen war.
„Sie sind Ihre Eltern? Sind Sie sicher?“ fragte Mulroney
zurück und sah sie zweifelnd an.
Er glaubte ihr nicht. Warum sollten ihre Eltern nicht
ihre Eltern sein? Sie konnte nur weiter die Stirn runzeln.
„Nun, dann haben ihre Eltern Sie belogen. Sie haben Sie
adoptiert, als Sie ein Baby waren. Genauso wie bei Ihnen, Regina. Sie scheinen
beide keinen Ahnung zu haben, wer Ihre wirklichen Eltern sind, nicht?“
Reggie sah Lee an und für einen Augenblick war in
ihren Augen deutlich zu lesen, dass sie dachte, dieser Mann sei vollkommen
verrückt. Lee war sich dessen nicht so sicher. Warum sollte er ihnen
Lügen erzählen? Es machte viel mehr Sinn, wenn es nicht ihre
leiblichen Eltern waren. Vielleicht war irgendein Star der Vater oder die
Mutter von ihnen, eine berühmte Persönlichkeit, die genug Geld
hatte, um ein Lösegeld zu bezahlen. Ja, so wurde alles viel klarer.
„Wer sind unsere Eltern?“ fragte Lee und musste entsetzt
feststellen, dass sie neugierig war. Nichts in ihn war erschrocken darüber,
dass ihre Eltern sie fast achtzehn Jahre lang angelogen und ihr nicht erzählt
hatten, wer sie wirklich war. Sie fragte sich nur, wer nun ihr richtiger
Vater und ihre richtige Mutter war.
„Ihre, Lee, werden Sie vermutlich ziemlich gut kennen.
Jeder in Amerika kennt sie. Und Sie, Regina, werden Ihren Vater bestimmt
auch kennen, vielleicht sogar auch Ihre Mutter.“
Das half ihnen beiden nicht weiter. Reggie machte nun
endlich auch einmal den Mund auf und fragte: „Wie heissen sie?“
Ihre Stimme klang kräftig und mutig, und Lee beneidete
sie fast ein bisschen darum. Sie tönte so, als habe sie keine Angst
mehr, ganz im Gegensatz zu ihrer Stimme, die immer noch zitterte und schwankte.
„Wollen Sie das wirklich wissen, Regina? Wollen Sie sich
nicht überraschen lassen, bis die Übergabe stattgefunden hat
und Sie vor ihnen stehen, sie in die Arme schliessen können?“
Reggie schüttelt den Kopf. „Nein, ich will ihre
Namen wissen“, sagte sie fest und sah ihn so an, dass er darüber staunte.
Er lächelte leicht. „Okay, ich werde es Ihnen sagen.
Sie sind die Tochter von Skeet McGowan, dem Schauspieler. Ihre Mutter ist
ein frühere Freundin von ihm. Sie haben sich getrennt, als sie ihr
Baby behalten wollte, während er sich für seine Karriere entschied.
Sie hat Sie dann aber trotzdem zur Adoption freigegeben. Ihr Name ist Jamie
Campbell. Sie ist Schriftstellerin.“
Reggie starrte den Mann nicht mehr an. Ihre Augen weiteten
sich und sie sah durch Lee hindurch. Dieser Skeet McGowan war einer ihrer
Lieblingsschauspieler. Sie hatte mehrere Poster von ihn ihrem Zimmer aufgehängt.
Lee konnte es genauso wenig fassen wie Reggie. Ihre Angst
war verflogen. Wenn ein solch berühmter Schauspieler Reggies Vater
war, wer war dann ihrer? Mulroney sagte, jeder in Amerika kennt ihre Eltern.
„Wie heissen meine Eltern?“ fragte Lee und zu ihrer Überraschung
tönte ihre Stimme nun stärker, kräftiger.
Mulroney schien Spass daran zu haben, zuzusehen, wie
die beiden verängstigten jungen Frauen sich vor seinen Augen zu starken,
ein wenig erschrockenen jungen Damen entwickelten, die total vergassen,
dass sie in seiner Gewalt waren. „Es sind Mister und Misses Leard, die
Präsidentenfamilie. Die beiden waren noch nicht verheiratet, als Sie
auf die Welt kamen, und nach den etwas aus der Mode geratenen Traditionen
ist es sehr unschicklich, ein uneheliches Kind zu bekommen, also wurden
Sie ebenfalls zur Adoption freigegeben. Sie haben erst Jahre später
geheiratet, als Mr. Leard seine Karriere als Politiker begonnen hat.“
Nun war Lee an der Reihe mit Erstarren. Sie hätte
damit gerechnet, dass es irgendein berühmter Schauspieler und irgendein
Model oder so etwas waren, aber nicht die Präsidentenfamilie. Das
war einfach unglaublich. Sie konnte nicht die Tochter der berühmtesten
Personen der ganzen Welt sein.
Donnie beobachtete die beiden jungen Frauen, die nun
starr vor Schrecken waren und sich kaum mehr rührten. Nur ihre Augen
irrten hin und her und versuchten etwas zu finden, an dem sie sich festklammern
konnten. Reggies Blick fand den seinen und klammerte sich fest. Ihre Tränen
liefen Tropfen für Tropfen, langsam, aber stetig.
Lee war so erschrocken, dass sie ganz vergessen hatte
zu weinen. Das ganze war einfach zu unglaublich.
„Sie verarschen uns?!“ fragte sie nach einer Weile, obwohl
sie genau wusste, dass er keinen Grund dazu hatte. Es machte alles mehr
Sinn, wenn es wirklich so war.
„Nein, ich verarsche Sie ganz und gar nicht. Was glauben
Sie, warum ich sonst ausgerechnet Sie ausgewählt habe? Sicher nicht
aus reinem Vergnügen“, antwortete Mulroney und lächelte.
Donnie musterte Lee und Reggie. Sie taten ihm leid. Sie
hatten wirklich nicht gewusst, dass sie beide adoptiert waren und jetzt
wurden sie von eine Mann darauf aufmerksam gemacht, der für sie Lösegeld
forderte. Es war irgendwie nicht fair. Ihre Adoptiveltern hätten sie
informieren müssen. Aber jetzt war es zu spät.
Mulroney stand wieder auf. „Jetzt wissen Sie, warum ich
Sie entführen liess. Ihre Adoptiveltern haben unterdessen eine Vermisstenanzeige
aufgegeben, also werden wir uns morgen früh melden und unsere Forderungen
stellen.“ Er nickte ihnen zu und ging mit Donnie hinaus.
Reggie warf sich vollends ins Lees Arme und weinte.
„Es ist unglaublich“, flüsterte Lee leise und strich
ihr sanft über den Kopf, „Wir sollen tatsächlich adoptiert sein.
Er glaubt wirklich daran. Es ist einfach unglaublich.“
Sie selbst war nur erstaunt. Nichts in ihr erregte Schrecken
oder Angst. Eher Erstaunen, vielleicht sogar Freude. Sie war die Tochter
des Präsidenten, das konnte nicht jede von sich behaupten. Ihr fiel
ein, dass die Präsidentenfamilie noch einen Sohn hatte. Er war zwei
Jahre jünger als sie, aber er sah aus, als wäre er älter.
Er war ein Rebell, machte nie das, was seine Eltern von ihm verlangten
und präsentierte sich nur zu gerne der Öffentlichkeit. Er hatte
vor, Rocksänger zu werden.
Was würde er sagen, wenn er erfuhr, dass er eine
Schwester hatte? Würde er sie akzeptieren oder mit ihr genauso umspringen
wie mit seinen Eltern, die er schlicht weg nicht beachtete?
Reggie hörte langsam auf zu schluchzen. Sie wischte
sich trotzig die Tränen von den Augen. Ihre Angst war verschwunden.
Es war einfach zu unglaublich, dass Mulroney die Tochter des Präsidenten
und die von Skeet McGowan umbrachte. Das würde ihn zu einem Verbrecher
machen, der nirgendwo mehr sicher war. Er würde in keinem Land mehr
Asyl bekommen. Das brachte ein wenig Sicherheit. Mulroney würde sein
Geld bekommen und sie waren wieder frei.
„Weisst du, an was ich gerade denken musste?“ fragte
sie Lee nach einer Weile. Diese schüttelte den Kopf.
„Als wir noch Kinder war, haben wir gespielt, dass unsere
Eltern berühmt waren. Wir stellten uns vor, wie wir immer im Mittelpunkt
standen. Dass immer Reporter um uns herum waren.“
Lee konnte sich gut daran erinnern. Sie beide kannten
sich, seit sie Kinder waren und als sie etwa zehn oder elf waren, spielten
sie diese Spiele. Sie schminkten sich mit dem Schminkzeug ihrer Mütter
und taten so, als würden sie Interviews geben. Hätten sie gewusst,
dass das jetzt alles Wirklichkeit wurde, hätten sie das nicht gespielt.
Dann hätten sie sich in ihrem Zimmer eingesperrt und wären am
liebsten nicht mehr hinaus gekommen.
„Glaubst du, dass wir unsere Freunde wieder einmal sehen
werden?“ fragte sich Reggie weiter.
„Denkst du da an jemanden bestimmten?“ fragte Lee zurück
und lächelte leicht.
Reggie musterte sie erstaunt und lachte dann auch. „Du
meinst Johnny. Jetzt hätte ich wenigstens eine Chance bei ihm. Nein,
eigentlich meine ich alle unsere Freunde. Jetzt könnte ich ja nicht
mehr sicher sein, ob Johnny mich überhaupt noch meinetwegen will.“
Da hatte sie recht. Bei jedem Jungen, mit dem sie in
den folgenden Jahren ausgehen würden, mussten sie sich fragen, ob
er sie nur ihrer Eltern wegen wollte. Das war bestimmt ein grosser Nachteil,
wenn man berühmte Eltern hatte.
Lee nickte leicht. „Ich würde auch gerne unsere
Freunde wiedersehen. Aber ich denke, unser Leben wird sich jetzt ganz drastisch
ändern.“
Seufzend lehnte sich Reggie an die Wand. „Aber weisst
du, was gut ist? Wir müssen uns nicht mehr mit diesen Lehrern abplagen,
die glauben, dass sie mit uns tun können, was sie wollen.“
Lächelnd nickte Lee. Ja, ihre Lehrer hatten wirklich
das Gefühl, dass sie die besten waren und darum allen so viele Strafaufgaben
und Extrastunden verteilen konnten, wie sie wollten. Wenn sie jetzt weiter
in die Schule gingen, dann kamen sie zu Lehrern, die sehr von der Gunst
ihrer Schüler abhängig waren.
Reggie seufzte erneut. „Ich habe mir oft vorgestellt,
wie es ist, entführt zu werden. Bei mir war alles horrormässig,
aber hier haben sie uns noch nicht einmal geschlagen. Irgendwie ist diese
Entführung sowieso harmlos, wenn man bedenkt, was wir gerade erfahren
haben.“
Lee war erstaunt darüber, dass Reggie so darüber
dachte. Vor ein paar Stunden wäre sie - eigentlich sie beide - noch
fast vor Angst gestorben und jetzt sagten sie: Ist ja alles nicht so schlimm.
Mit wiedergefundenem Appetit griff sie nach einem Apfel
und biss hinein. „Wenn wir schon hierbleiben sollen, dann wenigstens mit
vollem Magen.“
Reggie lächelte.
Später in der Nacht kam Donnie zurück. Er wirkte
scheuer als vorher. Sie wussten beide nicht genau, an was es lag, aber
irgendwie hatte er jetzt mehr Respekt vor ihnen. Vielleicht hatte es ihn
beeindruckt, wie sie das Geständnis von Mulroney aufgenommen hatten.
Er löste ihre Handschellen und sagte ihnen, dass
sie das Lager wechseln. „Wir gehen an einen bequemeren Ort. Ihr sollt euch
nicht beklagen, dass ihr es nicht bequem gehabt habt“, meinte er grinsend
und zeigte zur Tür.
Donnie hatte weder einen Revolver noch ein Messer dabei
und die ganze Lagerhalle draussen war leer. Er vertraute ihnen. Lee war
Reggie einen Blick zu. Trotz der Freundlichkeit, mit der sie hier behandelt
wurden, wollte sie nicht länger als nötig hierbleiben. Wenn sie
die Chance zur Flucht hatten, wollten sie sie nutzen.
Fast völlig unmerklich nickte Reggie leicht. Donnie
führte sie bis durch die ganze Halle bis zur Tür. Dort konnten
sie den Lieferwagen sehen, der mit hellen Lichtern auf seine Passagiere
wartete.
Ohne die Handschellen war alles viel leichter. Sie konnten
davon rennen und sich irgendwo verstecken. Hier war ein solches Durcheinander
von Containern und Kisten, dass sie Stunden brauchen würden, um sie
zu finden, und bis dahin waren sie längst abgehauen.
Reggie warf Lee noch einmal einen Blick zu. Sie stimmten
miteinander überein. Jetzt oder nie!
Mit grossen Schritten rannten sie in zwei verschiedene
Richtungen davon. Eine Sekunde lang war Donnie vollkommen verblüfft,
dass sie es wagten, zu fliehen, doch dann setzte er Reggie nach. Er schrie
nach seinem Kollegen im Wagen, der schon längst ausgestiegen und Lee
nachgerannt war.
Doch es war dunkel, und es hatte keine Lampen, die das
ganze Gelände beleuchteten. Sie konnten nichts sehen, weder Lee und
Reggie noch die beiden Entführer.
Mehr stolpernd als rennend bahnte sich Lee ihren Weg
durch dieses verwirrende Labyrinth und versuchte dabei nicht allzuviel
Lärm zu machen. Hinter sich konnte sie die Schritte hören und
den laut schnaufenden Atem ihres Verfolgers.
Ihr Atem ging ebenfalls schnell. Sie duckte sich hinter
einen Container und hörte, wie die Schritte näher kamen. Wenn
er gemerkt hatte, dass sie angehalten war, würde er sie sicher finden,
aber wenn nicht, dann rannte er an ihr vorbei und sie konnten sich ihren
Weg sorgfältiger suchen.
Er rannte vorbei, ohne zu zögern. Erleichtert atmete
Lee tief durch und stand langsam wieder auf. Aus der Richtung, aus der
sie gekommen war, hörte sie laute Schreien und einen riesen Tumult.
Ihre Flucht hatte alle aufgeweckt und sie schwärmten jetzt mit Taschenlampen
aus, um sie wieder einzufangen.
Sie rannte weiter und hoffte, in die richtige Richtung
zu laufen. Da sie ja keine Ahnung hatte, wo sie genau war, konnte sie auch
nicht sagen, wie weit es bis zur nächsten Stadt war, aber sie hoffte,
dass es nicht allzu weit war. Und wenn doch, musste sie eine Nacht im Freien
übernachten. Daran würde niemand sterben, schon gar nicht im
Sommer.
Reggie rannte schnell durch das Wirrwarr und wich den
Kisten aus. Sie glaubte, Schritte hinter sich zu hören, war aber nicht
sicher, ob sie sich das nicht nur einbildete. Doch sie wagte es nicht,
stehenzubleiben. Sie würde dadurch wichtigen Vorsprung verlieren.
Ihre Sicht war extrem eingeschränkt und sie strauchelte
immer wieder über Holzstücke oder sonstige Dinge, die am Boden
herumlagen. Die Schrammen, die sie sich dabei holte, beachtete sie gar
nicht. Sie waren nicht so wichtig, wenn man sie mit der Freiheit verglich.
Bis zum nächsten Dorf konnte es nicht mehr weit sein. Sie waren von
ihr zu Hause bis hierhin nur wenige Minuten gefahren. Irgendwo würde
es hier sicher ein Telefon geben.
Die Schritte hinter ihr schienen näher zu kommen.
Bildete sie sich das jetzt ein oder nicht? War da wirklich jemand hinter
ihr? Als der jemand zu fluchen begann, weil er hingefallen war, war sie
sicher, dass sie es sich nicht nur einbildete. Sie forderte ihre Beine
auf, schneller zu laufen, aber sie konnte einfach nicht.
Sie hörte einen Schuss und zuckte zusammen. War
der für sie gemeint gewesen? Oder etwa für Lee? Nein, wohl kaum,
eher als Warnung, denn wenn sie tot waren, waren sie nichts mehr wert.
Plötzlich spürte sie, wie sie jemand am Arm
packte und zu Boden riss. Sie schrie vor Erschrecken auf. Ihre Arme wurden
auf den Rücken gehalten und Handschellen klickten erneut zu.
„Das war nicht sehr schlau, Reggie“, flüsterte Donnie
schwer atmend, „Wirklich überhaupt nicht schlau.“
Eigentlich war es ihr völlig egal, ob es schlau
gewesen war oder nicht. Es war ein Versuch gewesen, eine winzige Chance,
die sie hatten nutzen müssen. Was kam es darauf an, ob es schlau gewesen
war? Wenn es geklappt hätte, wäre es schlau gewesen? Sie konnte
nichts dafür, wenn er schneller war als sie.
Er half ihr, sich aufzurichten und hielt sie dabei am
Arm fest, so dass es fast weh tat. „Ich habe geglaubt, dass ich euch vertrauen
kann“; flüsterte er und war in seinem Stolz verletzt. Er hatte geglaubt,
sie würden nicht fliehen, weil sie gut behandelt wurden. Aber sie
hatten sein Vertrauen missbraucht.
„Das war nicht schlau von Ihnen“, gab Reggie zurück.
Sie konnte das auch sagen. Er hätte ihnen ja nicht vertrauen müssen.
Es war seine Schuld.
Donnie lachte leise. „Das stimmt. Ich werde dafür
auch genug büssen müssen. Mulroney wird mir den Kopf abreissen,
wenn wir Lee nicht auch wieder finden.“
Tonlos zog Reggie die Lippen auseinander. Dann würde
Donnie bald um einen Kopf kleiner sein als jetzt.
Lee war im Wald aufgewachsen. Bevor sie beide sich kennengelernt
hatten, war sie eigentlich immer im Wald herumgestreunt und hatte sich
vor den Spaziergänger versteckt. Wenn sie ein Eichhörnchen sah,
konnte sie so nahe an es rankriechen, bis sie es fast mit der Hand berühren
konnte. Sie würde sich in diesem Labyrinth wie Zuhause fühlen.
Keiner würde sie finden.
Bestimmt konnte Lee bald Hilfe rufen und dann würde
die Polizei alle festnehmen. Es war nur noch eine Frage der Zeit, bis auch
Reggie wieder frei war.
Mit leisen, vorsichtigen Schritten tastete sich Lee durch
das Durcheinander aus Holz, Metall und Plastik. Es war eine Unordnung,
wie es sonst nur in ihrem Zimmer war. Alles war da und dort verstreut,
liess nur ab und zu ein wenig Platz frei, damit man hindurch gehen konnte.
Sie tastete sich mit den Händen ausgestreckt vorwärts
und fragte sich, wohin sie eigentlich ging. Alles war dunkel. Sie konnte
nur die leuchtenden Zeiger ihrer Uhr sehen, die ihr zeigten, dass es schon
fast Mitternacht war. Aber sonst schien nirgendwo ein Licht. Sogar der
Himmel war vollkommen verdunkelt. Vielleicht würde es zu regnen anfangen.
Sie sollte vielleicht anfangen, einen Unterschlupf zu suchen, damit sie
nicht total nass wurde.
Obwohl es Sommer war, hatte es merklich abgekühlt.
Ein kalter Wind strich um Lees nackte Arme und liess sie frösteln.
Sie schlang die Arme um sich selbst und ging ein bisschen schneller. Mit
der Bewegung würde sie wärmer bekommen.
Hinter ihr waren keine Schritte mehr hörbar. Eigentlich
war überhaupt nichts mehr hörbar, nur noch das Knirschen unter
ihren Füssen und das Rauchen des Windes. Sonst war es still, wie ausgestorben.
Lee fühlte sich nicht wohl. Sie war gerne in einem
Durcheinander, sogar, wenn es dunkel war, aber nur, wenn sie es kannte.
Ihren Wald zu Hause hatte sie in - und auswendig gekannt, das hier nicht.
Sie wusste nicht, in welche Richtung sie sich bewegte oder ob sie nur im
Kreis ging. Es war irgendwie unheimlich und herausfordernd zugleich. Wer
konnte schon wissen, was hier für dunkle Gestalten herumlungerten,
die nur darauf warteten, dass junge Mädchen wie sie sich verirrten?
Dann hätte sie es bei Mulroney und seinen Männern doch besser
gehabt.
Wütend sagte sie sich, dass sie sich selbst nur
Angst einjagte. Hier waren bestimmt keine Landstreicher, weil das Fabrikland
war. Es war Privatbesitz und war vermutlich mit einem dichten Zaun abgesperrt.
Jeder, der sich hier drauf wagte, konnte verklagt werden. Vielleicht war
es sogar verseucht, jedenfalls offiziell. Inoffiziell diente es als Abschreckung,
damit es niemand wagte, die Ruhe zu stören.
Vor ihr ertönte ein Geräusch. Sie blieb augenblicklich
stehen und bewegte sich nicht mehr. Was war das gewesen? Ein Tier? Ein
Mensch auf der Suche nach ihr? Reine Einbildung? Sie lauschte angestrengt,
doch es ertönte nicht wieder. Sie musste es sich eingebildet haben.
Donnie brachte Reggie zum Lieferwagen und machte ihre
Handschellen an die Stangen des Sitzes an. Sein Vertrauen war wie aufgelöst.
Er würde nicht noch einmal riskieren, dass sie fliehen konnte. Der
Ärger war jetzt schon gross genug. Wenn sie Lee nicht fanden ...
Mulroney war ein netter Mann, wenn man nett zu ihm, aber
er konnte Fehler nicht entschuldigen, vor allem nicht solche. Donnie hatte
wirklich genug Erfahrung, um zu wissen, dass man Gefangenen nicht vertrauen
konnte, und trotzdem. Irgendwie hatte er gedacht, diese beide seien anders.
Er konnte nicht beschreiben, warum er dieses Gefühl hatte, aber es
war da, auch jetzt noch.
Vielleicht lag es daran, dass sie zum ersten Mal so junge
Personen entführt hatten, die keine Ahnung hatten, warum sie entführt
wurden. Vielleicht lag es auch einfach daran, dass sie mit ihren unschuldigen
Augen in jedem Mitleid und Vertrauen weckten. Er konnte es nicht genau
sagen.
Der Fahrer des Wagens, der Lee nachgerannt war, war noch
nicht zurück. Was machte er nur so lange? Hatte er Lee noch nicht
gefunden? Donnie wurde langsam nervös, obwohl er wusste, dass es vielleicht
Morgen werden würde, bis er sie gefunden hatte. Am liebsten wäre
er ihm nachgerannt, aber er wusste ja nicht, in welche Richtung er rennen
müsste.
Seine Augen schweiften durch die Dunkelheit, aber sie
konnten nichts entdeckten.
„Donnie“ rief Reggie leise aus dem Wagen heraus. Er drehte
sich um und sah sie fragend an. Es war das erste Mal, dass sie seinen Namen
sagte, überhaupt das erste Mal, dass sie ihn ansprach.
„Was machen Sie mit mir, wenn Sie Lee nicht finden?“
Ihre Stimme klang ruhig, und irgendwie trotzdem ängstlich.
Donnie konnte in ihrer Stimme hören, dass sie nicht
alleine sein wollte. Sie wollte mit Lee zusammensein, um eine Gleichgesinnte
zu haben, mit der sie ihre Angst teilen konnte. Sie wollte einfach nicht
alleine das alles durchstehen müssen.
„Es wird Ihnen nichts passieren, Reggie. Mulroney ist
kein Mörder“, antwortete er tröstend und fragte sich dabei, warum
er so mit ihr sprach. Sie war eine Gefangene, und er war ein Söldner,
der angeheuert wurde, um sie zu bewachen. Er musste ihr ihre Angst nicht
nehmen. Das war nicht seine Aufgabe.
„Und was passiert mit Lee, wenn Sie sie finden?“
Er lächelte leicht. Was sollte schon mit ihr passieren?
Sie konnten ihr vielleicht eine Ohrfeige geben, wie einem kleinen Kind,
das Unsinn angestellt hat, aber mehr konnten sie nicht tun. Sie war schliesslich
ihre Geisel und es würde nicht viel Sinn machen, wenn sie sie umbringen
würden.
„Nicht mehr als Ihnen, keine Sorge. Ihnen beiden wird
überhaupt nichts geschehen. Mulroney selbst hat mir gesagt, dass Sie
es hier so schön haben sollen wie es nur geht. Er will hinterher keine
Klagen hören müssen.“
Reggie nickte. Was würde er machen, wenn der Präsident
- Lees Vater - alles bezahlte und sie wieder frei waren? Sie wussten, wer
er war und konnten ihn jederzeit identifizieren. Wohin wollte er fliehen?
Er würde nirgendwo Schutz finden können. Wollte er sie mit netten
Worten und einem schönen Aufenthalt, der Ferien glich, locken, um
den Mund zu halten?
Keiner würde auch nur so etwas in Erwägung
ziehen. Entführungen waren schreckliche Erlebnisse, auch wenn sie
nicht so schlimm waren. Man würde sie nie vergessen, und schon gar
nicht die Gesichter der Entführer. Und hatte man die Möglichkeit
zur Rache, würde man sie nutzen. Das war Reggie schon immer klar gewesen,
auch schon vor ihrer eigenen Entführung.
Donnie starrte wieder in die Dunkelheit hinaus, konnte
aber noch immer nichts sehen. Reggie unterdrückte ein leichtes Lächeln.
Sie wusste, dass Lee nicht gefunden werden würde. Sie konnten genauso
gut auch jetzt schon dort hinfahren, wo sie eigentlich hinwollten. Es hatte
keinen Sinn zu warten.
Die Nacht schien die Geräusche zu verschlucken.
Um sie herum war es total still, Reggie konnte nur den schnellen, nervösen
Atem Donnies hören, und seine Schritte, wie er unruhig umher ging.
Seine Zigarette in der Hand verglühte allmählich, ohne dass er
mehr als zwei Züge genommen hätte. Er hatte Angst vor der Reaktion
von Mulroney. Lee lief vielleicht gerade in diesem Moment zur Polizei und
bald wimmelte es hier nur so von Polizisten. Er hatte einen schweren Fehler
gemacht.
Plötzlich hörten sie von weitem lauten Atem.
Schritte wurden immer lauter. Donnie atmete auf und verspannte sich gleich
wieder. Er sprach leise mit dem Fahrer in einer fremden Sprache, die wie
Spanisch oder so etwas klang und fluchte dann laut.
Reggie lächelte. Sie hatten Lee nicht gefunden.
Dann würde bald alles gut werden. Sie konnte Hilfe holen, wenn es
sein musste, dann bei ihrem Vater selbst.
Donnie warf die Türe des Lieferwagens zu und es
wurde dunkler als es sowieso schon war. Reggie sah nichts mehr, aber jetzt
machte es ihr nicht mehr soviel aus. Sie wusste, dass ihre Gefangenschaft
hier nicht mehr lange gehen würde. Dann konnte sie ruhig noch einige
Zeit im Dunkeln verbringen. In der Dunkelheit konnte sie sowieso besser
nachdenken. Dann würde sie nicht von anderen Dingen abgelenkt.
Sie fuhren schnell weg. Der Boden war uneben und Reggie
wurde leicht hin und her geworfen. Doch das kümmerte sie herzlich
wenig.
Was wird mein Vater zu mir sagen, dachte sie, wird er
mich akzeptieren? Wird er abstreiten, dass ich seine Tochter bin, um einen
Skandal zu verhindern? Was wird er tun?
Lee ging unendlich lange, bis endlich die Sonne aufging.
Sie war strahlend schön und spendete Wärme. Lees Gesicht war
nass vor Schweiss und vom Tau, der während der Nacht gefallen war.
Ihre Kleider klebten an ihrem Körper und fühlten sich unendlich
schwer an. Sie hatte kalt und gleichzeitig heiss. Vermutlich wurde sie
noch krank. Zitternd schlang sie die Arme um sich und betrachtete die Sonne
mit zusammengekniffenen Augen.
Ihre Gedanken schweiften zu Reggie ab. War sie auch entkommen
oder hatte dieser Donnie sie erwischt? Lee wünschte ihr nichts mehr,
als dass sie auch hatte fliehen können, aber sie war sich nicht sicher.
Irgend ein dumpfes Gefühl sagte ihr, dass sie so schnell wie möglich
auf eine Polizeistation gehen musste, um Mulroney anzuzeigen. Das Problem
war nur, wie konnte sie das beweisen? Sie konnte nicht einfach zur Polizei
gehen und sagen, ich möchte Robert Mulroney anzeigen. Niemand würde
ihr glauben.
Suchend sah sie sich um. Weit im Osten - dort, wo die
Sonne aufging - war ein Wald, hinter dem nichts zu erkennen war. Links
und hinter ihr war das Wirrwarr, durch das sie die ganze Nacht gewandert
war. Und rechts war eine weite Ebene. Das einzige Haus, das sie sehen konnte,
hatte ein kaputtes Dach. Es war vermutlich verlassen, dort konnte sie keine
Hilfe bekommen.
Trotzdem war das die einzige Richtung, in die sie gehen
konnte. Sie hatte keine Lust, noch einmal durch einen Wald zu laufen. Auf
der Ebene hatte es sicher irgendwann eine Strasse, auf der ab und zu einmal
ein Auto fuhr. Und wenn nicht, führte sie bestimmt einmal in eine
Stadt, oder zumindest in ein Dorf. Dort bekam sie Hilfe und konnte ihren
Eltern - sie korrigierte sich in Gedanken, ihren Adoptiveltern - telefonieren.
Seufzend löste sie sich von der Sonne und drehte
sich nach rechts. Sie war müde und hatte Hunger, aber trotzdem ging
sie weiter. Was konnte sie anderes tun? Vielleicht wilde Tiere jagen und
sie zum Frühstück auf einem Feuer braten?
Ihr Fuss sank auf einmal in eine Grube. Sie schrie erschrocken
auf und versuchte, das Gleichgewicht zu halten, aber sie fiel hin. Eigentlich
wollte sie sich mit den Händen aufstützen, aber sie ruderte wild
mit ihnen, als habe sie das Gefühl, sie könne fliegen. Sie prallte
hart auf und schlug sich den Kopf an einem Stein an.
Es wurde alles schwarz um sie herum.
Der Lieferwagen fuhr mitten in die Stadt hinein und wieder
hinaus. Vielleicht fuhren sie sogar an ihrem Haus vorbei, aber genau konnte
Reggie das nicht sagen. Sie sah ja nichts. Im Führerhaus konnte sie
Donnie und der andere Mann wild diskutieren hören, was sie jetzt tun
sollten, wie sie das Mulroney klarmachen konnten. Reggie fühlte sich
schuldig, weil sie Schadenfreude darüber empfand. Jetzt erfuhren sie
auch Furcht war, wenn auch in einer anderen Art.
In ihr war es still geworden. Sie war zu dem Entschluss
gekommen, dass weder Mulroney noch einer von den anderen Männer und
schon gar nicht Donnie ihr etwas tun würden. Alles, was sie wollten,
was ihr Geld. Der Präsident oder ihr eigener Vater würden es
ihm geben, weil sie nicht wissen konnten, ob der Entführer nicht vollkommen
verrückt war. Sie hätten also keinen Grund, um sie zu töten.
Sobald das Geld da war, war sie wieder frei. Alles, was sie dann in diesen
paar Tagen gemacht hatte, waren schreckliche Ferien, sonst nichts.
Doch trotzdem spürte sie Angst in sich. Was war,
wenn ihr Vater nicht bezahlen wollte? Wenn er behauptete, dass sie nicht
seine Tochter sei? Würde Mulroney sie dann umbringen?
Sie wusste es nicht und das war es, was ihr Angst machte.
Sie hasste es, etwas nicht zu wissen, wenn es solchen Wert hatte. Es liess
sie glauben machen, dass sie irgend etwas verpasst hatte, etwas, dass wahnsinnig
wichtig gewesen wäre, aber sie hatte es einfach verschlafen. Es war
ein total lächerliches Gefühl, aber trotzdem war es da. Sie konnte
nichts dagegen tun.
Der Transporter hielt an. Sie konnte hören, wie
Türen auf und wieder zu gingen. Eine Sekunde später wurde die
Hintertüre aufgerissen und der Fahrer kam herein. Er sagte kein Wort,
aber an seinem Gesichtsausdruck konnte er erkennen, dass er nicht besonders
glücklich war. Er löste die Handschellen von der Stange und schloss
sie um ihre beiden Hände. Mehr oder weniger sanft, aber bestimmt,
zog er sie aus dem Wagen und brachte sie ein Haus, von dem sie nicht mehr
sah, als die Türe. Dort schob er sie durch wahnsinnig viele Gänge
und Treppen hindurch, bis sie endlich zu einem Zimmer kamen, das für
eine unbestimmte Zeitspanne lang ihr Zuhause sein sollte.
Eigentlich war es wunderschön. Es glich einem Hotelzimmer.
Nur hatte es Gitter vor den Fenstern. Sonst hatte es alles: ein Bett, ein
Badezimmer, einen Schrank, sogar ein Sofa. Auf einem kleinen Tischchen
lagen ein paar Hefte, die vermutlich schon uralt waren.
Der Mann nahm die Handschellen wieder ab. Reggie rieb
sich das aufgeschürfte Handgelenk. Er schloss die Tür, nachdem
er hinaus gegangen war, sofort wieder zu. Sie sollte schon gar nicht auf
den Gedanken kommen, fliehen zu wollen.
Das wollte sie eigentlich auch gar nicht. Lee war ja
frei und würde Hilfe rufen. Allerdings wurde es jetzt schwieriger,
weil sie nicht mehr in dieser alten Lagerhalle waren. Aber für etwas
war die Polizei ja da. Sie konnten zu suchen anfangen, und irgend wann
würden sie sie finden. Und wenn nicht, ...
Darüber wollte Reggie nicht nachdenken, denn es
gab zu viele Fragen, die sie nicht beantworten könnte.
Sie liess sich auf das Sofa niederfallen und packte eines
der Hefter. Es war die neueste Ausgabe einer Zeitschrift, die Sarah, ihre
Mitbewohnerin, immer las. Wenn sie im Wohnzimmer herumlagen, liess sich
Reggie manchmal auch dazu herab, in ihnen zu blättern und es war manchmal
noch recht amüsierend.
Leicht über die verschiedenen Schlagzeilen grinsend
blätterte sie durch die Seiten, bis sie einen Artikel sah, der sie
sehr interessierte, vor allem wegen der Situation, in der sie sich gerade
befand.
Der Kopf tat ihr weh und ihr war schlecht. Sie wusste
nicht mehr, was passiert war. Alles war irgendwie verschwommen und wenn
sie danach zu greifen versuchte, verschwand es.
Stöhnend öffnete sie die Augen. Die Sonne schien
ihr direkt von oben herab ins Gesicht. Sie kniff sie leicht zusammen und
versuchte, etwas zu erkennen. Sie musste auf einer Wiese im Gras liegen.
In ihrem Mund war Dreck und Erde.
Um sie herum war nichts als die Wiese. Weit weg war ein
kleines Haus.
Mit wahnsinnigen Kopfschmerzen richtete sie sich auf
und tastete nach der Stelle an ihrem Kopf, wo es am meisten weh tat. Ihre
ganzen Haare waren verklebt und als sie ihre Finger ansah, waren sie rot.
Sie konnte sich nicht daran erinnern, sich den Kopf angeschlagen
zu haben. Was war bloss passiert? Sie konnte sich an überhaupt nichts
mehr erinnern.
Als sie sich ganz aufrichten wollte, sackte sie vor Schmerz
wieder ein. Ihr Fuss tat höllisch weh. Vorsichtig öffnete sie
die Schuhe. Der Knöchel war geschwollen. Sie musste sich ihn verstaucht
haben. Wann war das gewesen?
Behutsam zog sie den anderen Schuh auch aus, doch dieser
Fuss war vollkommen in Ordnung. Sie stand von neuem auf und hinkte ein
paar Schritte vorwärts. Es tat weh, aber sie konnte es ertragen. Aber
was war vorwärts? Wo hatte sie hingewollt? Von wo war sie gekommen?
Sie drehte sich einmal um ihre eigene Achse, aber nichts
- überhaupt nichts - kam ihr bekannt vor. Wohin sollte sie also gehen?
Kurz entschlossen entschied sie sich für die Richtung, in der der
Wald lag. Dort hatte es bestimmt irgendwo ein Bach, wo sie ihren Fuss kühlen
konnte.
Humpelnd ging sie vorwärts und biss sich dabei fest
auf die Lippen. Der Knöchel tat ihr weh, aber hier kam kein Mensch
vorbei. Sie war auf sich alleine gestellt und musste sehen, wie sie klar
kam. Am liebsten wäre sie einfach sitzengeblieben und hätte gewartet,
bis irgend jemand kam, aber soviel Glück hatte sie wohl nicht. Es
könnte Tage, wenn nicht Wochen, dauern, bis sich jemand in die Einöde
verirrte, die dieses Land darstellte. Und da sie mit einem verstauchten
Knöchel nicht weit kam, musste sie dafür sorgen, dass er schnell
wieder in Ordnung kam. Ausserdem wollte sie sich das Blut vom Kopf waschen.
Reggie betrachtete aufmerksam das Bild in der Zeitschrift.
Es stellte Skeet McGowan, ihren Vater, dar. Er grinste schelmisch in die
Kamera und schien Reggie direkt anzusehen. Seine Augen hatten dieselbe
Farbe wie die ihren, nämlich dunkelblau. Bis jetzt war ihr das nicht
aufgefallen, aber jetzt entdeckte sie gewisse Ähnlichkeiten zu ihm.
Er hatte zum Beispiel auch dieselbe Nase wie sie. Warum war ihr das nicht
schon früher aufgefallen. Wenn man es genau betrachtete, war die Ähnlichkeit
wirklich nicht zu übersehen. Oft genug hatte sie ihn ja schon betrachtet.
Als Schlagzeile unter dem grossen Foto war geschrieben:
„Nur Freunde?“ Neben seinem Gesicht war ein Photo von ihm und einer Frau
abgebildet. Er hatte den Arm und ihre Hüfte geschlungen.
„Vor Jahren hatten die beiden eine Beziehung, doch sie
fanden, dass sie nicht füreinander geschaffen waren. Wollen sie es
nun doch noch einmal versuchen? Skeet meinte zu dieser Fragen, dass sie
nur gute Freunde seien. Stimmt das, oder meinte er sehr gute Freunde?“
stand als Einleitung des Textes.
Verwirrt suchte Reggie nach dem Namen dieser Frau. Konnte
es sein, dass es ihre Mutter war? Wollten sie sich ausgerechnet jetzt,
nachdem ihre Tochter erfahren hatte, wer sie ist, wieder zusammenkommen?
Das wäre ja wie ein Wink des Schicksals, doch irgendwie fast unmöglich.
Doch es war wahr. Der Name der Frau war Jamie Campbell,
ihre richtige Mutter. Sie war wieder mit dem Mann zusammen, mit dem sie
ein Kind hatte.
Reggie weinte fast vor Freude. Sobald sie hier raus war,
konnte sie ihre richtigen Eltern kennenlernen, die vielleicht sogar heiraten
würden. Dann wären sie wie eine richtige Familie.
Plötzlich warf sie die Zeitschrift zur Seite und
presste die Hände auf den Mund. Es gab immer noch diese Frage, was
war, wenn er sie nicht wollte? Wenn sie beide sie nicht wollten? Natürlich,
Reggie könnte auch ohne sie leben, aber vielleicht stritten sie ja
sogar ab, dass sie ihre Tochter sei. Könnte sie auch mit dem leben?
Nur langsam beruhigte sie sich von diesem Anfall wieder.
Sie hätte sich jetzt am liebsten an Lees Schulter gelegt, aber Lee
war nicht da. Reggie war ganz allein in diesem Raum. Niemand war da, an
dessen Schulter sie sich ausweinen könnte. Das Alleinsein war für
einen geselligen Menschen wie Reggie nur schwer zu ertragen. Und in einer
Situation wie dieser wäre sie sogar lieber mit Mulroney selbst zusammen,
als alleine zu sein.
Trotz allem wurde von ihrer Müdigkeit übermannt.
Sie war seit mehr als einem Tag wach und langsam wurde sie einfach zu müde.
Mit zögernden Schritten ging sie zu dem Bett, das in der Ecke stand.
Es war weich und das Bettzeug roch angenehm. Sie zog ihre Schuhe aus und
legte sich mit allen Kleidern am Körpern in das Bett hinein.
Kurze Zeit später war sie eingeschlafen.
Das Wasser des kleinen Bächleins war bitterkalt,
aber sauber. Für ihren schmerzenden Fuss war es das beste, was sie
haben konnte. Schaudernd steckte sie ihren ganzen Kopf in das Wasser und
wusch sich das Blut aus den verklebten Haaren. Sie fror danach ganz erbärmlich,
aber die Sonne trocknete ihre Haare rasch wieder.
In ihrem Kopf schwirrten Gedanken umher, die sie nicht
kannte, zum Beispiel, dass sie unbedingt zum Präsident musste. Warum
in Gottes Namen musste sie zum Präsidenten? Es kam ihr so blöd
vor, dass sie den Gedanken verdrängen wollte, aber im Unterbewusstsein
spürte, dass es wichtig war, wenn sie mit ihm reden konnte.
Sie zog das Hemd aus und wickelte es sich um die Hüften.
Es würde ein heisser Tag werden und es war noch ein weiter weg bis
zum Weissen Haus, wenn man kein Geld für ein Taxi hatte.
Stöhnend richtete sie sich mit ihrem schmerzenden
Kopf auf und versuchte sich von neuem zu orientieren. Vielleicht konnte
sie per Anhalter zumindest in die Stadt hinein fahren. Aber konnte sie
sicher sein, dass sie in Washington D.C. war? Was war, wenn sie irgendwo
in Seattle oder gar in Los Angeles war, oder sonst irgendwo?
Sie suchte in ihren Erinnerungen, aber dort war nichts.
Überhaupt nichts. Sie konnte sich nicht erinnern, wie sie hierher
gekommen war und was sie hier hatte machen wollen. Sie wusste nicht einmal
mehr, wie sie hiess.
Als Donnie leise die Tür öffnete, blieb er stehen
und beobachtete Reggie, wie sie ruhig schlief. Ihr Gesicht war friedlich,
und sie schien sich nach langen endlich beruhigt zu haben. Sie hatte eine
Ecke der Decke nahe an ihrem Kopf und schien zu glauben, dass es ein Schlaftierchen
war. Ihre Finger hielten sie fest.
Lächelnd stellte er das Tablett mit dem Morgenessen
auf den Tisch. Er trat nahe an das Bett heran und kniete neben ihm nieder.
Vorsichtig strich er ein paar lockige Strähnen aus Reggies Gesicht.
Er konnte sehen, dass es war nicht perfekt, ganz und gar nicht, aber auf
seine eigene Art und Weise war es wunderschön. Es hatte eine Ausstrahlung,
die manch wirklich gutaussehende Frauen nicht hatten und bei denen man
sehen konnte, dass irgend etwas fehlte. Die Gesichter von diesen Menschen
und Reggies Ausstrahlung zusammen würde die perfekte Frau geben.
Zögernd streifte er ihre Wangen. Reggie bewegte
sich und drehte sich auf die andere Seite, aber sie war nicht aufgewacht.
Donnie stand wieder auf und musterte sie noch einen Moment lang. Es tat
ihm leid, dass sie das durchmachen musste. Aber es war nicht seine Idee
gewesen, er war nur angeheuert worden. Er wurde gut für diesen Job
bezahlt.
Dann ging er zum Fenster, zog die Vorhänge zur Seite
und öffnete das Fenster. Frische Morgenluft strich herein und würde
Reggie bald wecken.
Mit leerem Magen und einem schmerzenden Knöchel humpelte
die junge Frau, die nicht mehr wusste, wer sie war, über das Feld.
Immer wieder musste sie stehenbleiben und ihren Fuss einen Moment entlasten.
Weit vor sich hatte sie einen Streifen Grau erblickt, der eine Strasse
darstellen konnte. Sie hielt geradewegs darauf zu.
Während sie so ging, versuchte sie sich zu erinnern,
was geschehen war, wie sie hiess, was sie hier tat. Doch keine von diesen
Fragen konnte sie beantworten. Sie konnte sich einfach an nichts mehr erinnern.
Sie war wie ein Kind, das gerade geboren worden war. Sie konnte schreien
und strampeln, aber sie wusste nicht, wer sie war. Es war einfach nichts
da.
Ihr war klar, dass sie sich etwas einfallen lassen musste,
wenn sie zum Weissen Haus kommen wollte. Sie musste sich eine neue Identität
zulegen, irgendeinen Namen, bis sie wieder wusste, wer sie in Wirklichkeit
war. Irgendwo musste sie ein bisschen Geld auftreiben, aber sie wusste
nicht, wie. Wo sollte sie hier Geld finden?
Sie kam der Strasse immer näher, aber bis jetzt
hatte sie noch kein Auto auch nur aus der Ferne gesehen. Vielleicht kamen
hier so gut wie nie Autos vorbei. Konnte doch sein. Dann wäre sie
ganz schön aufgeschmissen.
Mit schmerzendem Fuss setzte sie sich auf den heissen
Teer. Sie war verschwitzt, aber trotzdem bekam sie immer wieder einen Schüttelfrost.
Mit dem Hemd über den Kopf, um wenigstens keinen Sonnenstich zu kriegen,
sass sie da und massierte leicht ihren Knöchel. Er war wieder angeschwollen
und in ihm schien ein zweites Herz zu pochen.
Nach einer Weile streckte sie beide Füsse von sich
und legte sich in Wiese. Dort war der Boden kühler.
Sie war wütend auf sich selbst, weil sie nicht mehr
wusste, wer sie war. Es konnte zwar kaum ihre eigene Schuld sein, dass
sie den Kopf angeschlagen hatte - wie die Verletzung zeigte - aber trotzdem
nervte es sie ziemlich. Sie war hier mitten in der Wildnis und hatte keine
Ahnung, wo sie war. Vielleicht gab es irgendwo jemanden, den sie zurückgelassen
hatte, um Hilfe zu holen. Wer konnte schon wissen, warum sie alleine hier
war?
Ein Geräusch näherte sich. Sie sprang sofort
auf und stellte sich an den Strassenrand. Es war ein grosser Lastwagen,
der sich näherte. Sie hielt den Daumen hoch. Der Fahrer ging auf die
Bremsen und kam kurz neben ihr zum Stehen.
Sie lächelte dankbar und stieg in die Fahrerkabine
hinauf.
„Vielen Dank, dass Sie mich mitnehmen“, sagte sie zu
dem Fahrer.
Er war vielleicht fünfzig und hatte schon fast graue
Haare. Sein dichter Bart verbarg sein Gesicht fast ganz. Die kleine Augen
wirkten freundlich.
„Ich muss mich bedanken. Ich fahre nicht gerne alleine,
wissen Sie. Ich freue mich immer über Gesellschaft. Es ist so langweilig,
einfach nur zu fahren.“
Er lächelte freundlich.
„Also, wo wollen Sie denn hin? Ich nehme an nach New
York. Haben Sie gewusst, dass der Präsident in zwei Tagen dorthin
kommen will? Er will irgendeine Stiftung besuchen. Hab’s vorhin gerade
im Radio gehört. Das gibt sicher ein wahnsinniger Ansturm der Presse.“
Erfreut ging ein Lächeln über ihre Lippen.
Der Präsident kam dorthin, wo sie hin konnte. Was für ein glücklicher
Zufall. Besser hätte sie es gar nicht treffen können.
„Sie sehen ein wenig verhungert aus. Hier, nehmen Sie
das Sandwich. Ich hab zwar schon einen Bissen davon genommen, aber ich
hab’s nicht vergiftet, versprochen. Nehmen Sie’s ruhig, ich hab noch mehr.“
Dankbar biss sie hinein. Ihr Magen beruhigte sich wieder
ein wenig, nachdem sie es hinuntergeschlungen hatte.
„Was haben Sie hier draussen gemacht? Hier gibt es doch
weit und breit nichts, oder täusche ich mich? Ich war noch nie hier,
aber es sieht ganz danach aus.“
Schnell musste sie sich überlegen, was passiert
war. Sie musste etwas erfinden, das einigermassen glaubwürdig war.
„Mein Onkel hat hier draussen eine Ranch. Ich habe ihn
besucht und als ich wieder zurück nach Hause fahren wollte, ist mir
das Auto stehengeblieben. Ich hatte wirklich Glück, dass Sie vorbeigekommen
sind, sonst hätte ich wieder zurück zur Ranch gehen müssen.“
Er nickte. Vorsichtig musterte sie ihn und versuchte
herauszufinden, ob er ihr glaubte. Er schien nicht der Mensch zu sein,
der jemanden verurteilte, aber auch nicht jemand, der einfach alles glaubte,
was ihm erzählt wurde. Er sagte nichts zu ihrer Geschichte.
„Wie heissen Sie, Mädchen?“ fragte er nach einer
Weile schweigend.
Schon hatte sie gehofft, er würde nicht fragen,
aber er tat es doch. Wie sollte sie sich nur nennen? Es gab so viele Namen,
aber trotzdem fiel ihr keiner ein.
„Lilly“, sagte sie nach einem kurzen Zögern, „Und
was ist Ihr Name?“ Sie versuchte ihn von der Tatsache abzulenken, dass
sie ihn vollkommen anlog, obwohl sie eigentlich nichts dafür konnte.
Sie wusste ja selber die Wahrheit nicht.
„Nennen Sie mich Jack“, antwortete Jack.
Er warf ihr einen freundlichen Blick zu. „Schauen Sie
mal unter Ihren Stuhl, Lilly. Dort hat es einen Verbandskasten. Sie können
damit sich Ihren Fuss einbinden.“
Erschrocken starrte sie ihn an und versuchte herauszufinden,
wie er das bemerkt hatte. Sie war doch eigentlich kein Schritt gegangen.
Er konnte nicht gesehen haben, wie sie ging.
„Ein bisschen Desinfizierungsmittel für Ihre Kopfwunde
wäre sicher auch nicht schlecht“, sagte er, als sie sich gebeugt hatte,
um unter ihren Sitz zu schauen.
Wieder erstarrte sie einen Augenblick, versuchte sich
aber nichts anmerken zu lassen. Er war wirklich so ein Typ, der nicht im
Voraus urteilte, aber trotzdem alles bemerkte. Seine flinken kleine Augen
erfassten alles sofort.
Sie öffnete das weisse Kästchen und suchte
eine der Salben aus, die sie auf ihre Wunde strich. Es brannte fürchterlich,
aber sie biss die Lippen zusammen und wartete, bis es aufhörte. Dann
zog sie sich den Schuh aus und verband sich ihren Knöchel. Es schmerzte
noch immer, aber irgendwie besserte es gleich, nachdem sie ihn verbunden
hatte und es war nur noch ein leichtes Surren.
„Geht’s jetzt besser?“
Sie nickte leicht. „Ja, danke.“
Er lächelte. „Schon in Ordnung. Mögen Sie noch
ein Sandwich? Es hat noch welche. Sie können gern noch haben. Es hat
sogar noch etwas zu trinken, glaube ich. Schauen Sie mal hinter meinen
Sitz. Dort müsste es noch haben.“
Sie drehte sich um und sah hinter den Sitz. Tatsächlich,
dort hatte es noch jede Menge Sandwiches, Schokolade, die aber ziemlich
geschmolzen war, Wasser und auch Cola. Alles war warm, aber etwas zu trinken
war etwas zu trinken.
Sie nahm sich eine Cola-Dose. „Wollen Sie auch gerade
etwas?“ fragte sie Jack, aber dieser schüttelte den Kopf.
Sie setzte sich wieder auf ihren Sitz zurück und
öffnete die Dose. Es spritzte leicht, aber es überlief nicht.
Sie nahm einen grossen Schluck und fühlte, wie ihr Durst langsam aufhörte.