Verliebt in den Entführer - Teil 1
by Tia



Es war ein Tag wie jeder andere auch. Jedenfalls wollte er Lee das glauben machen. Am Morgen brachte sie wie immer nur ihr Hund Billy dazu, aufzustehen und sich dem gemeinsamen Frühstück mit ihren Eltern und dem kleinem Bruder zu stellen. Sie stritt sich wie immer mit ihrer Mutter über ihre Kleidung, die ihrer Meinung nach viel zu offenherzig und zu provozierend war. Der Vater sagte nie etwas zu ihrem Aussehen oder über ihre Kleidung. Es war ihm egal, solange sie nicht ganz nackt herum lief. Er war - wenn auch nur wenig - besser informiert als ihre Mutter, was Mode anging.
Wie immer schnappte sich Lee nur ein Brötchen und versuchte dann so schnell wie möglich zu verschwinden. Erst auf dem Weg zu ihrer Freundin fühlte sie sich wieder wohl. Dort begegneten ihr nur solche Menschen, die so wie sie waren, die die gleiche Kleidung trugen und die gleiche Sprache redeten.
Ihre Freundin, Reggie - eigentlich Regina, aber sie hasste diesen Namen - hatte zusammen mit einer anderen Kollegin eine kleine Wohnung. Lee beneidete sie darum. Ihre Eltern hatten ihr nicht erlaubt, wegzuziehen, und solange Lee minderjährig war, konnten sie ihr das auch verbieten. Aber sie hatte sich entschlossen, an ihrem achtzehnten Geburtstag gleich in eine neue Wohnung zu ziehen. Nach mehreren Stunden gut zureden hatte ihr das ihre Mutter auch erlaubt.
Jetzt klopfte sie an die Tür von Reggie und fühlte sich gleich viel besser. Diese Wohnung hatte etwas an sich, das sie sich immer besser fühlen liess. Es war, als ob die Wohnung an sich gute Laune hatte und sie immer aufmuntern konnte, wenn sie Trost brauchte.
Reggie machte auf und sah schrecklich aus. Ihre wilden, blonden Locken hingen ihr ungekämmt und unbeherrscht über die Schultern hinab. Das Make-up war verschmiert, als ob sie geweint hätte. Tatsächlich waren ihre Augen rot und hatten Tränensäcke.
Lee kam sofort hinein und fragte: „Was ist denn mit dir passiert? Ist eine Dampfmaschine über dich hergefallen?“
Reggie zuckte leicht mit den Mundwinkeln. Es schien ihr wirklich ganz und gar nicht gut zu gehen. War es etwa wegen Johnny? Sie wusste doch, dass er schon eine Freundin hatte und sich nicht auf eine andere einliess. Vor ein paar Tagen hatte Reggie Lee erzählt, dass sie sich voll in ihn verknallt hatte und Lee redete es ihr gleich wieder aus. Sie hatte geglaubt, dass es wirklich nur ein dummer Furz von ihr war, aber scheinbar war die Sache noch nicht beendet. Vielleicht war sie ja gestern bei ihm gewesen und er hatte sie abgewiesen. Das musste ihr den Rest gegeben haben.
Plötzlich wurde Lee von hinten gepackt und eine Hand hielt ihr den Mund zu. Ihre Augen weiteten sich und vor Schreck liess sie ihren Schulrucksack fallen. Sie wollte schreien, und versuchte, den Arm ein wenig von sich wegzuziehen, um nicht erwürgt zu werden.
„Sei still, verdammt noch mal“, flüsterte ihr jemand ins Ohr. Es war ein Mann und sein heisser Atem blieb ihr genau ins Gesicht.
Sie probierte nur noch mehr zu schreien, doch die Hand liess nicht locker.
„Sei still, oder ich bringe dich zum Schweigen“, drohte der Mann weiter und ein Messer kam in ihr Blickfeld.
Ihr stockte der Atem. Was, zum Teufel, ging eigentlich hier vor? Sie biss sich auf die Zunge und unterdrückte ihren Wunsch zum Schreien.
„Gut so“, flüsterte er und zog langsam die Hand von ihrem Mund, aber das Messer blieb. „Wenn ihr beide still seid und das tut, was man euch sagt, wird euch nichts geschehen.“
Erst jetzt bemerkte Lee, dass Reggie ebenfalls von einem Mann bedroht wurde, doch dieser hielt ihr eine Pistole an die Schläfen. Darum war sie so verstört gewesen! Die Männern zwangen sie, so zu tun, als wäre alles in Ordnung. Es hatte überhaupt nichts mit Johnny zu tun.
Sie wurde grob zu Reggie hin gestossen und stolperte dabei fast über ihre vom Schreck bewegungsunfähigen Beine. Der Mann, der sie bedrohte, war schon ziemlich alt, jedenfalls sah er so aus. Vermutlich war er um die Vierzig, aber seine Haare waren zumindest an den Schläfen schon grau. Er hatte sie mit Gel nach hinten gekämmt und sah nun genauso aus wie einer dieser Mafia-Typen, die sie immer im Fernsehen sah. Zusammen mit dem schwarzen Anzug konnte die Beschreibung gut passen.
Er musterte Lee von oben bis unten. Auf seinen Lippen lag ein leichtes Grinsen. Seine Hände spielte noch immer mit dem Messer.
„Was wollen Sie von uns?“ fragte sie eingeschüchtert, voller Angst und trotzdem noch tapfer.
Das Grinsen wurde breiter. „Ich will gar nichts“, meinte er und kam ein paar Schritte näher. Sie wollte zurückweichen, doch sie prallte gegen den anderen Mann.
„Mein Boss will etwas“, fuhr er fort und liess dabei seinen Blick immer wieder über ihren Körper wandern. Sie fühlte sich nackt und ausgestellt, diesem Mann vollkommen ausgeliefert. „Aber das erfahrt ihr erst, wenn wir bei ihm sind.“
Er löste sich nur ungern von ihrem Anblick, aber er drehte sich um und winkte zur Tür, gerade als jemand mit lautem Gelächter sich daran machte, das Schloss zu öffnen.
„Wer ist das, zum Teufel?“ fuhr er Reggie an.
Stotternd brachte sie heraus: „Meine Mitbewohnerin.“
Sie wurden in Reggies Zimmer gestossen. „Keinen Ton oder ihr seid tot.“
Der Mann mit der Pistole sah durch einen Spalt in der Tür. Er sah, wie die Mitbewohnerin, Sarah hiess sie, mit einem ihrer vielen Eroberungen hereinkam. Sie schmusten dauernd wieder.
„Ist deine Freundin nicht hier?“ fragte der Freund zwischen den heftigen Küssen Sarahs.
„Nein, die ist in der Schule“, antwortete sie und zog ihn immer weiter in ihr Zimmer hinein. Sie schlossen immer noch kichernd und schmusend die Tür hinter sich.
Der Mann an der Tür grinste den anderen an. Dieser gab ihm einen freundschaftlichen Schlag auf den Kopf.
„Du denkst immer nur an das eine“, flüsterte er und drehte sich sofort wieder drohend zu Lee und Reggie um. „Jetzt kommt mit, aber leise, wenn ich bitten darf.“
Er zog Reggie am Arm hoch und der andere nahm Lee. Sie führten sie hinaus, zum schwarzen Lieferwagen, der an der Ecke stand. Sofort sprangen zwei Männer aus dem Führerhaus und öffneten die Hintertüren. Sie trugen die gleichen Anzüge wie die zwei ersten Männer schon.
Reggie und Lee wurden in den Wagen hinein geschoben. Die ersten gesellten sich zu ihnen, während die anderen sich wieder vorne hinsetzten und mit quietschenden Reifen losfuhren. Lee und Reggie wurden durchgeschüttelt, aber irgendwie gelang es ihnen trotzdem, die zwei Pistolen, die auf sie gerichtet waren, im Auge zu behalten.
Die Männer legten ihnen Handschellen an. Etwas tief in Lee drin fand das alles wahnsinnig aufregend. Sie wurde entführt, wie in einem Film, mit Handschellen und Waffen und Mafia-Typen, die mit ihren Messern herumfuchtelten. Ein anderer, wesentlich grösserer Teil, hatte Angst wie noch nie zuvor. Sie konnte nicht glauben, dass sie entführt wurde. Sie war nichts und hatte nichts. Warum waren ausgerechnet sie beide ausgesucht worden? Das machte doch einfach keinen Sinn.
„Was wollen Sie von uns?“ fragte sie noch einmal und versuchte dabei stark zu sein, keine Angst zu zeigen, obwohl sie wusste, dass auch ein Blinder sehen könnte, wie sehr sie sich fürchtete.
Der Mann mit den grauen Schläfen blickte ihr grinsend direkt ins Gesicht. „Du wiederholst dich. Aber ich will dir antworten. Mein Chef will Lösegeld für euch beide.“
Sie zog die Augenbrauen zusammen und versuchte, nicht zu weinen. „Aber warum wir?“ Der Mann zuckte mit den Schultern und blieb stumm. Vielleicht wusste er es selbst nicht.
Reggie drückte sich fest an Lee, als ob sie sie beschützen könnte. Sie schluchzte in ihre Schulter hinein. Nur mit Mühe gelang es Lee, nicht ebenfalls zu weinen, aber ihr liefen die Tränen auch aus den Augen, wenn es auch nur ganz langsam, eine nach der anderen.
Die Fahrt dauerte nicht lange. Sie wurden in ein grosses Lagerhaus gebracht. Es war sozusagen leer, nur ein paar Kisten und Container standen herum. In einer Ecke stand ein Bürotisch, der mit den neusten Computern ausgerüstet war. Ein paar Männer standen um ihn herum, beachteten aber Lee, ihre Freundin und ihre Entführer nicht, als sie hereinkamen.
Sie gingen auch nicht zu ihnen, sondern durch eine weitere Tür, die in ein kleines Zimmer führte. Ein Bett mit ausgeleierter Matratze und einem kaputten Gestell stand in einer Ecke. Es war total verrostet und machte nicht den Eindruck, dass es das Gewicht eines Menschen aushalten würde. Weiter stand eine kleine hölzerne Kommode im Zimmer, aber sie war mit Schimmel bezogen. Der Fussboden war aus Stein und dreckig. Dieses Zimmer hatte schon längere Zeit keine Menschenseele mehr gesehen.
Die Handschellen wurden gelöst, aber nur um an eine Stange an der Wand angemacht zu werden. Reggie und Lee wurden gezwungen, auf den kalten, schmutzigen Boden zu sitzen. Die Mafia-Männer gingen hinaus und schlossen die Tür ab.
Reggies Tränen vermehrten sich sofort und sie fing an zu jammern. „Oh Lee, was geschieht hier nur? Was ist nur passiert? Warum wir? Wir haben doch nichts getan.“
Lee versuchte, sie zu beruhigen, aber sie stellte sich die gleichen Fragen und fand auch keine Antworten darauf. Sie legte Reggies Kopf an ihre Brust und strich beruhigend darüber. Das war das einzige, was sie tun konnte.

Die beiden Männer gingen zum Tisch mit dem Computer und den anderen Männer. Wie zu erwarten war, surften sie auf dem Internet herum, und sahen sich die neusten Nacktfotos von bekannten und unbekannten Personen an. Dabei grölten sie dauernd.
Die beiden Männer gesellten sich dazu und lachten mit. Sie waren eine rohe Bande, die sich nicht erlauben konnten, richtige Freundinnen zu haben und sich so immer mit Nutten oder willigen - manchmal auch unwilligen - Frauen begnügen mussten. Würde einer von ihnen mit einer Freundin antanzen, könnte er gleich wieder gehen. In dem Geschäft, in dem sie waren, mussten sie auf Liebe und Freundschaft verzichten, zumindest zwischen Männern und Frauen. Sie zusammen war die besten Freunde und jeder würde sich für den anderen töten lassen.
„Hey Donnie, hast du hier schon gesehen? Die ist echt scharf!“ rief einer der Männer dem Mann mit den grauen Schläfen zu.
Dieser grinste nur. „Hört doch endlich damit auf. Der Boss kommt gleich. Dem wird nicht gefallen, wenn ihr nur vor diesem Ding sitzt und nichts gescheites tun. Wir haben schliesslich Gäste!“
Unbeeindruckt, aber trotzdem gehorchend, stellen sie den Computer ab und machten sich an Arbeiten, die sie gerade eben erfanden, um beschäftigt auszusehen, wenn der Boss zurückkam.
Und als hätte Donnie es vorausgesehen, kam er wirklich ein paar Minuten später. Er war schon ein älterer Mann, seine besten Jahre hatte er längst hinter sich gelassen. Doch noch immer wirkte er imposant und keiner der Männer würde es wagen, mit ihm Streit anzufangen. An seinem Bauch zeigten sich leichte Fettpölsterchen, aber in seiner Jugend musste er schlank und sehr gut ausgesehen haben. Sein Gesicht war ein bisschen zu rund und die Nase zu klein im Verhältnis, aber sonst zeigten sich auch jetzt noch Züge, die von einem schönen Mann stammten. Seine dunklen, fast schwarzen Augen waren wachsam und sein Haar, dass schon fast vollkommen weiss war, bildeten einen anziehenden und fast ein wenig mysteriösen Kontrast dazu. Sein Anzug war massgeschneidert, und sass ihm perfekt. Er verdeckte die kleine Rundung am Bauch fast vollkommen. Da der Boden der Halle sauber und verdreckt war, fielen seine glänzenden Schuhe positiv auf. Die helle Licht widerspiegelte sich in ihnen.
Er kam mit ruhigem Gang auf die Männer zu. Sie grüssten ihn alle freundlich, bevor sie sich wieder ihren ‚Arbeiten‘ zuwandten. Der Boss rief Donnie und den anderen Mann zu sich. „Ist alles glatt gelaufen?“
Donnie nickte. „Sie haben sich nicht gewehrt. Ich denke, wir werden keine Schwierigkeiten mit ihnen haben, Sir.“
Der Boss nickte. „Das ist gut. Und sollten sie fliehen, mache ich euch beide dafür verantwortlich, klar?“
Die beiden nickten. Das war klar und deutlich gewesen. Keinem von ihnen würde es einfallen, die beiden Mädchen fliehen zu lassen. Sie hatten zwar keine Ahnung, was der Chef mit ihnen wollte, aber sie waren sehr wichtig. Und wenn sie flohen, bedeutete das ihren Kopf.
Der Boss ging in sein kleines Büro, das direkt an das Zimmer grenzte, in dem die beiden Mädchen waren.
Donnie wandte sich seinem Partner zu. „Du übernimmst die erste Wache, Ricardo. Ich löse dich dann so gegen Mittag ab.“
Der Mann nickte und setzte sich an den Computer. Dort tippte er einen Befehle ein und daraufhin erschien das Bild von dem Zimmer, in dem die ‚Gäste‘ waren. Sie sassen noch immer am Boden. Wie könnten sie auch anders, wenn ihre Hände an der Stange am Boden angemacht waren? Sie stützten sich gegenseitig und weinten.
Ricardo verdrehte die Augen. Dass diese Weiber auch immer weinen mussten! Es war ihm rätselhaft, dass sie so viele Tränen hatten.
Er legte die Beine auf den Tisch und nahm sein Buch, das auf dem Tisch lag. Es war ein Kriminalroman. Er war verrückt nach solchen Büchern, vor allem seitdem er selbst ein Mitglied dieses Geschäfts war. Eigentlich hatte er zwar Polizist werden wollen, aber er hatte herausgefunden, dass man auf der anderen Seite wesentlich mehr verdiente und es spannender war. Schon alleine immer darauf gefasst zu sein müssen, dass die Polizei das Lagerhaus stürmten, war ein gewisser Reiz. Er liebte das, was er machte und würde es nie gegen etwas anderes eintauschen.
Die Mädchen regten sich nicht. Das war gut. Dann konnte er sich in aller Ruhe seinem Buch widmen.

Gegen Mittag löste Donnie Ricardo wie versprochen ab. Der Boss war nicht aus seinem Büro gekommen, doch Donnie wusste, dass er in der ganzen Gegend herum telefoniert hatte. Es war ihm nie klar gewesen, warum er das tat, aber dem Boss erschien es wichtig.
So nahm er die Haltung von Ricardo am Tisch ein, und starrte auf dem Bildschirm. Die Wartezeit nach einer Entführung war immer am langweiligsten. Zuerst mussten die Eltern merken, dass sie nicht mehr da waren. Das ging manchmal ziemlich lange.
Er seufzte und stand wieder auf. Der Mann, der ihm das Essen bringen sollte, war wieder da und drückte ihm eine Tüte in die Hand. Er nahm sie und ging damit zum Zimmer der Gefangenen.
Als er die Tür öffnete, starrten sie ihn immer noch vollkommen verängstigt an und drückten sie enger aneinander. Ihre Augen waren trocken, aber wahrscheinlich nur, weil sie schon den ganzen Vormittag über geweint hatten.
„Keine Sorge. Ich bringe euch nur etwas zu essen“, sagte er mit einem leichten Lächeln. Er kam zu ihnen hin und setzte sich vor sie auf den Boden. Während er die Tüte auspackte, spürte er die ängstlichen und verwirrten Blicke auf sich, aber er sah nicht auf.
Sein Kollege hatte ihnen Brot, Äpfel und sonstiges Zeug gebracht. Sie sahen es mit hungrigen Augen an. Lee hat am Morgen noch überhaupt nichts gegessen - sie hatte bei Reggie essen wollen - und diese wurde am Morgen von diesen Männern aus dem Bett geholt worden. Aber sie beide wollten nicht essen. Sie konnten nicht essen, vor Angst, was noch mit ihnen geschehen konnte.
Donnie sah sie an und fragte dann: „Kein Hunger?“
Er zog dabei so die Stirn hoch, als sei er erstaunt darüber. Dabei musste er doch wissen, dass man in so einer Situation nicht mehr essen konnte. Er musste es doch schon mehrere Male erlebt haben.
„Na gut, ich lasse es euch da“, sagte er und stand wieder auf. Nach kurzem Zögern fügte er hinzu: „Keine Angst, es ist nicht vergiftet. Wenn wir euch töten wollten, hätten wir andere Mittel.“ Er lächelte aufmunternd, wie ein Lehrer seine Schüler aufmuntern würde, nachdem sie schlechte Noten geschrieben hatten, nicht wie der Entführer zu den Entführten.
Lee hob die Augen und sah den Mann an. Sie zitterte vor Angst, aber trotzdem fragte sie: „Warum halten Sie uns hier fest?“
Donnie drehte sich wieder um. Er hatte die Braune zusammengezogen, als müsse er überlegen, was sie damit meinte. „Warum? Weil wir euch entführt haben“, gab er zur Antwort.
„Aber warum? Wir sind dem Staat keinen Cent wert!“
Donnie begann laut zu lachen. Reggie klammerte sich erschrocken an Lee und starrte ihn an. Auch Lee erschrak. Was war so komisch daran? Was hatten sie schon? Warum ausgerechnet sie beide?
Er erholte sich langsam wieder und gluckste nur hin und wieder. Er hielt sich den Bauch und wischte sich die Tränen aus den Augen. „Das ist wirklich ein guter Witz. Wirklich. Der beste, den ich seit langem gehört habe.“
Damit er ging er hinaus, immer noch leise lachend. Die Tür fiel mit einem lauten Knall ins Schloss. Reggie sah Lee an und sie war wieder den Tränen nahe. Lee nahm sie in die Arme, so gut das ging, da ihre eine Hand an dieser verdammten Stange angemacht war. Sie zerrte immer wieder daran, aber sie schürfte sich nur die Hand auf und machte sich selbst weh. Die Stange würde halten. Es hatte keinen Sinn, trotzdem zu versuchen, sie loszureissen. Ausserdem war da noch diese Kamera in der Ecke.
„Es wird uns nichts geschehen, bestimmt nicht. Sie brauchen uns, um ihre Forderungen zu unterstützen. Sie werden uns nichts machen“, versuchte Lee ihre Freundin zu beruhigen, aber es half nicht viel.
Sie beide rührten nichts von dem Essen an. Sie hatten keinen Hunger. Es lag vor ihnen und die Fliegen hatten ihre Freude daran. Sie surrten umher und gingen Lee wahnsinnig auf den Nerv. Die Fliegen waren frei und sie musste hier herum hocken und warten, dass endlich mal etwas passierte. Sie wünschte sich nichts mehr, als dass etwas geschah, egal was. Es konnte auch etwas schlimmes sein, das war immerhin besser als gar nichts.
Mehrmals war der Mann wiedergekommen, hatte gefragt, ob sie nicht endlich etwas essen wollen oder aufs Klo müssten. Er war sehr freundlich, und sie konnten fast vergessen, dass sie hier Gefangene waren, wären da nicht noch die Handschellen gewesen, die sie an den Boden fesselten.
Die Tür ging wieder auf, doch diesmal kam nicht nur Donnie herein, sondern auch ein älterer Mann in einem teuren Anzug. Er blieb kurz stehen, musterte sie und zog sich dann einen Stuhl heran. Sie starrten ihn beide erschrocken an.
„Darf ich mich vorstellen? Mein Name ist Robert Mulroney. Ich bin der Sicherheitschef der USA. Ich habe veranlasst, Sie beide zu entführen.“
Lee richtete sich ein bisschen auf. Das war also der Mann, der Schuld an diesem ganzen Schlamassel war. Der Sicherheitschef persönlich. Sie wusste, dass es im Weissen Haus nicht immer ganz korrekt vor sich ging, aber dass der Sicherheitschef Leute entführte, das hätte sie echt nicht gedacht.
„Ich habe eigentlich gedacht, dass Sie sich bewusst sind, warum wir Sie entführten, aber Donnie erzählte mir, dass Sie immer fragten. Sie scheinen keine Ahnung von allem zu haben.“
Tatsächlich wusste sie nicht, wovon dieser Mann hier sprach. Donnie hinter ihm musterte sie und Mitleid schwang in seinem Blick mit. Reggie wusste nicht, warum, aber sie bedankte es ihm mit einem leichten Lächeln, das er erwiderte.
„Warum sagen Sie uns nicht einfach, warum ausgerechnet wir beide?“ fragte Lee verzweifelt. Seit Stunden hatte sie diese Frage Donnie gestellt, und jetzt war da jemand, der sie beantworten konnte, es aber wahrscheinlich nicht tat.
Mulroney sah nicht so aus, als sei er jemand, mit dem sich verhandeln liesse. „Was wissen Sie von Ihren Eltern, Lee?“ stellte er als Gegenfrage.
Sie runzelte die Stirn. „Was hat das damit zu tun?“
Mulroney war nicht wütend, aber der Ton in dem er sagte, dass sie seine Frage beantworten soll, war genug um zu zeigen, dass es nicht mehr lange ging und er die Geduld verlor.
„Sie sind meine Eltern. Was meinen Sie mit dieser Frage?“ Lee war verwirrt. Was hatten ihre Eltern mit dieser Entführung zu tun? Wollten sie vom Staat Geld für sie erpressen und hatten sie Mulroney dafür bezahlt? Nein, ihre Eltern wären nicht dazu fähig. Warum sollten sie ihrem eigenen Kind Angst machen? Sie verstanden sich nicht immer gut, aber Lee wusste, dass sie sie liebten, egal, wieviel Streit zwischen ihnen war.
„Sie sind Ihre Eltern? Sind Sie sicher?“ fragte Mulroney zurück und sah sie zweifelnd an.
Er glaubte ihr nicht. Warum sollten ihre Eltern nicht ihre Eltern sein? Sie konnte nur weiter die Stirn runzeln.
„Nun, dann haben ihre Eltern Sie belogen. Sie haben Sie adoptiert, als Sie ein Baby waren. Genauso wie bei Ihnen, Regina. Sie scheinen beide keinen Ahnung zu haben, wer Ihre wirklichen Eltern sind, nicht?“
Reggie sah Lee an und für einen Augenblick war in ihren Augen deutlich zu lesen, dass sie dachte, dieser Mann sei vollkommen verrückt. Lee war sich dessen nicht so sicher. Warum sollte er ihnen Lügen erzählen? Es machte viel mehr Sinn, wenn es nicht ihre leiblichen Eltern waren. Vielleicht war irgendein Star der Vater oder die Mutter von ihnen, eine berühmte Persönlichkeit, die genug Geld hatte, um ein Lösegeld zu bezahlen. Ja, so wurde alles viel klarer.
„Wer sind unsere Eltern?“ fragte Lee und musste entsetzt feststellen, dass sie neugierig war. Nichts in ihn war erschrocken darüber, dass ihre Eltern sie fast achtzehn Jahre lang angelogen und ihr nicht erzählt hatten, wer sie wirklich war. Sie fragte sich nur, wer nun ihr richtiger Vater und ihre richtige Mutter war.
„Ihre, Lee, werden Sie vermutlich ziemlich gut kennen. Jeder in Amerika kennt sie. Und Sie, Regina, werden Ihren Vater bestimmt auch kennen, vielleicht sogar auch Ihre Mutter.“
Das half ihnen beiden nicht weiter. Reggie machte nun endlich auch einmal den Mund auf und fragte: „Wie heissen sie?“
Ihre Stimme klang kräftig und mutig, und Lee beneidete sie fast ein bisschen darum. Sie tönte so, als habe sie keine Angst mehr, ganz im Gegensatz zu ihrer Stimme, die immer noch zitterte und schwankte.
„Wollen Sie das wirklich wissen, Regina? Wollen Sie sich nicht überraschen lassen, bis die Übergabe stattgefunden hat und Sie vor ihnen stehen, sie in die Arme schliessen können?“
Reggie schüttelt den Kopf. „Nein, ich will ihre Namen wissen“, sagte sie fest und sah ihn so an, dass er darüber staunte.
Er lächelte leicht. „Okay, ich werde es Ihnen sagen. Sie sind die Tochter von Skeet McGowan, dem Schauspieler. Ihre Mutter ist ein frühere Freundin von ihm. Sie haben sich getrennt, als sie ihr Baby behalten wollte, während er sich für seine Karriere entschied. Sie hat Sie dann aber trotzdem zur Adoption freigegeben. Ihr Name ist Jamie Campbell. Sie ist Schriftstellerin.“
Reggie starrte den Mann nicht mehr an. Ihre Augen weiteten sich und sie sah durch Lee hindurch. Dieser Skeet McGowan war einer ihrer Lieblingsschauspieler. Sie hatte mehrere Poster von ihn ihrem Zimmer aufgehängt.
Lee konnte es genauso wenig fassen wie Reggie. Ihre Angst war verflogen. Wenn ein solch berühmter Schauspieler Reggies Vater war, wer war dann ihrer? Mulroney sagte, jeder in Amerika kennt ihre Eltern.
„Wie heissen meine Eltern?“ fragte Lee und zu ihrer Überraschung tönte ihre Stimme nun stärker, kräftiger.
Mulroney schien Spass daran zu haben, zuzusehen, wie die beiden verängstigten jungen Frauen sich vor seinen Augen zu starken, ein wenig erschrockenen jungen Damen entwickelten, die total vergassen, dass sie in seiner Gewalt waren. „Es sind Mister und Misses Leard, die Präsidentenfamilie. Die beiden waren noch nicht verheiratet, als Sie auf die Welt kamen, und nach den etwas aus der Mode geratenen Traditionen ist es sehr unschicklich, ein uneheliches Kind zu bekommen, also wurden Sie ebenfalls zur Adoption freigegeben. Sie haben erst Jahre später geheiratet, als Mr. Leard seine Karriere als Politiker begonnen hat.“
Nun war Lee an der Reihe mit Erstarren. Sie hätte damit gerechnet, dass es irgendein berühmter Schauspieler und irgendein Model oder so etwas waren, aber nicht die Präsidentenfamilie. Das war einfach unglaublich. Sie konnte nicht die Tochter der berühmtesten Personen der ganzen Welt sein.
Donnie beobachtete die beiden jungen Frauen, die nun starr vor Schrecken waren und sich kaum mehr rührten. Nur ihre Augen irrten hin und her und versuchten etwas zu finden, an dem sie sich festklammern konnten. Reggies Blick fand den seinen und klammerte sich fest. Ihre Tränen liefen Tropfen für Tropfen, langsam, aber stetig.
Lee war so erschrocken, dass sie ganz vergessen hatte zu weinen. Das ganze war einfach zu unglaublich.
„Sie verarschen uns?!“ fragte sie nach einer Weile, obwohl sie genau wusste, dass er keinen Grund dazu hatte. Es machte alles mehr Sinn, wenn es wirklich so war.
„Nein, ich verarsche Sie ganz und gar nicht. Was glauben Sie, warum ich sonst ausgerechnet Sie ausgewählt habe? Sicher nicht aus reinem Vergnügen“, antwortete Mulroney und lächelte.
Donnie musterte Lee und Reggie. Sie taten ihm leid. Sie hatten wirklich nicht gewusst, dass sie beide adoptiert waren und jetzt wurden sie von eine Mann darauf aufmerksam gemacht, der für sie Lösegeld forderte. Es war irgendwie nicht fair. Ihre Adoptiveltern hätten sie informieren müssen. Aber jetzt war es zu spät.
Mulroney stand wieder auf. „Jetzt wissen Sie, warum ich Sie entführen liess. Ihre Adoptiveltern haben unterdessen eine Vermisstenanzeige aufgegeben, also werden wir uns morgen früh melden und unsere Forderungen stellen.“ Er nickte ihnen zu und ging mit Donnie hinaus.
Reggie warf sich vollends ins Lees Arme und weinte.
„Es ist unglaublich“, flüsterte Lee leise und strich ihr sanft über den Kopf, „Wir sollen tatsächlich adoptiert sein. Er glaubt wirklich daran. Es ist einfach unglaublich.“
Sie selbst war nur erstaunt. Nichts in ihr erregte Schrecken oder Angst. Eher Erstaunen, vielleicht sogar Freude. Sie war die Tochter des Präsidenten, das konnte nicht jede von sich behaupten. Ihr fiel ein, dass die Präsidentenfamilie noch einen Sohn hatte. Er war zwei Jahre jünger als sie, aber er sah aus, als wäre er älter. Er war ein Rebell, machte nie das, was seine Eltern von ihm verlangten und präsentierte sich nur zu gerne der Öffentlichkeit. Er hatte vor, Rocksänger zu werden.
Was würde er sagen, wenn er erfuhr, dass er eine Schwester hatte? Würde er sie akzeptieren oder mit ihr genauso umspringen wie mit seinen Eltern, die er schlicht weg nicht beachtete?
Reggie hörte langsam auf zu schluchzen. Sie wischte sich trotzig die Tränen von den Augen. Ihre Angst war verschwunden. Es war einfach zu unglaublich, dass Mulroney die Tochter des Präsidenten und die von Skeet McGowan umbrachte. Das würde ihn zu einem Verbrecher machen, der nirgendwo mehr sicher war. Er würde in keinem Land mehr Asyl bekommen. Das brachte ein wenig Sicherheit. Mulroney würde sein Geld bekommen und sie waren wieder frei.
„Weisst du, an was ich gerade denken musste?“ fragte sie Lee nach einer Weile. Diese schüttelte den Kopf.
„Als wir noch Kinder war, haben wir gespielt, dass unsere Eltern berühmt waren. Wir stellten uns vor, wie wir immer im Mittelpunkt standen. Dass immer Reporter um uns herum waren.“
Lee konnte sich gut daran erinnern. Sie beide kannten sich, seit sie Kinder waren und als sie etwa zehn oder elf waren, spielten sie diese Spiele. Sie schminkten sich mit dem Schminkzeug ihrer Mütter und taten so, als würden sie Interviews geben. Hätten sie gewusst, dass das jetzt alles Wirklichkeit wurde, hätten sie das nicht gespielt. Dann hätten sie sich in ihrem Zimmer eingesperrt und wären am liebsten nicht mehr hinaus gekommen.
„Glaubst du, dass wir unsere Freunde wieder einmal sehen werden?“ fragte sich Reggie weiter.
„Denkst du da an jemanden bestimmten?“ fragte Lee zurück und lächelte leicht.
Reggie musterte sie erstaunt und lachte dann auch. „Du meinst Johnny. Jetzt hätte ich wenigstens eine Chance bei ihm. Nein, eigentlich meine ich alle unsere Freunde. Jetzt könnte ich ja nicht mehr sicher sein, ob Johnny mich überhaupt noch meinetwegen will.“
Da hatte sie recht. Bei jedem Jungen, mit dem sie in den folgenden Jahren ausgehen würden, mussten sie sich fragen, ob er sie nur ihrer Eltern wegen wollte. Das war bestimmt ein grosser Nachteil, wenn man berühmte Eltern hatte.
Lee nickte leicht. „Ich würde auch gerne unsere Freunde wiedersehen. Aber ich denke, unser Leben wird sich jetzt ganz drastisch ändern.“
Seufzend lehnte sich Reggie an die Wand. „Aber weisst du, was gut ist? Wir müssen uns nicht mehr mit diesen Lehrern abplagen, die glauben, dass sie mit uns tun können, was sie wollen.“
Lächelnd nickte Lee. Ja, ihre Lehrer hatten wirklich das Gefühl, dass sie die besten waren und darum allen so viele Strafaufgaben und Extrastunden verteilen konnten, wie sie wollten. Wenn sie jetzt weiter in die Schule gingen, dann kamen sie zu Lehrern, die sehr von der Gunst ihrer Schüler abhängig waren.
Reggie seufzte erneut. „Ich habe mir oft vorgestellt, wie es ist, entführt zu werden. Bei mir war alles horrormässig, aber hier haben sie uns noch nicht einmal geschlagen. Irgendwie ist diese Entführung sowieso harmlos, wenn man bedenkt, was wir gerade erfahren haben.“
Lee war erstaunt darüber, dass Reggie so darüber dachte. Vor ein paar Stunden wäre sie - eigentlich sie beide - noch fast vor Angst gestorben und jetzt sagten sie: Ist ja alles nicht so schlimm.
Mit wiedergefundenem Appetit griff sie nach einem Apfel und biss hinein. „Wenn wir schon hierbleiben sollen, dann wenigstens mit vollem Magen.“
Reggie lächelte.

Später in der Nacht kam Donnie zurück. Er wirkte scheuer als vorher. Sie wussten beide nicht genau, an was es lag, aber irgendwie hatte er jetzt mehr Respekt vor ihnen. Vielleicht hatte es ihn beeindruckt, wie sie das Geständnis von Mulroney aufgenommen hatten.
Er löste ihre Handschellen und sagte ihnen, dass sie das Lager wechseln. „Wir gehen an einen bequemeren Ort. Ihr sollt euch nicht beklagen, dass ihr es nicht bequem gehabt habt“, meinte er grinsend und zeigte zur Tür.
Donnie hatte weder einen Revolver noch ein Messer dabei und die ganze Lagerhalle draussen war leer. Er vertraute ihnen. Lee war Reggie einen Blick zu. Trotz der Freundlichkeit, mit der sie hier behandelt wurden, wollte sie nicht länger als nötig hierbleiben. Wenn sie die Chance zur Flucht hatten, wollten sie sie nutzen.
Fast völlig unmerklich nickte Reggie leicht. Donnie führte sie bis durch die ganze Halle bis zur Tür. Dort konnten sie den Lieferwagen sehen, der mit hellen Lichtern auf seine Passagiere wartete.
Ohne die Handschellen war alles viel leichter. Sie konnten davon rennen und sich irgendwo verstecken. Hier war ein solches Durcheinander von Containern und Kisten, dass sie Stunden brauchen würden, um sie zu finden, und bis dahin waren sie längst abgehauen.
Reggie warf Lee noch einmal einen Blick zu. Sie stimmten miteinander überein. Jetzt oder nie!
Mit grossen Schritten rannten sie in zwei verschiedene Richtungen davon. Eine Sekunde lang war Donnie vollkommen verblüfft, dass sie es wagten, zu fliehen, doch dann setzte er Reggie nach. Er schrie nach seinem Kollegen im Wagen, der schon längst ausgestiegen und Lee nachgerannt war.
Doch es war dunkel, und es hatte keine Lampen, die das ganze Gelände beleuchteten. Sie konnten nichts sehen, weder Lee und Reggie noch die beiden Entführer.
Mehr stolpernd als rennend bahnte sich Lee ihren Weg durch dieses verwirrende Labyrinth und versuchte dabei nicht allzuviel Lärm zu machen. Hinter sich konnte sie die Schritte hören und den laut schnaufenden Atem ihres Verfolgers.
Ihr Atem ging ebenfalls schnell. Sie duckte sich hinter einen Container und hörte, wie die Schritte näher kamen. Wenn er gemerkt hatte, dass sie angehalten war, würde er sie sicher finden, aber wenn nicht, dann rannte er an ihr vorbei und sie konnten sich ihren Weg sorgfältiger suchen.
Er rannte vorbei, ohne zu zögern. Erleichtert atmete Lee tief durch und stand langsam wieder auf. Aus der Richtung, aus der sie gekommen war, hörte sie laute Schreien und einen riesen Tumult. Ihre Flucht hatte alle aufgeweckt und sie schwärmten jetzt mit Taschenlampen aus, um sie wieder einzufangen.
Sie rannte weiter und hoffte, in die richtige Richtung zu laufen. Da sie ja keine Ahnung hatte, wo sie genau war, konnte sie auch nicht sagen, wie weit es bis zur nächsten Stadt war, aber sie hoffte, dass es nicht allzu weit war. Und wenn doch, musste sie eine Nacht im Freien übernachten. Daran würde niemand sterben, schon gar nicht im Sommer.

Reggie rannte schnell durch das Wirrwarr und wich den Kisten aus. Sie glaubte, Schritte hinter sich zu hören, war aber nicht sicher, ob sie sich das nicht nur einbildete. Doch sie wagte es nicht, stehenzubleiben. Sie würde dadurch wichtigen Vorsprung verlieren.
Ihre Sicht war extrem eingeschränkt und sie strauchelte immer wieder über Holzstücke oder sonstige Dinge, die am Boden herumlagen. Die Schrammen, die sie sich dabei holte, beachtete sie gar nicht. Sie waren nicht so wichtig, wenn man sie mit der Freiheit verglich. Bis zum nächsten Dorf konnte es nicht mehr weit sein. Sie waren von ihr zu Hause bis hierhin nur wenige Minuten gefahren. Irgendwo würde es hier sicher ein Telefon geben.
Die Schritte hinter ihr schienen näher zu kommen. Bildete sie sich das jetzt ein oder nicht? War da wirklich jemand hinter ihr? Als der jemand zu fluchen begann, weil er hingefallen war, war sie sicher, dass sie es sich nicht nur einbildete. Sie forderte ihre Beine auf, schneller zu laufen, aber sie konnte einfach nicht.
Sie hörte einen Schuss und zuckte zusammen. War der für sie gemeint gewesen? Oder etwa für Lee? Nein, wohl kaum, eher als Warnung, denn wenn sie tot waren, waren sie nichts mehr wert.
Plötzlich spürte sie, wie sie jemand am Arm packte und zu Boden riss. Sie schrie vor Erschrecken auf. Ihre Arme wurden auf den Rücken gehalten und Handschellen klickten erneut zu.
„Das war nicht sehr schlau, Reggie“, flüsterte Donnie schwer atmend, „Wirklich überhaupt nicht schlau.“
Eigentlich war es ihr völlig egal, ob es schlau gewesen war oder nicht. Es war ein Versuch gewesen, eine winzige Chance, die sie hatten nutzen müssen. Was kam es darauf an, ob es schlau gewesen war? Wenn es geklappt hätte, wäre es schlau gewesen? Sie konnte nichts dafür, wenn er schneller war als sie.
Er half ihr, sich aufzurichten und hielt sie dabei am Arm fest, so dass es fast weh tat. „Ich habe geglaubt, dass ich euch vertrauen kann“; flüsterte er und war in seinem Stolz verletzt. Er hatte geglaubt, sie würden nicht fliehen, weil sie gut behandelt wurden. Aber sie hatten sein Vertrauen missbraucht.
„Das war nicht schlau von Ihnen“, gab Reggie zurück. Sie konnte das auch sagen. Er hätte ihnen ja nicht vertrauen müssen. Es war seine Schuld.
Donnie lachte leise. „Das stimmt. Ich werde dafür auch genug büssen müssen. Mulroney wird mir den Kopf abreissen, wenn wir Lee nicht auch wieder finden.“
Tonlos zog Reggie die Lippen auseinander. Dann würde Donnie bald um einen Kopf kleiner sein als jetzt.
Lee war im Wald aufgewachsen. Bevor sie beide sich kennengelernt hatten, war sie eigentlich immer im Wald herumgestreunt und hatte sich vor den Spaziergänger versteckt. Wenn sie ein Eichhörnchen sah, konnte sie so nahe an es rankriechen, bis sie es fast mit der Hand berühren konnte. Sie würde sich in diesem Labyrinth wie Zuhause fühlen. Keiner würde sie finden.
Bestimmt konnte Lee bald Hilfe rufen und dann würde die Polizei alle festnehmen. Es war nur noch eine Frage der Zeit, bis auch Reggie wieder frei war.

Mit leisen, vorsichtigen Schritten tastete sich Lee durch das Durcheinander aus Holz, Metall und Plastik. Es war eine Unordnung, wie es sonst nur in ihrem Zimmer war. Alles war da und dort verstreut, liess nur ab und zu ein wenig Platz frei, damit man hindurch gehen konnte.
Sie tastete sich mit den Händen ausgestreckt vorwärts und fragte sich, wohin sie eigentlich ging. Alles war dunkel. Sie konnte nur die leuchtenden Zeiger ihrer Uhr sehen, die ihr zeigten, dass es schon fast Mitternacht war. Aber sonst schien nirgendwo ein Licht. Sogar der Himmel war vollkommen verdunkelt. Vielleicht würde es zu regnen anfangen. Sie sollte vielleicht anfangen, einen Unterschlupf zu suchen, damit sie nicht total nass wurde.
Obwohl es Sommer war, hatte es merklich abgekühlt. Ein kalter Wind strich um Lees nackte Arme und liess sie frösteln. Sie schlang die Arme um sich selbst und ging ein bisschen schneller. Mit der Bewegung würde sie wärmer bekommen.
Hinter ihr waren keine Schritte mehr hörbar. Eigentlich war überhaupt nichts mehr hörbar, nur noch das Knirschen unter ihren Füssen und das Rauchen des Windes. Sonst war es still, wie ausgestorben.
Lee fühlte sich nicht wohl. Sie war gerne in einem Durcheinander, sogar, wenn es dunkel war, aber nur, wenn sie es kannte. Ihren Wald zu Hause hatte sie in - und auswendig gekannt, das hier nicht. Sie wusste nicht, in welche Richtung sie sich bewegte oder ob sie nur im Kreis ging. Es war irgendwie unheimlich und herausfordernd zugleich. Wer konnte schon wissen, was hier für dunkle Gestalten herumlungerten, die nur darauf warteten, dass junge Mädchen wie sie sich verirrten? Dann hätte sie es bei Mulroney und seinen Männern doch besser gehabt.
Wütend sagte sie sich, dass sie sich selbst nur Angst einjagte. Hier waren bestimmt keine Landstreicher, weil das Fabrikland war. Es war Privatbesitz und war vermutlich mit einem dichten Zaun abgesperrt. Jeder, der sich hier drauf wagte, konnte verklagt werden. Vielleicht war es sogar verseucht, jedenfalls offiziell. Inoffiziell diente es als Abschreckung, damit es niemand wagte, die Ruhe zu stören.
Vor ihr ertönte ein Geräusch. Sie blieb augenblicklich stehen und bewegte sich nicht mehr. Was war das gewesen? Ein Tier? Ein Mensch auf der Suche nach ihr? Reine Einbildung? Sie lauschte angestrengt, doch es ertönte nicht wieder. Sie musste es sich eingebildet haben.

Donnie brachte Reggie zum Lieferwagen und machte ihre Handschellen an die Stangen des Sitzes an. Sein Vertrauen war wie aufgelöst. Er würde nicht noch einmal riskieren, dass sie fliehen konnte. Der Ärger war jetzt schon gross genug. Wenn sie Lee nicht fanden ...
Mulroney war ein netter Mann, wenn man nett zu ihm, aber er konnte Fehler nicht entschuldigen, vor allem nicht solche. Donnie hatte wirklich genug Erfahrung, um zu wissen, dass man Gefangenen nicht vertrauen konnte, und trotzdem. Irgendwie hatte er gedacht, diese beide seien anders. Er konnte nicht beschreiben, warum er dieses Gefühl hatte, aber es war da, auch jetzt noch.
Vielleicht lag es daran, dass sie zum ersten Mal so junge Personen entführt hatten, die keine Ahnung hatten, warum sie entführt wurden. Vielleicht lag es auch einfach daran, dass sie mit ihren unschuldigen Augen in jedem Mitleid und Vertrauen weckten. Er konnte es nicht genau sagen.
Der Fahrer des Wagens, der Lee nachgerannt war, war noch nicht zurück. Was machte er nur so lange? Hatte er Lee noch nicht gefunden? Donnie wurde langsam nervös, obwohl er wusste, dass es vielleicht Morgen werden würde, bis er sie gefunden hatte. Am liebsten wäre er ihm nachgerannt, aber er wusste ja nicht, in welche Richtung er rennen müsste.
Seine Augen schweiften durch die Dunkelheit, aber sie konnten nichts entdeckten.
„Donnie“ rief Reggie leise aus dem Wagen heraus. Er drehte sich um und sah sie fragend an. Es war das erste Mal, dass sie seinen Namen sagte, überhaupt das erste Mal, dass sie ihn ansprach.
„Was machen Sie mit mir, wenn Sie Lee nicht finden?“ Ihre Stimme klang ruhig, und irgendwie trotzdem ängstlich.
Donnie konnte in ihrer Stimme hören, dass sie nicht alleine sein wollte. Sie wollte mit Lee zusammensein, um eine Gleichgesinnte zu haben, mit der sie ihre Angst teilen konnte. Sie wollte einfach nicht alleine das alles durchstehen müssen.
„Es wird Ihnen nichts passieren, Reggie. Mulroney ist kein Mörder“, antwortete er tröstend und fragte sich dabei, warum er so mit ihr sprach. Sie war eine Gefangene, und er war ein Söldner, der angeheuert wurde, um sie zu bewachen. Er musste ihr ihre Angst nicht nehmen. Das war nicht seine Aufgabe.
„Und was passiert mit Lee, wenn Sie sie finden?“
Er lächelte leicht. Was sollte schon mit ihr passieren? Sie konnten ihr vielleicht eine Ohrfeige geben, wie einem kleinen Kind, das Unsinn angestellt hat, aber mehr konnten sie nicht tun. Sie war schliesslich ihre Geisel und es würde nicht viel Sinn machen, wenn sie sie umbringen würden.
„Nicht mehr als Ihnen, keine Sorge. Ihnen beiden wird überhaupt nichts geschehen. Mulroney selbst hat mir gesagt, dass Sie es hier so schön haben sollen wie es nur geht. Er will hinterher keine Klagen hören müssen.“
Reggie nickte. Was würde er machen, wenn der Präsident - Lees Vater - alles bezahlte und sie wieder frei waren? Sie wussten, wer er war und konnten ihn jederzeit identifizieren. Wohin wollte er fliehen? Er würde nirgendwo Schutz finden können. Wollte er sie mit netten Worten und einem schönen Aufenthalt, der Ferien glich, locken, um den Mund zu halten?
Keiner würde auch nur so etwas in Erwägung ziehen. Entführungen waren schreckliche Erlebnisse, auch wenn sie nicht so schlimm waren. Man würde sie nie vergessen, und schon gar nicht die Gesichter der Entführer. Und hatte man die Möglichkeit zur Rache, würde man sie nutzen. Das war Reggie schon immer klar gewesen, auch schon vor ihrer eigenen Entführung.
Donnie starrte wieder in die Dunkelheit hinaus, konnte aber noch immer nichts sehen. Reggie unterdrückte ein leichtes Lächeln. Sie wusste, dass Lee nicht gefunden werden würde. Sie konnten genauso gut auch jetzt schon dort hinfahren, wo sie eigentlich hinwollten. Es hatte keinen Sinn zu warten.
Die Nacht schien die Geräusche zu verschlucken. Um sie herum war es total still, Reggie konnte nur den schnellen, nervösen Atem Donnies hören, und seine Schritte, wie er unruhig umher ging. Seine Zigarette in der Hand verglühte allmählich, ohne dass er mehr als zwei Züge genommen hätte. Er hatte Angst vor der Reaktion von Mulroney. Lee lief vielleicht gerade in diesem Moment zur Polizei und bald wimmelte es hier nur so von Polizisten. Er hatte einen schweren Fehler gemacht.
Plötzlich hörten sie von weitem lauten Atem. Schritte wurden immer lauter. Donnie atmete auf und verspannte sich gleich wieder. Er sprach leise mit dem Fahrer in einer fremden Sprache, die wie Spanisch oder so etwas klang und fluchte dann laut.
Reggie lächelte. Sie hatten Lee nicht gefunden. Dann würde bald alles gut werden. Sie konnte Hilfe holen, wenn es sein musste, dann bei ihrem Vater selbst.
Donnie warf die Türe des Lieferwagens zu und es wurde dunkler als es sowieso schon war. Reggie sah nichts mehr, aber jetzt machte es ihr nicht mehr soviel aus. Sie wusste, dass ihre Gefangenschaft hier nicht mehr lange gehen würde. Dann konnte sie ruhig noch einige Zeit im Dunkeln verbringen. In der Dunkelheit konnte sie sowieso besser nachdenken. Dann würde sie nicht von anderen Dingen abgelenkt.
Sie fuhren schnell weg. Der Boden war uneben und Reggie wurde leicht hin und her geworfen. Doch das kümmerte sie herzlich wenig.
Was wird mein Vater zu mir sagen, dachte sie, wird er mich akzeptieren? Wird er abstreiten, dass ich seine Tochter bin, um einen Skandal zu verhindern? Was wird er tun?

Lee ging unendlich lange, bis endlich die Sonne aufging. Sie war strahlend schön und spendete Wärme. Lees Gesicht war nass vor Schweiss und vom Tau, der während der Nacht gefallen war. Ihre Kleider klebten an ihrem Körper und fühlten sich unendlich schwer an. Sie hatte kalt und gleichzeitig heiss. Vermutlich wurde sie noch krank. Zitternd schlang sie die Arme um sich und betrachtete die Sonne mit zusammengekniffenen Augen.
Ihre Gedanken schweiften zu Reggie ab. War sie auch entkommen oder hatte dieser Donnie sie erwischt? Lee wünschte ihr nichts mehr, als dass sie auch hatte fliehen können, aber sie war sich nicht sicher. Irgend ein dumpfes Gefühl sagte ihr, dass sie so schnell wie möglich auf eine Polizeistation gehen musste, um Mulroney anzuzeigen. Das Problem war nur, wie konnte sie das beweisen? Sie konnte nicht einfach zur Polizei gehen und sagen, ich möchte Robert Mulroney anzeigen. Niemand würde ihr glauben.
Suchend sah sie sich um. Weit im Osten - dort, wo die Sonne aufging - war ein Wald, hinter dem nichts zu erkennen war. Links und hinter ihr war das Wirrwarr, durch das sie die ganze Nacht gewandert war. Und rechts war eine weite Ebene. Das einzige Haus, das sie sehen konnte, hatte ein kaputtes Dach. Es war vermutlich verlassen, dort konnte sie keine Hilfe bekommen.
Trotzdem war das die einzige Richtung, in die sie gehen konnte. Sie hatte keine Lust, noch einmal durch einen Wald zu laufen. Auf der Ebene hatte es sicher irgendwann eine Strasse, auf der ab und zu einmal ein Auto fuhr. Und wenn nicht, führte sie bestimmt einmal in eine Stadt, oder zumindest in ein Dorf. Dort bekam sie Hilfe und konnte ihren Eltern - sie korrigierte sich in Gedanken, ihren Adoptiveltern - telefonieren.
Seufzend löste sie sich von der Sonne und drehte sich nach rechts. Sie war müde und hatte Hunger, aber trotzdem ging sie weiter. Was konnte sie anderes tun? Vielleicht wilde Tiere jagen und sie zum Frühstück auf einem Feuer braten?
Ihr Fuss sank auf einmal in eine Grube. Sie schrie erschrocken auf und versuchte, das Gleichgewicht zu halten, aber sie fiel hin. Eigentlich wollte sie sich mit den Händen aufstützen, aber sie ruderte wild mit ihnen, als habe sie das Gefühl, sie könne fliegen. Sie prallte hart auf und schlug sich den Kopf an einem Stein an.
Es wurde alles schwarz um sie herum.

Der Lieferwagen fuhr mitten in die Stadt hinein und wieder hinaus. Vielleicht fuhren sie sogar an ihrem Haus vorbei, aber genau konnte Reggie das nicht sagen. Sie sah ja nichts. Im Führerhaus konnte sie Donnie und der andere Mann wild diskutieren hören, was sie jetzt tun sollten, wie sie das Mulroney klarmachen konnten. Reggie fühlte sich schuldig, weil sie Schadenfreude darüber empfand. Jetzt erfuhren sie auch Furcht war, wenn auch in einer anderen Art.
In ihr war es still geworden. Sie war zu dem Entschluss gekommen, dass weder Mulroney noch einer von den anderen Männer und schon gar nicht Donnie ihr etwas tun würden. Alles, was sie wollten, was ihr Geld. Der Präsident oder ihr eigener Vater würden es ihm geben, weil sie nicht wissen konnten, ob der Entführer nicht vollkommen verrückt war. Sie hätten also keinen Grund, um sie zu töten. Sobald das Geld da war, war sie wieder frei. Alles, was sie dann in diesen paar Tagen gemacht hatte, waren schreckliche Ferien, sonst nichts.
Doch trotzdem spürte sie Angst in sich. Was war, wenn ihr Vater nicht bezahlen wollte? Wenn er behauptete, dass sie nicht seine Tochter sei? Würde Mulroney sie dann umbringen?
Sie wusste es nicht und das war es, was ihr Angst machte. Sie hasste es, etwas nicht zu wissen, wenn es solchen Wert hatte. Es liess sie glauben machen, dass sie irgend etwas verpasst hatte, etwas, dass wahnsinnig wichtig gewesen wäre, aber sie hatte es einfach verschlafen. Es war ein total lächerliches Gefühl, aber trotzdem war es da. Sie konnte nichts dagegen tun.
Der Transporter hielt an. Sie konnte hören, wie Türen auf und wieder zu gingen. Eine Sekunde später wurde die Hintertüre aufgerissen und der Fahrer kam herein. Er sagte kein Wort, aber an seinem Gesichtsausdruck konnte er erkennen, dass er nicht besonders glücklich war. Er löste die Handschellen von der Stange und schloss sie um ihre beiden Hände. Mehr oder weniger sanft, aber bestimmt, zog er sie aus dem Wagen und brachte sie ein Haus, von dem sie nicht mehr sah, als die Türe. Dort schob er sie durch wahnsinnig viele Gänge und Treppen hindurch, bis sie endlich zu einem Zimmer kamen, das für eine unbestimmte Zeitspanne lang ihr Zuhause sein sollte.
Eigentlich war es wunderschön. Es glich einem Hotelzimmer. Nur hatte es Gitter vor den Fenstern. Sonst hatte es alles: ein Bett, ein Badezimmer, einen Schrank, sogar ein Sofa. Auf einem kleinen Tischchen lagen ein paar Hefte, die vermutlich schon uralt waren.
Der Mann nahm die Handschellen wieder ab. Reggie rieb sich das aufgeschürfte Handgelenk. Er schloss die Tür, nachdem er hinaus gegangen war, sofort wieder zu. Sie sollte schon gar nicht auf den Gedanken kommen, fliehen zu wollen.
Das wollte sie eigentlich auch gar nicht. Lee war ja frei und würde Hilfe rufen. Allerdings wurde es jetzt schwieriger, weil sie nicht mehr in dieser alten Lagerhalle waren. Aber für etwas war die Polizei ja da. Sie konnten zu suchen anfangen, und irgend wann würden sie sie finden. Und wenn nicht, ...
Darüber wollte Reggie nicht nachdenken, denn es gab zu viele Fragen, die sie nicht beantworten könnte.
Sie liess sich auf das Sofa niederfallen und packte eines der Hefter. Es war die neueste Ausgabe einer Zeitschrift, die Sarah, ihre Mitbewohnerin, immer las. Wenn sie im Wohnzimmer herumlagen, liess sich Reggie manchmal auch dazu herab, in ihnen zu blättern und es war manchmal noch recht amüsierend.
Leicht über die verschiedenen Schlagzeilen grinsend blätterte sie durch die Seiten, bis sie einen Artikel sah, der sie sehr interessierte, vor allem wegen der Situation, in der sie sich gerade befand.

Der Kopf tat ihr weh und ihr war schlecht. Sie wusste nicht mehr, was passiert war. Alles war irgendwie verschwommen und wenn sie danach zu greifen versuchte, verschwand es.
Stöhnend öffnete sie die Augen. Die Sonne schien ihr direkt von oben herab ins Gesicht. Sie kniff sie leicht zusammen und versuchte, etwas zu erkennen. Sie musste auf einer Wiese im Gras liegen. In ihrem Mund war Dreck und Erde.
Um sie herum war nichts als die Wiese. Weit weg war ein kleines Haus.
Mit wahnsinnigen Kopfschmerzen richtete sie sich auf und tastete nach der Stelle an ihrem Kopf, wo es am meisten weh tat. Ihre ganzen Haare waren verklebt und als sie ihre Finger ansah, waren sie rot.
Sie konnte sich nicht daran erinnern, sich den Kopf angeschlagen zu haben. Was war bloss passiert? Sie konnte sich an überhaupt nichts mehr erinnern.
Als sie sich ganz aufrichten wollte, sackte sie vor Schmerz wieder ein. Ihr Fuss tat höllisch weh. Vorsichtig öffnete sie die Schuhe. Der Knöchel war geschwollen. Sie musste sich ihn verstaucht haben. Wann war das gewesen?
Behutsam zog sie den anderen Schuh auch aus, doch dieser Fuss war vollkommen in Ordnung. Sie stand von neuem auf und hinkte ein paar Schritte vorwärts. Es tat weh, aber sie konnte es ertragen. Aber was war vorwärts? Wo hatte sie hingewollt? Von wo war sie gekommen?
Sie drehte sich einmal um ihre eigene Achse, aber nichts - überhaupt nichts - kam ihr bekannt vor. Wohin sollte sie also gehen? Kurz entschlossen entschied sie sich für die Richtung, in der der Wald lag. Dort hatte es bestimmt irgendwo ein Bach, wo sie ihren Fuss kühlen konnte.
Humpelnd ging sie vorwärts und biss sich dabei fest auf die Lippen. Der Knöchel tat ihr weh, aber hier kam kein Mensch vorbei. Sie war auf sich alleine gestellt und musste sehen, wie sie klar kam. Am liebsten wäre sie einfach sitzengeblieben und hätte gewartet, bis irgend jemand kam, aber soviel Glück hatte sie wohl nicht. Es könnte Tage, wenn nicht Wochen, dauern, bis sich jemand in die Einöde verirrte, die dieses Land darstellte. Und da sie mit einem verstauchten Knöchel nicht weit kam, musste sie dafür sorgen, dass er schnell wieder in Ordnung kam. Ausserdem wollte sie sich das Blut vom Kopf waschen.

Reggie betrachtete aufmerksam das Bild in der Zeitschrift. Es stellte Skeet McGowan, ihren Vater, dar. Er grinste schelmisch in die Kamera und schien Reggie direkt anzusehen. Seine Augen hatten dieselbe Farbe wie die ihren, nämlich dunkelblau. Bis jetzt war ihr das nicht aufgefallen, aber jetzt entdeckte sie gewisse Ähnlichkeiten zu ihm. Er hatte zum Beispiel auch dieselbe Nase wie sie. Warum war ihr das nicht schon früher aufgefallen. Wenn man es genau betrachtete, war die Ähnlichkeit wirklich nicht zu übersehen. Oft genug hatte sie ihn ja schon betrachtet.
Als Schlagzeile unter dem grossen Foto war geschrieben: „Nur Freunde?“ Neben seinem Gesicht war ein Photo von ihm und einer Frau abgebildet. Er hatte den Arm und ihre Hüfte geschlungen.
„Vor Jahren hatten die beiden eine Beziehung, doch sie fanden, dass sie nicht füreinander geschaffen waren. Wollen sie es nun doch noch einmal versuchen? Skeet meinte zu dieser Fragen, dass sie nur gute Freunde seien. Stimmt das, oder meinte er sehr gute Freunde?“ stand als Einleitung des Textes.
Verwirrt suchte Reggie nach dem Namen dieser Frau. Konnte es sein, dass es ihre Mutter war? Wollten sie sich ausgerechnet jetzt, nachdem ihre Tochter erfahren hatte, wer sie ist, wieder zusammenkommen? Das wäre ja wie ein Wink des Schicksals, doch irgendwie fast unmöglich.
Doch es war wahr. Der Name der Frau war Jamie Campbell, ihre richtige Mutter. Sie war wieder mit dem Mann zusammen, mit dem sie ein Kind hatte.
Reggie weinte fast vor Freude. Sobald sie hier raus war, konnte sie ihre richtigen Eltern kennenlernen, die vielleicht sogar heiraten würden. Dann wären sie wie eine richtige Familie.
Plötzlich warf sie die Zeitschrift zur Seite und presste die Hände auf den Mund. Es gab immer noch diese Frage, was war, wenn er sie nicht wollte? Wenn sie beide sie nicht wollten? Natürlich, Reggie könnte auch ohne sie leben, aber vielleicht stritten sie ja sogar ab, dass sie ihre Tochter sei. Könnte sie auch mit dem leben?
Nur langsam beruhigte sie sich von diesem Anfall wieder. Sie hätte sich jetzt am liebsten an Lees Schulter gelegt, aber Lee war nicht da. Reggie war ganz allein in diesem Raum. Niemand war da, an dessen Schulter sie sich ausweinen könnte. Das Alleinsein war für einen geselligen Menschen wie Reggie nur schwer zu ertragen. Und in einer Situation wie dieser wäre sie sogar lieber mit Mulroney selbst zusammen, als alleine zu sein.
Trotz allem wurde von ihrer Müdigkeit übermannt. Sie war seit mehr als einem Tag wach und langsam wurde sie einfach zu müde. Mit zögernden Schritten ging sie zu dem Bett, das in der Ecke stand. Es war weich und das Bettzeug roch angenehm. Sie zog ihre Schuhe aus und legte sich mit allen Kleidern am Körpern in das Bett hinein.
Kurze Zeit später war sie eingeschlafen.

Das Wasser des kleinen Bächleins war bitterkalt, aber sauber. Für ihren schmerzenden Fuss war es das beste, was sie haben konnte. Schaudernd steckte sie ihren ganzen Kopf in das Wasser und wusch sich das Blut aus den verklebten Haaren. Sie fror danach ganz erbärmlich, aber die Sonne trocknete ihre Haare rasch wieder.
In ihrem Kopf schwirrten Gedanken umher, die sie nicht kannte, zum Beispiel, dass sie unbedingt zum Präsident musste. Warum in Gottes Namen musste sie zum Präsidenten? Es kam ihr so blöd vor, dass sie den Gedanken verdrängen wollte, aber im Unterbewusstsein spürte, dass es wichtig war, wenn sie mit ihm reden konnte.
Sie zog das Hemd aus und wickelte es sich um die Hüften. Es würde ein heisser Tag werden und es war noch ein weiter weg bis zum Weissen Haus, wenn man kein Geld für ein Taxi hatte.
Stöhnend richtete sie sich mit ihrem schmerzenden Kopf auf und versuchte sich von neuem zu orientieren. Vielleicht konnte sie per Anhalter zumindest in die Stadt hinein fahren. Aber konnte sie sicher sein, dass sie in Washington D.C. war? Was war, wenn sie irgendwo in Seattle oder gar in Los Angeles war, oder sonst irgendwo?
Sie suchte in ihren Erinnerungen, aber dort war nichts. Überhaupt nichts. Sie konnte sich nicht erinnern, wie sie hierher gekommen war und was sie hier hatte machen wollen. Sie wusste nicht einmal mehr, wie sie hiess.

Als Donnie leise die Tür öffnete, blieb er stehen und beobachtete Reggie, wie sie ruhig schlief. Ihr Gesicht war friedlich, und sie schien sich nach langen endlich beruhigt zu haben. Sie hatte eine Ecke der Decke nahe an ihrem Kopf und schien zu glauben, dass es ein Schlaftierchen war. Ihre Finger hielten sie fest.
Lächelnd stellte er das Tablett mit dem Morgenessen auf den Tisch. Er trat nahe an das Bett heran und kniete neben ihm nieder. Vorsichtig strich er ein paar lockige Strähnen aus Reggies Gesicht. Er konnte sehen, dass es war nicht perfekt, ganz und gar nicht, aber auf seine eigene Art und Weise war es wunderschön. Es hatte eine Ausstrahlung, die manch wirklich gutaussehende Frauen nicht hatten und bei denen man sehen konnte, dass irgend etwas fehlte. Die Gesichter von diesen Menschen und Reggies Ausstrahlung zusammen würde die perfekte Frau geben.
Zögernd streifte er ihre Wangen. Reggie bewegte sich und drehte sich auf die andere Seite, aber sie war nicht aufgewacht. Donnie stand wieder auf und musterte sie noch einen Moment lang. Es tat ihm leid, dass sie das durchmachen musste. Aber es war nicht seine Idee gewesen, er war nur angeheuert worden. Er wurde gut für diesen Job bezahlt.
Dann ging er zum Fenster, zog die Vorhänge zur Seite und öffnete das Fenster. Frische Morgenluft strich herein und würde Reggie bald wecken.

Mit leerem Magen und einem schmerzenden Knöchel humpelte die junge Frau, die nicht mehr wusste, wer sie war, über das Feld. Immer wieder musste sie stehenbleiben und ihren Fuss einen Moment entlasten. Weit vor sich hatte sie einen Streifen Grau erblickt, der eine Strasse darstellen konnte. Sie hielt geradewegs darauf zu.
Während sie so ging, versuchte sie sich zu erinnern, was geschehen war, wie sie hiess, was sie hier tat. Doch keine von diesen Fragen konnte sie beantworten. Sie konnte sich einfach an nichts mehr erinnern. Sie war wie ein Kind, das gerade geboren worden war. Sie konnte schreien und strampeln, aber sie wusste nicht, wer sie war. Es war einfach nichts da.
Ihr war klar, dass sie sich etwas einfallen lassen musste, wenn sie zum Weissen Haus kommen wollte. Sie musste sich eine neue Identität zulegen, irgendeinen Namen, bis sie wieder wusste, wer sie in Wirklichkeit war. Irgendwo musste sie ein bisschen Geld auftreiben, aber sie wusste nicht, wie. Wo sollte sie hier Geld finden?
Sie kam der Strasse immer näher, aber bis jetzt hatte sie noch kein Auto auch nur aus der Ferne gesehen. Vielleicht kamen hier so gut wie nie Autos vorbei. Konnte doch sein. Dann wäre sie ganz schön aufgeschmissen.
Mit schmerzendem Fuss setzte sie sich auf den heissen Teer. Sie war verschwitzt, aber trotzdem bekam sie immer wieder einen Schüttelfrost. Mit dem Hemd über den Kopf, um wenigstens keinen Sonnenstich zu kriegen, sass sie da und massierte leicht ihren Knöchel. Er war wieder angeschwollen und in ihm schien ein zweites Herz zu pochen.
Nach einer Weile streckte sie beide Füsse von sich und legte sich in Wiese. Dort war der Boden kühler.
Sie war wütend auf sich selbst, weil sie nicht mehr wusste, wer sie war. Es konnte zwar kaum ihre eigene Schuld sein, dass sie den Kopf angeschlagen hatte - wie die Verletzung zeigte - aber trotzdem nervte es sie ziemlich. Sie war hier mitten in der Wildnis und hatte keine Ahnung, wo sie war. Vielleicht gab es irgendwo jemanden, den sie zurückgelassen hatte, um Hilfe zu holen. Wer konnte schon wissen, warum sie alleine hier war?
Ein Geräusch näherte sich. Sie sprang sofort auf und stellte sich an den Strassenrand. Es war ein grosser Lastwagen, der sich näherte. Sie hielt den Daumen hoch. Der Fahrer ging auf die Bremsen und kam kurz neben ihr zum Stehen.
Sie lächelte dankbar und stieg in die Fahrerkabine hinauf.
„Vielen Dank, dass Sie mich mitnehmen“, sagte sie zu dem Fahrer.
Er war vielleicht fünfzig und hatte schon fast graue Haare. Sein dichter Bart verbarg sein Gesicht fast ganz. Die kleine Augen wirkten freundlich.
„Ich muss mich bedanken. Ich fahre nicht gerne alleine, wissen Sie. Ich freue mich immer über Gesellschaft. Es ist so langweilig, einfach nur zu fahren.“
Er lächelte freundlich.
„Also, wo wollen Sie denn hin? Ich nehme an nach New York. Haben Sie gewusst, dass der Präsident in zwei Tagen dorthin kommen will? Er will irgendeine Stiftung besuchen. Hab’s vorhin gerade im Radio gehört. Das gibt sicher ein wahnsinniger Ansturm der Presse.“
Erfreut ging ein Lächeln über ihre Lippen. Der Präsident kam dorthin, wo sie hin konnte. Was für ein glücklicher Zufall. Besser hätte sie es gar nicht treffen können.
„Sie sehen ein wenig verhungert aus. Hier, nehmen Sie das Sandwich. Ich hab zwar schon einen Bissen davon genommen, aber ich hab’s nicht vergiftet, versprochen. Nehmen Sie’s ruhig, ich hab noch mehr.“
Dankbar biss sie hinein. Ihr Magen beruhigte sich wieder ein wenig, nachdem sie es hinuntergeschlungen hatte.
„Was haben Sie hier draussen gemacht? Hier gibt es doch weit und breit nichts, oder täusche ich mich? Ich war noch nie hier, aber es sieht ganz danach aus.“
Schnell musste sie sich überlegen, was passiert war. Sie musste etwas erfinden, das einigermassen glaubwürdig war.
„Mein Onkel hat hier draussen eine Ranch. Ich habe ihn besucht und als ich wieder zurück nach Hause fahren wollte, ist mir das Auto stehengeblieben. Ich hatte wirklich Glück, dass Sie vorbeigekommen sind, sonst hätte ich wieder zurück zur Ranch gehen müssen.“
Er nickte. Vorsichtig musterte sie ihn und versuchte herauszufinden, ob er ihr glaubte. Er schien nicht der Mensch zu sein, der jemanden verurteilte, aber auch nicht jemand, der einfach alles glaubte, was ihm erzählt wurde. Er sagte nichts zu ihrer Geschichte.
„Wie heissen Sie, Mädchen?“ fragte er nach einer Weile schweigend.
Schon hatte sie gehofft, er würde nicht fragen, aber er tat es doch. Wie sollte sie sich nur nennen? Es gab so viele Namen, aber trotzdem fiel ihr keiner ein.
„Lilly“, sagte sie nach einem kurzen Zögern, „Und was ist Ihr Name?“ Sie versuchte ihn von der Tatsache abzulenken, dass sie ihn vollkommen anlog, obwohl sie eigentlich nichts dafür konnte. Sie wusste ja selber die Wahrheit nicht.
„Nennen Sie mich Jack“, antwortete Jack.
Er warf ihr einen freundlichen Blick zu. „Schauen Sie mal unter Ihren Stuhl, Lilly. Dort hat es einen Verbandskasten. Sie können damit sich Ihren Fuss einbinden.“
Erschrocken starrte sie ihn an und versuchte herauszufinden, wie er das bemerkt hatte. Sie war doch eigentlich kein Schritt gegangen. Er konnte nicht gesehen haben, wie sie ging.
„Ein bisschen Desinfizierungsmittel für Ihre Kopfwunde wäre sicher auch nicht schlecht“, sagte er, als sie sich gebeugt hatte, um unter ihren Sitz zu schauen.
Wieder erstarrte sie einen Augenblick, versuchte sich aber nichts anmerken zu lassen. Er war wirklich so ein Typ, der nicht im Voraus urteilte, aber trotzdem alles bemerkte. Seine flinken kleine Augen erfassten alles sofort.
Sie öffnete das weisse Kästchen und suchte eine der Salben aus, die sie auf ihre Wunde strich. Es brannte fürchterlich, aber sie biss die Lippen zusammen und wartete, bis es aufhörte. Dann zog sie sich den Schuh aus und verband sich ihren Knöchel. Es schmerzte noch immer, aber irgendwie besserte es gleich, nachdem sie ihn verbunden hatte und es war nur noch ein leichtes Surren.
„Geht’s jetzt besser?“
Sie nickte leicht. „Ja, danke.“
Er lächelte. „Schon in Ordnung. Mögen Sie noch ein Sandwich? Es hat noch welche. Sie können gern noch haben. Es hat sogar noch etwas zu trinken, glaube ich. Schauen Sie mal hinter meinen Sitz. Dort müsste es noch haben.“
Sie drehte sich um und sah hinter den Sitz. Tatsächlich, dort hatte es noch jede Menge Sandwiches, Schokolade, die aber ziemlich geschmolzen war, Wasser und auch Cola. Alles war warm, aber etwas zu trinken war etwas zu trinken.
Sie nahm sich eine Cola-Dose. „Wollen Sie auch gerade etwas?“ fragte sie Jack, aber dieser schüttelte den Kopf.
Sie setzte sich wieder auf ihren Sitz zurück und öffnete die Dose. Es spritzte leicht, aber es überlief nicht. Sie nahm einen grossen Schluck und fühlte, wie ihr Durst langsam aufhörte.
 
 

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