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DIE MUSLIME

„Und haltet euch allesamt fest am Seil Gottes und zersplittert euch nicht und gedenket der Gnade Gottes, die Er euch erwiesen hat, als ihr Feinde wart und Er eure Herzen in Liebe vereinte, so dass ihr durch Seine Gnade zu Bruedern wurdet. Damals wart ihr am Rande einer Feuergrube und Er erettete euch daraus. So macht Gott euch Seine Zeichen klar, damit ihr vielleicht rechtgeleitet werden moeget.“ (3:103)

Das arabische Wort „Islam“ hat nicht umsonst den gleichen Wortstamm wie das Wort „Salam“ - Friede. Im Islam liegt wirklich eine grossartige Chance fuer ein friedliches Zusammenleben. Leider ist davon in der Praxis zur Zeit wenig zu sehen.

Wissen Sie, manchmal werde auch ich es muede, immer und immer wieder zu erklaeren, wie der Islam nun wirklich ist. Denn immer und immer wieder bekommt man zur Antwort: „Aber mein marokkanischer Nachbar, der macht das ganz anders.“ Oder: „Die tuerkischen Schueler in meiner Klasse, die erzaehlen mir da ganz andere Dinge.“ Und wie soll man das widerlegen? Die Theorie der islamischen Lehre ist klar und nachschlagbar. Die Praxis der Muslime dagegen ist immer fuer Ueberraschungen gut. „Die leben hier, wie in ihrem anatolischen Dorf.“
Tatsaechlich spiegeln sich im Verhalten der Muslime haeufig mehr doerfliches Brauchtum wieder, als islamische Lehre. 
Denn ebenso wie sich nicht jeder Christ mit der Bibel auskennt, so kennt sich auch nicht jeder Muslim mit dem Koran aus. Und ebenso wie die christliche Lehre von Traditionen ueberlagert wurde, die mit der Bibel nicht viel zu tun haben, so wurde auch die koranische Lehre im Laufe der Jahrhunderte mit kulturellen Traditionen ueberlagert, die heute von vielen Glaeubigen als Teil des Islam verstanden werden, obwohl sie es im Sinne der Offenbarungsreligion gar nicht sind.

Nehmen Sie zum Beispiel das Weihnachtsfest. Wer erinnert sich nicht gern an die festlichen Tage, die Plaetzchen und die Geschenke, die das „Christkind“ brachte. Ein Fest, ohne das man sich den Dezember kaum vorstellen kann. Weihnachten ist fest im Kirchenjahr verankert, obwohl es in der Bibel mit keinem Wort erwaehnt wird. Weder zu Lebzeiten Jesu noch in den fruehen Gemeinden wurde die Geburt Jesu gefeiert. Was unserer Freude an dem Fest jedoch keinen Abbruch tut. Ja, selbst die Kirchen stellen Weihnachtsbaeume auf und verteilen Geschenke.
Osterhasen und Ostereier blieben in der Bibel gleichermassen unerwaehnt. Trotzdem schmuecken wir alle Jahre wieder Huehnereier mit Farben und Mustern. Eier symbolisierten uebrigens schon lange vor dem christlichen Ostern die fruchtbare Fruehlingszeit. Noch heute haben sie ihren Platz im alten persischen Fruehlingsfest. Neben frischem Gruen und anderen Fruehlingsboten.

So ist das auch, wenn Muslime den „Geburtstag des Propheten Muhammad“ in der Moschee feiern und den Kindern Suessigkeiten schenken, oder wenn Braeute ihre Haende am Vorabend der Hochzeit mit Henna-Malereien schmuecken. 
Grundsaetzlich schaden diese Braeuche ja auch niemandem. Unschoen wird es erst, wenn eine tuerkische Familie trauert, weil das Neugeborene „nur“ ein Maedchen ist. Blieben nicht auch dem Propheten „nur“ Toechter, nachdem seine Soehne schon im Kleinkindalter verstarben? Und hat er diese Toechter nicht ueber alles geliebt?
Aergerlich ist auch, wenn einer naiven Studentin von Geschaeftemachern groessere Geldbetraege abgeschwatzt werden fuer Amulette, die vor Boesem schuetzen sollen. Da werden beispielsweise blaue Steine oder Anhaenger in der Form der „Hand der Fatima“, der juengsten Prophetentochter, angeboten. Alles Unsinn! Jeder Muslim betet fuenfmal taeglich zu Gott: „Dich allein bitten wir um Beistand.“ (1:5)  Gluecksbringer sind der islamischen Lehre ebenso fremd wie Horoskope, Wahrsagerei oder auch „Heiligen“-Verehrung. Nur Gott allein ist der Anbetung wuerdig. Und selbst der Prophet Muhammed wird im Koran aufgefordert: „Sprich: Ich kann mir selbst weder Gutes noch Schlechtes zufuegen ausser dem, was Gott will. Und wenn ich Wissen um das Verborgene haette, haette ich Gutes fuer mich angehaeuft, und kein Uebel wuerde mich treffen. Ich bin fuerwahr nichts anderes als ein Warner und ein Verkuender froher Botschaft fuer ein Volk, das glaeubig ist.“ (7:188)

Die Muslime in Deutschland stammen aus allen Teilen der Welt. Und von ueberall her haben sie ihre traditionellen Vorstellungen mitgebracht. Meistens ist ihnen gar nicht bewusst, dass diese nichts mit dem Islam zu tun haben. Schliesslich wird doch in der Moschee das gleiche gelehrt. 
Die Moschee ist fuer auslaendische Muslime ein Stueck Heimat. Waehrend man sich in der deutschen, haeufig als feindlich wahrgenommenen Umgebung nie richtig verstanden gefuehlt hat, ist die Moschee ein Platz der Ruhe. Hier spricht man die gleiche Sprache. Hier denkt man auf die gleiche Weise.
So haben die Araber ihre Moscheen, ebenso wie die Tuerken, die bosnischen Muslime oder die Iraner. Die Traegervereine dieser Moscheen sind „kulturelle“ Vereine. „Kulturell“ werden sie von den Vereinsgruendern genannt, weil bei der Bezeichnung „islamisch“ in den deutschen Aemtern immer noch alle Alarmglocken klingeln. Tatsaechlich trifft der Begriff „kulturell“ den Charakter der meisten Vereine jedoch ganz gut.

Eine meiner ersten Erfahrungen mit Moscheen war die, nicht verstanden zu werden. Deutsch wird vor allem von der aelteren Generation kaum gesprochen. 
Meistens reicht es gerade noch fuer die Frage: “Du Heirat Muslim?“, unterstuetzt durch einen Zeigefinger, der in Richtung meines Eheringes deutet. Dann folgt auch hier das obligatorische: “Ach so!“, jedoch wesentlich erfreuter, als ich es von Nicht-Muslimen gewoehnt bin. In der arabischen Moschee bin ich „aegyptisch“ geworden, in der tuerkischen Moschee „tuerkisch“. Oder doch vielleicht „arabisch“? Schliesslich ist mein Mann ja Araber. Oder ... Nun ja, „richtig“ deutsch bin ich auf jeden Fall nicht mehr. Oder doch...? Die Tatsache, dass ich keinen „islamischen“ Namen trage, verwirrt. 
Ich zumindest fuehle mich kein bisschen aegyptisch. Ich habe auch nicht die geringste Lust, tuerkisch, arabisch oder sonst etwas zu werden. 
Und warum sollte ich meinen Namen aendern? Es stimmt zwar, dass der Prophet Muhammad seinerzeit einigen neuen Muslimen andere Namen gegeben hat. Das betraf jedoch hauptsaechlich Namen, die eine sehr schlechte oder unislamische Bedeutung hatten. Mein Name ist weder unislamisch, noch hat er eine schlechte Bedeutung. Warum sollte es also nicht eine Muslima geben, die Anja heisst? 
Tatsaechlich werden deutsche Muslime selten reibungslos in bestehende islamische Gemeinschaften integriert. Sie sind unbequem, diese Deutschen. Immer pochen sie auf den Koran und die Sunna. Hundertundfuenfzigprozentige! Und alles wollen sie veraendern. Sie betreiben in der Moschee Koranexegese auf Deutsch, geben Hausaufgabenhilfe und ermutigen die Maedchen, sich weiterzubilden, anstatt nur ihren haeuslichen Pflichten nachzugehen. So macht sich der deutsche Einfluss auch noch im letzten bisschen Heimat breit. Als ob es nicht schon draussen genug Deutsche gaebe.
Die Reaktion der deutschen Muslime ist haeufig Abgrenzung. Sie wollen nichts mit volkstuemlichen oder nationalen Vereinen zu tun haben. Aber in die deutsche Gesellschaft passen sie auch nicht mehr so richtig. So schliessen sie sich in eigenen Vereinen zusammen. Manche besinnen sich auf den alten Orient zurueck. Maenner kleiden sich mit Pumphosen, langen Hemden und Turban. Und Frauen basteln fuer ihre Kinder Beduinenzelte mit Zubehoer, damit diese spielerisch lernen, wer ihre „Vorfahren“ sind. Zwar stammten die ersten Muslime aus Mekka, das zur Zeit des Propheten Muhammad eine bluehende Handelsstadt war, und kein Beduinenlager, aber so genau braucht man es nun wieder doch nicht zu nehmen. 
Und langsam aber sicher schafft die deutsche islamische Gemeinde ein deutsches Aequivalent zu den orientalischen Vereinen, diskutiert ueber Goethe und den Islam, textet deutsche Volkslieder um und bastelt „Ramadan-Kalender“ nach dem Vorbild der Adventskalender, bei denen das Kind jeden Tag ein Tuerchen oeffnen darf.
Diese Vereine moegen alle ihre Berechtigung haben. Der Rahmen des Islam ist weit. Und jeder hat das Recht, seine Sprache zu sprechen und seine Kultur zu leben. Darueber geht nur leider viel vom Gedanken der islamischen Gemeinschaft, der „Umma“, verloren. 
Im Koran heisst es: „Und haltet euch allesamt fest am Seil Gottes und zersplittert euch nicht und gedenket der Gnade Gottes, die Er euch erwiesen hat, als ihr Feinde wart und Er eure Herzen in Liebe vereinte, so dass ihr durch Seine Gnade zu Bruedern wurdet. Damals wart ihr am Rande einer Feuergrube und Er erettete euch daraus. So macht Gott euch Seine Zeichen klar, damit ihr vielleicht rechtgeleitet werden moeget.“ (3:103)
Der Islam ist eine gesellschaftsbildende Religion. Ziel ist nicht, so exklusiv wie moeglich zu sein. Ganz im Gegenteil. Es gilt, einen moeglichst grossen Konsens zu finden. Muslime muessen gemeinsam arbeiten, nicht gegeneinander. Gott warnt uns ausdruecklich im Koran: „Und seid nicht wie jene, die sich in Gruppen gespalten haben und uneins geworden sind, nachdem klare Beweise zu ihnen gekommen waren. ...“ (3:105)
Natuerlich ist nicht jeder Muslim gleich. Nicht jeder kleidet sich gleich, kocht die gleichen Gerichte oder spricht die gleiche Sprache. Und das sollte auch so sein. Wie koennten wir sonst voneinander lernen? Steht nicht schon im Koran: „Oh ihr Menschen, wir haben euch aus Mann und Frau erschaffen und euch zu Voelkern und Staemmen gemacht, auf dass ihr einander kennen lernen moeget. Wahrlich, vor Gott ist von euch der Angesehendste, welcher der Gottesfuerchtigste ist. Wahrlich, Gott ist Allwissend, Allkundig.“ (49:13)
Im Islam hat es immer schon Vielfalt gegeben. Und wir koennen viel voneinander lernen. Ohne neue Impulse, ohne Diskussionen kommt jede geistige oder gesellschaftliche Entwicklung zum Stillstand. Das betrifft auch den politischen Diskurs. Aufgabe der islamischen Gemeinschaft ist es, die verschiedenen Stroemungen zum Wohle aller in eine Gesellschaft zu integrieren. 
Auch der Prophet Muhammad lernte von seinen Gefaehrten und liess Diskussionen zu. Von der beruehmten Schlacht bei Badr, wo es zur offenen Konfrontation zwischen einer zahlenmaessig weit ueberlegenen mekkanischen Streitmacht und den Muslimen gekommen war, berichtet Muhammad Hussein Haikal in seinem Buch „Das Leben Muhammads (s.a.s.)“ folgendes ueber die Wahl des Lagerplatzes: „Als sie (die Muslime) den ersten Brunnen von Badr erreichten, stieg Muhammad dort ab.
Al Hubab Ibn Al Mundhir Ibn Al Dschamuh war ortskundig; als er sah, wo der Prophet abstieg, fragte er: „O Gesandter Allahs, ist dies ein Ort, an dem dich Allah absteigen laesst, so dass wir davon weder nach vorne noch nach hinten abweichen duerfen, oder ist es nur eine Frage der persoenlichen Meinung, des Krieges und der Kriegslist?“ Muhammad antwortete: „Es ist eine Frage der persoenlichen Meinung, des Krieges und der Kriegslist.“ Da sagte er: „O Gesandter Allahs, dies ist kein Lagerplatz; geh mit deinen Leuten weiter, bis du zum den Kuraish (den Mekkanern) am naechsten gelegenen Brunnen kommst. Dort machen wir Halt, schuetten dann die dahinter liegenden Brunnen zu und bauen dann darum eine Art Becken, das wir mit Wasser fuellen. Wenn wir dann die Leute bekaempfen, koennen wir trinken und sie nicht.“
Muhammad erkannte, dass Al Hubabs Rat richtig war, erhob sich mit seinen Begleitern und folgte der Ansicht seines Gefaehrten. Durch dieses sein Verhalten machte er seinen Leuten deutlich, dass er ein ganz gewoehnlicher Mensch wie sie war, und dass sie sich durch Beratung untereinander eine Meinung bilden sollten und er ohne ihre Ansicht keine Entscheidung treffen wuerde, ja er sogar des guten Rates eines von ihnen bedurfte.“ (HAIKAL 1987:221f)
Tatsaechlich waren selbst prominente Vertreter der fruehen islamischen Gemeinschaft nicht immer einer Meinung. Der Prophet verglich einmal Abu Bakr Siddiq wegen seiner Milde und Bereitschaft zur Vergebung mit den Propheten Abraham und Jesus, und Omar Ibn Al-Khattab wegen seiner Haerte und Konsequenz mit den Propheten Noah und Moses. Trotz ihres unterschiedlichen Charakters hatten sowohl Abu Bakr Siddiq als auch Omar Ibn Al-Khattab eine hervorragende Stellung in der islamischen Gemeinschaft inne und bekleideten nach dem Tode des Propheten Muhammad als erste das Amt des Kalifen. Das heisst, sie folgten ihm nach in der Fuehrung der Umma, der Gemeinschaft der Muslime.
Gab es damals unter den Muslimen Meinungsverschiedenheiten, so wurden diese ausdiskutiert und Pro und Kontra abgewogen. Hatte man dann einmal eine bestimmte Entscheidung getroffen, so wurde diese Entscheidung von allen getragen. Niemand zog sich beleidigt zurueck, weil man nicht auf ihn gehoert hatte.
Heutzutage dagegen pochen Doerfler auf eine bestimmte Handhaltung beim Gebet oder eine bestimmte Farbe des Kopftuchs und gruenden einen Verein nach dem anderen. Als ob es nicht wahrhaftig wichtigere Probleme gaebe.

Das wollten wir an der Uni besser machen. So gruendeten wir einen eigenen Verein ...
Es fing alles an mit dem mittaeglichen Pflichtgebet, das, da mittags, oft in die Vorlesungszeit an der Uni fiel. Rein theoretisch kann man natuerlich ueberall beten. Aber etwas Privatsphaere waere schon nicht schlecht. So suchte ich mir meistens einen gerade leeren Hoersaal oder betete ganz hinten in der Bibliothek. Immer in der Hoffnung, es moege niemand vorbeikommen. Und so machten es die anderen auch. Bis Ahmed und Yueksel das Problem fuer uns alle loesten. Unser Institut befand sich in der obersten Etage eines Altbaus. Die Treppe fuehrte noch eine Etage hoeher bis zum Aufzugsschacht. Die beiden hatten mit Genehmigung des Institutsleiters den praktisch unbenutzten Treppenabsatz auf halber Hoehe mit zwei Gebetsteppichen ausgestattet und beteten dort.
Das sprach sich herum, und bald begannen auch andere muslimische Studenten, dort zu beten. Einzeln oder nach gemeinsamen Vorlesungen auch im Gemeinschaftsgebet - Schulter an Schulter, Fuss an Fuss. Und waehrend wir vor dem Gebet darauf warteten, bis auch der letzte seine obligatorische Waschung vollzogen hatte, lernten wir uns untereinander immer besser kennen.
Es waren vor allem viele tuerkische Muslime am Institut. Mit einigen freundete ich mich an. Nurten hatte ihr Studium mit Heide und mir begonnen. Als wir mit Kopftuch an der Uni erschienen, war sie hoch erfreut. Sie selbst trug kein Tuch, haette das aber gerne geaendert: “Ich weiss nicht, wie ich anfangen soll. In meiner Familie ist das nicht so ueblich. Nichtmals meine Mutter traegt ein Tuch. Wenn ich mich jetzt bedecke, dann sieht das so aus, als wuerde ich meiner Mutter sagen, sie lebe den Islam nicht richtig.“
Nurtens Eltern waren vor langer Zeit nach Deutschland gekommen. Alle drei Kinder wurden in Deutschland geboren. Religion nahmen die Eltern ernst, aber ein Kopftuch kam ueberhaupt nicht in Frage. Es sei denn anlaesslich eines Moscheebesuchs.
Nadja und Selda dagegen trugen Kopftuecher. Sie kamen aus der Mathematik, bzw. aus der Archaeologie, um die Vorlesungen von Professor Falaturi zu hoeren. Nadja kannten Heide und ich schon vom islamischen Frauentreffen.
Huelya war an unser Institut gewechselt. Sie gab sich sehr laessig. Ihr Kopftuch wirkte manchmal fast deplaciert neben der laessig zwischen den Fingern balancierten Zigarette.
Es gab auch noch einen weiteren deutschen Muslim. Menem kam aus dem Ruhrpott, trug Springerstiefel und einen Buerstenschnitt. Und er wohnte im gleichen Studentenwohnheim wie Mohamed und ich.
Ali dagegen war erst als Teenager aus der Tuerkei nach Deutschland gekommen. Er begann ein Jahr nach mir mit seinem Studium. In der tuerkischen Gemeinde an seinem Wohnort engagierte er sich in der Jugendarbeit, das heisst, er spielte mit den Jungs Fussball.
Obwohl wir auf den ersten Blick recht unterschiedlich waren, hatten wir doch viel gemeinsam. Wir waren in etwa im gleichen Alter und trafen uns fast taeglich an der Uni. Wir sprachen die gleiche Sprache und lebten in der gleichen Welt. Es schien, als haetten wir eine Nische gefunden, in der „inlaendische“ Muslime existieren koennen. Und das betraf auch die urspruenglich auslaendischen Studenten, die schon so lange in Deutschland lebten, dass sie sich beim besten Willen nicht mehr mit ihrer Herkunftskultur identifizieren konnten.
Tatsaechlich befinden sich diese jungen Auslaender - aehnlich wie die deutschen Muslime - in einer Art Vakuum zwischen den Kulturen. 
Die Elterngeneration hatte sich noch nach Kraeften bemueht, die Werte der „islamischen“ Heimatkultur in der Familie zu erhalten. Man zog sich in seine eigene kleine Welt zurueck, pflegte nur Kontakt mit muslimischen Landsleuten und mied moeglichst jede Beruehrung mit westlichen „Versuchungen“. Dazu kam, dass schon mangelnde oder fehlende Sprachkenntnisse die Auseinandersetzung mit der deutschen Umwelt erschwerten, wenn nicht gar unmoeglich machten.
Das mag fuer diese erste Generation eine angemessene Strategie gewesen sein. Schliesslich wollte kaum einer tatsaechlich seinen Lebensabend in Deutschland verbringen. Alle wollten zurueck in die Heimat.
Das sieht aber in der zweiten und dritten Generation anders aus. Viele Jugendliche verbringen mehr Zeit in der Schule, als zu Hause. Sie lesen deutsche Zeitungen, sehen deutsche Fernsehprogramme und haben deutsche Freunde. Sie sprechen Deutsch besser als ihre „Heimatsprache“ und denken gar nicht daran, in ein Land „zurueckzukehren“, dass sie nur aus dem Urlaub kennen.
Diese Jugendlichen leben in einer Welt, die den Eltern in den vielen Jahren ihres Aufenthalts fremd geblieben ist. Symptomatisch dafuer ist der arabische Vater, der so stolz in der Moschee erzaehlte, sein Sohn habe im Zeugnis in Religion eine Eins bekommen - bis ihn jemand darueber aufklaerte, dass es an dieser Schule ueberhaupt keinen islamischen Religionsunterricht gaebe. Das Kind hatte am katholischen Religionsunterricht teilgenommen.
Symptomatisch sind aber auch das tuerkische Maedchen, das ihren Eltern zuliebe jeden Morgen mit Kopftuch aus dem Haus geht, nur um es an der Bushaltestelle in der Tasche verschwinden zu lassen. Und der arabische Junge, der mit seinen Freunden gerne mal eine Zigarette raucht, zu Hause dagegen aus Respekt vor seinen Eltern nie auch nur eine in die Hand nehmen wuerde.
Eltern und Kindern fehlt jegliche Gespraechsbasis. Eltern wollen von „draussen“ einfach nichts hoeren. Und „draussen“ erscheint das Leben der Eltern fremd. So beginnen Kinder, ihre „deutsche“ Welt fein saeuberlich von der Welt der Eltern abzutrennen. Sie erlernen ein „Zwei-Welten-Schema“. „Zu Hause“ spricht man anders als „draussen“. Und „zu Hause“ denkt man auch anders als „draussen“.
Islam ist dabei eindeutig der Welt zu Hause zugeordnet. Die Kinder koennen meistens nichtmals die einfachsten Sachverhalte ihrer Religion auf Deutsch beschreiben. Ihnen fehlen die Worte. Und das ist auch kein Wunder. Alles, was diese Kinder je ueber ihre Religion gelernt haben, haben sie in der Sprache der Eltern gelernt. Und die Lehrer in den Moscheen kommen nicht selten direkt aus dem Ausland. Sie haben keine Ahnung vom Leben in Europa. Ein Bezug zwischen dem Islam und dem Alltag der Jugendlichen in der deutschen Umwelt koennen sie nicht herstellen.
Dabei war der Islam nie fuer nur eine Kultur gedacht. Er stammt zwar aus dem Orient, aber das tut das Christentum auch. Trotzdem beanspruchen seine Vertreter ganz selbstverstaendlich allgemeine Gueltigkeit.
Zwar wird mittlerweile neben christlichem Religionsunterricht an deutschen Schulen auch Islamunterricht angeboten, aber ebenfalls muttersprachlich, das heisst auf tuerkisch. Viele der Lehrer kommen ebenfalls direkt aus der Tuerkei. Ein oder zwei arabische Kinder im Islamunterricht, die nichts verstehen, was macht das schon? Schliesslich muss doch ganz klar rueberkommen, wie der islamische Schulunterricht gedacht ist. Naemlich als Vorbereitung auf eine problemlose Rueckkehr in die Heimat, da, wo diese Kinder mit ihrer Religion auch hingehoeren.
Ginge man realistisch an diese Sache heran, so muesste man einsehen, dass nur ein unbedeutend geringer Prozentsatz dieser Kinder Deutschland jemals wieder verlassen wird. Wir ziehen uns hier eine neue europaeische Generation von Muslimen heran. Und es liegt nicht zuletzt an uns, wie sie sich entwickeln wird. 

Ich habe muslimische Jugendliche getroffen, die gemeinsam deutsche Computerprogramme entwickeln, mit denen Koranverse und Hadithe zu eingegebenen Themen in Sekundenschnelle abrufbar sind. Und aus England kommt das „Islamic Quiz“, auf Diskette, bebildert und geordnet nach Schwierigkeitsgrad und Themenbereichen wie Glaubenspraxis, Geschichte und Geographie.
Auf einem ueberregionalen Treffen dichteten Kinder deutsche Produktwerbung auf den Islam um und praesentierten das Ergebnis gekonnt auf Video. „Mein Islam, dein Islam, Islam ist fuer uns alle da!“ Sie gestalteten einen Bunten Abend, bei dem ich wirklich nur ueber schauspielerisches Talent und Ideenreichtum staunen konnte. Sogar ein selbstgetexteter politischer Rap wurde vorgetragen.
Fuer diese jungen Menschen ist es kein Makel, Muslim zu sein. Und es ist auch kein Hemmschuh auf dem Weg in die Zukunft.

Es gibt jedoch leider wenig entsprechende deutschsprachige Veranstaltungen fuer muslimische Kinder und Jugendliche. Die meisten leben isoliert in einer Umwelt, die den Islam fuer ueberfluessig und rueckstaendig haelt. So beschlossen wir muslimischen Studenten, in unserer Stadt deutschsprachige muslimische Jugendarbeit aufzubauen. Wir wollten die Kinder und Jugendlichen in der Moschee zusammenbringen. Ihnen sollte das Gefuehl erspart bleiben, nirgendwo hinzugehoeren. Der Imam „unserer“ Moschee, derselbe Herr, der Mohamed und mich getraut hatte, unterstuetzte uns von Anfang an. Auch er hatte Kinder im Schulalter. 
Wir boten woechentliche Treffs an, wo wir mit den Kindern zusammen redeten, spielten, bastelten und selbstverstaendlich auch beteten. Und wir erteilten Hausaufgabenhilfe. Letzteres fand auch bei der Moscheeleitung grossen Anklang. Dafuer sind deutsche Studenten nun wirklich gut zu gebrauchen. Ansonsten stand man der ganzen Sache eher skeptisch gegenueber. Aber das neben Heide, Elisabeth, Ahmed und mir auch Mohamed am Projekt beteiligt war, beruhigte die Herren vom Vorstand doch sehr. Wenigstens ein Araber! Nach dringlicher Einladung durch den Imam erschienen dann auch Kinder zu den woechentlichen Treffs. Zwar nicht so viele, wie wir gehofft hatten, dafuer aber kamen sie gerne und regelmaessig. Bald freundeten wir uns mit „unseren“ Kindern an. Heide kuemmerte sich um jegliche Art schulischer Probleme. Als Lehrerin war sie dafuer wohl auch praedestiniert. Bald stand sie in regelmaessigem Kontakt mit diversen Schulleitern und Klassenlehrern. Naima begann, Kopftuch in der Schule zu tragen. Karima wollte vom Schwimmunterricht befreit werden. Yasmin, eine junge Marokkanerin, neu in Deutschland, hatte Schwierigkeiten, sich im Englischunterricht der achten Klasse zurechtzufinden. Zu Hause in Marokko hatte sie immer nur franzoesisch gelernt, was sie ausgezeichnet sprach. Ihr juengerer Bruder hatte schon Schwierigkeiten, sein deutsches Geschichtsbuch zu lesen oder die Aufgabenstellung im Mathematikbuch zu verstehen. Es ist unvorstellbar traurig, wie diesen Kindern jede Chance genommen wird, einen vernuenftigen Schulabschluss zu machen, auf dem sie eine Zukunft aufbauen koennen.
Fausia dagegen kam in diesem Jahr erst ins erste Schuljahr. Sie hatte keine Probleme. Ihr vierjaehriger Bruder sass oft neben ihr und kopierte eifrig ihre ersten Schreibuebungen.
Raschida, 4. Klasse, brachte irgendwann einmal eine „Bravo“ aus der Schule mit. Ihre Eltern wussten nicht einmal, dass eine solche Zeitschrift existiert, ganz zu schweigen davon auch noch im Besitz ihrer kleinen Tochter („Raschida ist noch viel zu klein, um zu verstehen, was die Periode ist.“). Wir Studenten bemuehten uns, eine Verbindung fuer die Kinder zu schaffen zwischen Elternhaus und deutschem Schulalltag.
Und auch die Kinder untereinander begannen, sich auszutauschen und anzufreunden. Irgendwann schafften wir Gesellschaftsspiele an, und dann sogar eine Tischtennisplatte. Heide richtete eine kleine Leihbuecherei ein, und ihre christliche Mutter fuehrte in den Ferien einen Naehkurs durch. Manchmal machten wir Tagesausfluege mit den Kindern, gingen ins Museum oder in einen Freizeitpark. In diesem Jahr gelang es der Moscheeleitung auch erstmals, einmal in der Woche abends ein oeffentliches Schwimmbad fuer die Muslime anzumieten. So konnten jeweils 14taegig muslimische Maenner bzw. Frauen schwimmen gehen. Es war wiederum Heide als Sportlehrerin, die es in die Hand nahm, den Frauen und Maedchen das Schwimmen beizubringen. Und sie erreichte es auch, dass „unsere“ Maedchen zum Teil vom gemischt-geschlechtlichen Schulschwimmen befreit wurden, und stattdessen bei Heide ihre Pflichtstunden erfuellen konnten.

Der Zeitaufwand wurde jedoch nicht nur fuer Heide merklich groesser, sondern fuer jeden von uns. Es blieb kaum noch Zeit fuer das Studium, ganz zu schweigen von einem Privatleben. Heide, die waehrend der Zeit ihrer Pruefungen ein wenig kuerzer getreten war, brachte dann noch einmal neuen Schwung in die Arbeit. Sie schaffte es tatsaechlich, dass ihr als arbeitsloser Lehrerin eine auf zwei Jahre befristete ABM-Stelle fuer die Arbeit in der Moschee bewilligt wurde. So hatten wir eine Vollzeitkraft. Das Angebot wurde auf deutschen Sprachunterricht fuer Hausfrauen ausgedehnt und die Schueler konnten jetzt wirklich gezielte Einzelnachhilfe in Anspruch nehmen. Es gelang Heide, unter den Studenten noch zusaetzliche Helfer zu gewinnen, die stundenweise Nachhilfe gaben. Und sie ueberzeugte die Moscheeleitung davon, einige dieser Studenten fuer ihre Mitarbeit finanziell zu entschaedigen.
Leider ging darueber ein bisschen des Gruppengefuehls verloren. Schulische Leistung war aus der Sicht der Eltern verstaendlicherweise wichtiger als Spieltreffs. „Spielen koennen die Kinder auch zu Hause. Dafuer brauchen sie nicht in die Moschee zu gehen.“ So schlief der Spieltreff langsam ein. Und mit dem Auslaufen von Heides ABM wurden dann auch die Unterrichtsaktivitaeten wieder eingestellt.

An der Uni dagegen hatten inzwischen die Aktivitaeten muslimischer Studenten zugenommen. Tuerkische Studentinnen beispielsweise luden reihum zu sich nach Hause ein. Es kamen jeweils bis zu dreissig Maedchen. Zum „Unterricht“ - eigentlich wollten wir uns fortbilden - kam es kaum. Aber mein muslimischer Bekaanntenkreis wuchs staendig an. Es kamen Studentinnen aus anderen Staedten dazu, aber auch junge Frauen aus anderen Umfeldern. Eine Schwesternschuelerin, eine Buerokauffrau, eine Kindergaertnerin. Obwohl wir eigentlich nicht viel gemeinsam hatten, verband uns doch die Tatsache, zur muslimischen Minderheit zu gehoeren. So entwickelten sich aus diesen sporadischen Treffen viele persoenliche Freundschaften. „Schwestern“ halfen sich bei Referaten, machten zusammen Radtouren oder fuhren sogar gemeinsam in den Urlaub. 
Und eines Morgens kam Nurten mit Kopftuch zum Arabischkurs: „Wisst ihr, heute frueh, als ich aus dem Haus gehen wollte, fiel mir auf einmal das Kopftuch ein. Da habe ich es eben umgebunden.“ Seit diesem Tage habe ich sie in der Oeffentlichkeit nicht mehr ohne Tuch gesehen. Wie erwartet gab es anfaenglich noch einige Diskussionen in ihrer Familie und Nachbarschaft. Dilek, Nurtens juengere Schwester, erzaehlte mir spaeter: „Die Nachbarn haben sofort gedacht, Nurten haette geheiratet. Die sind gar nicht erst auf die Idee gekommen, dass sie das von alleine gemacht haben koennte.“ Die Verwandtschaft dagegen, sowohl in Deutschland als auch in der Tuerkei, fand, Nurten sei mit 22 Jahren noch viel zu jung fuer das Kopftuch. Dileks Kommentar: „Die denken alle, sie haetten spaeter noch genug Zeit dazu. Wenn sie mal vierzig sind. Wer sagt denen denn, dass sie jemals so alt werden?“ Dilek selbst traegt kein Kopftuch. Ihre Mutter jedoch folgte nach einiger Zeit Nurtens Beispiel.
An der Uni hatten die tuerkischen Studentinnen die Idee aufgebracht, eine eigene Gebetsecke fuer Frauen anzulegen, da der Treppenabsatz oberhalb des Instituts zu klein geworden sei. Tatsaechlich konnten dort nicht mehr als vier Personen gleichzeitig beten, was in „Stosszeiten“, wie dem Ende der Vorlesung von Professor Falaturi, lange Wartezeiten im Flur verursachte. Was wiederum nicht gerade Freude im Institut ausloeste. Standardsatz: “Muesst ihr alle hier im Flur rumstehen?“
Oberhalb der bestehenden Gebetsecke befand sich ein zweiter Absatz. Dort gab es eine Dachluke und den Zugang zum Aufzugsschacht. Ausser dem Aufzugswartungsdienst und den Dachdeckern kam nie jemand herauf - und wann kommen die schon einmal. 
Schnell war das Noetigste besprochen. Und bald schon rueckten Nurten, Huelya, Selda und Nadja mit weisser Farbe an. Das Resultat konnte sich sehen lassen. Eine nette kleine Ecke mit islamischen Bildern an frisch gestrichenen Waenden. Der Boden wurde mit einem Rest Teppichboden ausgelegt. Gebetsteppiche wurden sorgfaeltig zusammengefaltet in einem Karton verwahrt, wo sie bei Bedarf schnell zur Hand waren. Und sogar ein Laempchen hatten die Studentinnen angebracht. Der Strom dafuer kam per Verlaengerungsschnur aus der darunterliegenden Etage. Bald lagen auch islamische Broschueren und Illustrierten aus, damit man sich die Zeit vertreiben konnte. Denn wir begannen, unsere Freistunden auf diesem „ehemaligen“ Treppenabsatz zu verbringen. Ich habe eines meiner Referate dort geschrieben. Und im Ramadan, dem islamischen Fastenmonat, trafen sich einige Studentinnen dort gegen Abend, um mit Boerek und Kartoffelsalat gemeinsam das Fasten zu brechen.
Meistens kamen wir jedoch tatsaechlich zum Beten. Ebenso wie die „Brueder“. So manches Mal verrichteten wir ueber die Treppe hinweg mit den Maennern zusammen das Gemeinschaftsgebet. 

Leider war unsere Freude ueber unsere eigene Ecke von kurzer Dauer. Denn bald teilte uns die Institutsleitung mit, dass die Nutzung des Treppenabsatzes in dieser Form nicht mehr geduldet werden koenne. Warum? Es wuerde ueber uns geredet!
Unter anderem sei das Institut schon in ganz Deutschland als „Moschee mit angeschlossenem Institut“ verrufen, auf ein Maedchen sei Druck ausgeuebt worden, so dass sie jetzt ein Kopftuch trage (Nurten!), und die Frauen seien von fundamentalistischen Maennern in die letzte Ecke abgedraengt worden (unsere „Frauenecke“!).
Ungeachtet all dieser Vorwuerfe sei es unertraeglich, dass sich Auslaender vor der Institutstuer versammeln, sich laut in Fremdsprachen unterhalten und lachen. Wer weiss, worueber. Der Professor vermutete: „Die lachen bestimmt ueber mich!“
Natuerlich protestierten wir. Worauf uns der Institutsleiter zu bedenken gab, einen Anspruch auf einen Gebetsplatz am Institut haetten wir ja sowieso nicht. Da koenne ja jeder kommen. Etwa Buddhisten oder Hindus oder irgendeine Sekte. Er ergaenzte seine Ausfuehrungen dann jedoch mit Seitenblick auf die Hilfskraefte des Instituts, von denen wohl die Beschwerden ueber die Gebetsecke in erster Linie kamen: „Aber wir wollen doch mal realistisch sein. Ausser Ihnen wird wohl niemand mehr kommen und um einen Gebetsplatz bitten.“
Also verblieben wir so, dass unsere „Aktivitaeten“ aufzuhoeren und unsere „Einrichtungsgegenstaende“ unverzueglich zu verschwinden hatten. Der erste Treppenabsatz, auf dem damals Ahmed und Yueksel zu beten begonnen hatten, durfte jedoch erstmal weiterhin zum Gebet genutzt werden. Probeweise. Und wirklich nur zum Gebet.

In der Zeit des gemeinsamen Gebets und der Hausaufgabenhilfe in der Moschee war auch der Gedanke eines eigenen Universitaetsvereins aufgekommen. Multinational, unabhaengig, basisdemokratisch, deutschsprachig und vor allem islamisch sollte er sein, dieser neue Verein.
Wir setzten eine huebsche Einladung auf. „MUSLIME!“ war dick gedruckt. Schliesslich war das das verbindende Element der gesuchten Mitglieder. Wenn auch Andersglaeubige zugelassen sein sollten. Ansonsten war die Einladung eher unscheinbar, sachlich gehalten, nicht zu fromm. Wir schrieben, wann und wo wir uns treffen wollten, um uns kennenzulernen und dass wir daran daechten, einen Verein zu gruenden.
Diese Einladungen wurden kopiert, und dann verteilten wir uns an der Uni, um zu plakatieren. In den naechsten drei Tagen haengten wir unsere Zettel wieder und wieder aus, denn immer wieder wurden sie abgerissen oder ueberklebt. 
Zum ersten Treffen in der arabischen Moschee kamen immerhin rund sechzig Leute. Auch der Imam war da. Sehr zu meiner Ueberraschung erfuhr ich, dass er noch als Student eingeschrieben war. Ich hatte ihn noch nie an der Uni gesehen.
Er erzaehlte uns von einer islamischen Studentengemeinde, die „zu seiner Zeit“ existiert und sogar das Freitagsgebet zusammen verrichtet hatte. Dieser Verein war dann aber irgendwann aufgegeben worden, als die damals aktiven muslimischen Studenten die Uni verliessen. Er bot uns an, unseren neuen Verein fuer uns zu organisieren oder uns zumindest mit Rat und Tat beiseite zu stehen. Er habe ja Erfahrung. Und er hatte auch schon eine ziemlich genaue Vorstellung davon, was man tun koenne.
So hatten wir uns das eigentlich nicht gedacht, dass die aelteren Semester die ganze Vereinsgestaltung in die Hand nehmen wuerden. Aber wie kann man das einem Imam in „seiner“ Moschee schonend beibringen? Menem, der deutsche Muslim, der an diesem Tag die Diskussionsleitung uebernommen hatte, machte es mir vor. Er sagte: „Danke, Bruder, fuer deinen guten Rat. Wir werden ihn uns zu Herzen nehmen. Moechte sonst noch jemand etwas sagen?“ 
Damit war das Thema abgeschlossen. Wir ernannten dann an diesem Tage noch eine Kommission, die eine Satzung fuer den neu zu gruendenden Studentenverein ausarbeiten sollte. Menem war diese Satzung sehr wichtig. Sie sollte die Grundziele des Vereins wie Unabhaengigkeit, deutsche Sprache und natuerlich die islamische Grundhaltung bestmoeglich schuetzen. Und auch die Moeglichkeit einer spaeteren Uebernahme durch eine andere Gruppe sollte ausgeschlossen werden.
Mohamed fand die entsprechenden detaillierten Klauseln eher ueberfluessig. Eine Satzung, gut, die musste her. Schliesslich sollte der Verein an der Universitaet eingetragen werden. Aber „Die Deutschen zerbrechen sich ihre Koepfe staendig ueber Probleme, die wahrscheinlich nie auftreten werden.“ Er hatte nicht so ganz unrecht.  „Was aber, wenn, mal rein hypothetisch gesehen ...“ ist tatsaechlich der Anfang einer typisch deutschen Frage. Wie wir Deutschen auch dazu neigen, Dinge, die schon mindestens dreimal gesagt wurden, unbedingt noch einmal in unseren eigenen Worten wiederholen zu muessen. Diese Eigenart, die vermutlich von der Bewertung muendlicher Leistung in den Schulen herruehrt, ist in Diskussionen ausserordentlich zeitraubend und wenig effektiv.
Die Araber sind da ganz anders. Dort wird in den Schulen sowieso nichts diskutiert. So hat man gelernt, den Mund zu halten, solange man nichts wirklich wichtiges zu sagen hat.
Nun, trotz der deutschen Beteiligung wurde die Satzung irgendwann einmal fertig. Und auch Menem war zufrieden: „Und wenn wirklich der Verein von Atheisten unterwandert wird, dann trete ich eben aus und gruende einen neuen Verein.“
Und dann kam endlich der grosse Tag der Vereinsgruendung heran. Wir stimmten ueber den Vereinsnamen ab (alle drei Bestandteile des Namens wurden einzeln zur Abstimmung gebracht!) und waehlten einen ersten fuenfkoepfigen Vorstand. Jeder hatte fuenf beliebige Namen auf einen Zettel schreiben koennen. Danach wurde ausgezaehlt. Gewaehlt wurden mit zum Teil ueberwaeltigender Mehrheit die Initiatoren des Vereins: Mohamed, Ahmed, Menem, Ali und ich. 

Dann reichten wir unsere Unterlagen an der Uni ein. Die Satzung war auf Wunsch diverser Mitglieder noch zweimal ueberarbeitet worden. Und das Protokoll der Gruendungsversammlung hatten schliesslich etwa dreissig Gruendungsmitglieder unterschrieben. So wurden wir zu einem eingetragenen Universitaetsverein.
Tatsaechlich verschwand die muehsam ausgearbeitete Satzung, wie von Mohamed angekuendigt, gleich nach der Vereinsgruendung in der Schublade. Und ebenso verschwand auch ein Teil der Gruendungsmitglieder auf Nimmerwiedersehen. Die Vereinsarbeit jedoch begann.
Der Verein traf sich einmal woechentlich an der Uni. Und zwar nutzten wir einen Raum des Akademischen Auslandsamtes, der Veranstaltungen auslaendischer Studenten vorbehalten war. Hier erwies sich der hohe Auslaenderanteil in unserem Verein als Vorteil. Mohamed und Ali gingen zum Raumvergabe-Termin und sicherten uns einmal woechentlich den besagten Raum. Es handelte sich um einen grossen Kellerraum mit schmutzig-weissen Waenden, spaerlich mit Tischen und Stuehlen moebliert. Meistens wurde er wohl als Partykeller benutzt. Im Vergleich zum freundlichen Gebetssaal der Moschee war er unaussprechlich haesslich.
Aber er diente seinem Zweck.
Zu den woechentlichen Treffen kamen dann doch wieder etwa dreissig Studenten und Studentinnen regelmaessig.
Wir hielten dort Vortraege zu islamischen Themen, wie „Islam in Indonesien“ (anhand der Magisterarbeit eines Vereinsmitglieds), „Malcolm X“ (inspiriert durch den gleichnamigen Film) oder „Islamisches Benehmen“ (ganz praxis-orientiert, und doch gemaess Koran und Sunna). Manchmal kamen sogar Gastreferenten. Mitglieder von Moscheevereinen stellten „ihren“ Verein vor. Deutsche Studenten praesentierten ihre Abschlussarbeiten, die sie im Bereich „Auslaenderarbeit“ geschrieben hatten. Und Studenten berichteten aus ihren Heimatlaendern bzw. von ihren Urlaubsreisen in muslimische Staaten. Wir tauschten die neuesten Neuigkeiten aus, knabberten Gebaeck und tranken Saft, den Mitglieder gespendet hatten. Wir erzaehlten uns, wo man welche islamische Kleidung guenstig kaufen konnte, welcher Verein gerade mal wieder Schwimmen fuer Muslime anbot oder wo es kostenlose Arabischkurse gab. Zeitweise bot der Verein sogar selber einen Arabischkurs und einen Kurs fuer Seidenmalerei an.
Wir organisierten islamische Picknicks, Wohltaetigkeitsbazare und aehnliches, an denen bis zu einhundert Leute teilnahmen. Vereinsmitglieder bedruckten sogar T-Shirts mit unserem neuen Logo “Yes, we are Muslims!“ und versteigerten sie meistbietend fuer einen guten Zweck. Auch Tasnim, meine kleine Tochter, hat als Baby ein solches T-Shirt besessen.
Studienanfaenger luden wir am Semesteranfang per Info-Tisch ein.
Und fuer groesseres Publikum veranstalteten wir in Zusammenarbeit mit einem anderen islamischen Verein eine „Islamwoche“. Wir beschafften vom Islam-Archiv in Soest eine Ausstellung zur Geschichte des Islam in Deutschland, die wir im Foyer des Hoersaalgebaeudes aufbauten, und organisierten eine Woche lang taegliche Abendveranstaltungen. Die Resonanz war ueberraschend gross.
Unser Infotisch war ebenso gut besucht, wie die Ausstellung, die Vortraege, die Podiumsdiskussion und die Filmvorfuehrung. Und im Anschluss an das offizielle Programm kam es zu ausgiebigen Zuschauerdiskussionen. Allgemein wurde der Gedanke begruesst, ein Forum zu schaffen, wo Muslime und Nichtmuslime sich begegnen und diskutieren koennen.
Sogar der Univerwaltung war es einen Brief wert. Man teilte uns schriftlich mit, das naechste Mal doch bitte den Namen des veranstaltenden Vereins groesser zu schreiben. Es waere teilweise angenommen worden, es habe sich um eine offizielle Aktion der Universitaet gehalten.

Von Anfang an hatten wir uns bemueht, kein weiterer Verein zu sein in der langen Liste derer, die um die Ehre konkurrieren, den „richtigen“ Islam zu vertreten. Deshalb hatten wir es auch begruesst, dass unsere Mitglieder aus den unterschiedlichsten muslimischen Vereinen und Richtungen kamen. Wir waren „islamisch neutral“. Vielleicht lag fuer den aufgeschlossenen deutschen Buerger die Betonung etwas zu sehr auf dem „islamisch“. „Wir stellen uns doch nicht mit lauter Kopftuchfrauen auf die Strasse. Wir hatten Sie fuer aufgeschlossener gehalten.“ sagten uns die Vertreterinnen diverser Frauen- und Menschenrechtsvereine, als sie uns von ihrer Frauen-Demo fuer bosnische Frauen ausluden. 
Wir waren jedoch neutral genug, um Ansprechpartner zu werden fuer Kirchenvertreter auf der Suche nach Dialogpartnern und Gastrednern fuer Vortraege ueber den Islam. Journalisten, die muslimische Stellungnahmen von „einfachen Leuten“ fuer Radiosendungen brauchten, wendeten sich ebenso an uns wie Fachschaftsvertreter der Orientalistik, die einen Moscheebesuch organisieren wollten. Und auch fuer die Fluechtlinge in Bosnien konnten wir doch noch etwas tun. In Zusammenarbeit mit unter anderem einer bosnischen humanitaeren Hilfsorganisation sammelten wir Kleidung und Gelder fuer die Fluechtlingshilfe. 

Wir waren auch neutral genug, um muslimische Studenten aus aller Welt anzusprechen. Tuerken, Araber, Deutsche, ein Indonesier, eine US-Amerikanerin, eine Schweizerin, ein Iraner, um nur einige zu nennen, kamen zu unseren Treffen. Deutsche halfen Auslaendern, sich in der deutschen Buerokratie zurechtzufinden und machten dabei die Erfahrung, dass Auslaender in Deutschland zu sein nicht immer angenehm ist. Und Studenten aus islamischem Elternhaus dachten zum ersten Mal darueber nach, wie das wohl ist, wenn man in einer Familie lebt, die sich - im besten Falle - nicht im geringsten fuer den Islam interessiert. 
Wir begannen langsam, ueber unseren Vorgarten hinauszusehen. 

Natuerlich stellte die Zusammenarbeit mit so unterschiedlichen Menschen auch eine Herausforderung an die Vereinsmitglieder selbst dar. Im Verein hatte es von Anfang an einen schwelenden Konflikt gegeben zwischen den Vertretern eher strengerer Auslegung der islamischen Vorschriften („Wozu soll ich mich mit Zweifeln belasten und mich unnoetig in Versuchung fuehren?“) und den Vertretern des eher liberalen Fluegels („Das wichtigste ist doch, dass ich den Islam im Herzen habe.“).
Im Koran wird den Muslimen ein Platz jenseits aller Extreme zugedacht: „Und so machten Wir euch zu einer Gemeinde in der Mitte ...“ (2:143) In manchen Faellen ist es jedoch gar nicht so einfach, einen Mittelweg zwischen den berechtigten Interessen verschiedener Seiten zu finden.
So ging es beispielsweise um die Sitzordnung: Sollen Maenner und Frauen zusammen sitzen, oder getrennt voneinander? Und wenn getrennt voneinander, dann in welchem Abstand? 
Oder Studenten baten darum, Studentinnen die Empfehlung zu geben, sich doch demnaechst bitte „anstaendiger“ zu kleiden. „Ja, ist das denn hier ein islamischer Verein, oder nicht?“ 
Einerseits wollten wir natuerlich offen sein fuer jeden. Andererseits waren wir tatsaechlich ein islamischer Verein und wollten als solcher auch Profil zeigen.
Also einigten wir uns darauf, dass Maenner und Frauen zwar im gleichen Raum sassen, aber an getrennten Tischen. Und die Frauen trugen, was sie wollten.

Natuerlich waren nicht alle Mitglieder zufrieden mit dieser Loesung. Aber ohne Kompromisse geht es eben nicht. Das mussten diejenigen einsehen, die ihre Freiheit ueber alles lieben und nie gelernt haben, Ruecksicht auf die Gefuehle anderer Menschen zu nehmen. Aber auch diejenigen, die die Grenzen des Islam fuer sich selbst und andere sehr eng ziehen und es sich zur Aufgabe gemacht haben, die anderen zu einer „islamischeren“ Lebensweise anzuhalten. „Schwestern“ verbieten „Schwestern“ „unweibliche“ Kurzhaarschnitte und geben Empfehlungen fuer das Alltagsverhalten: „Aber du darfst doch eine andere Schwester nicht auf offener Strasse mit Kuesschen auf die Wange begruessen. Was, wenn dich ein Mann dabei sieht?“ Und vor allem Araber raten dringend das Erlernen der arabischen Sprache an: „Jeder Muslim muss Arabisch lernen. Sonst kann er ja den Koran nicht lesen. Eigentlich muessten wir auch hier im Verein Arabisch sprechen. Schliesslich sind wir doch alle Muslime. Und Arabisch ist nun einmal die Sprache der Muslime.“
Und stets wird zum freiwilligen Gottesdienst aufgerufen. „Die fuenf taeglichen Gebete sind doch nur das absolute Minimum. Natuerlich musst du zusaetzlich noch beten!“ Auch das Fasten im Monat Ramadan ist vielen zu wenig. „Wie, fastest du nicht jeden Montag und Donnerstag, wie das der Prophet gemacht hat?“ 
Immer schwingt - gewollt oder ungewollt - der Vorwurf der mangelhaften Religionsauusuebung mit. Der Druck, den diese Menschen auf sich selbst und auf andere ausueben, ist enorm. Ob Gott das gemeint hat, als er die Glaeubigen aufrief: „Und es soll unter euch eine Gemeinschaft sein, die zum Guten aufruft - und das Rechte gebietet und Unrecht verwehrt. Sie sind es, die erfolgreich sein werden.“ (3:104) ?
Im Koran steht auch: “... Gott will es euch leicht, Er will es euch nicht schwer machen...“ (2:185) Der Prophet Muhammad ermahnte die Muslime entsprechend: “Macht es den Menschen leicht, erschwert es ihnen nicht!“ (SAHIH AL-BUHARI:50) „Euch wurde nur das vorgeschrieben, was ihr zu leisten vermoegt! Bei Gott, ihr werdet des endlosen Betens ueberdruessig werden, bevor Gott Ueberdruss empfindet! Die regelmaessige und massvolle Religionsausuebung ist Gott am liebsten!“ (SAHIH AL-BUHARI:41)
Wir sollten unsere Ansprueche vielleicht etwas zurueckschrauben. Solange wir im islamischen Rahmen bleiben, gibt es keinen Grund, uns das Leben zu erschweren. Es ist nicht unsere Aufgabe, ueber die anderen zu Gericht zu sitzen. Keine zwei Finger sind gleich, ganz zu schweigen von zwei Menschen. Der Koran ermahnt uns: “Und weise deine Wange nicht (veraechtlich) den Menschen und wandle nicht hochmuetig auf Erden. Wahrlich, Gott liebt keinen, der ueberheblich und prahlerisch ist.“ (31:18)

Der Islam erwies sich jedoch als tragfaehig. Trotz unserer Unterschiedlichkeit lernten wir, miteinander auszukommen. Menem erklaerte mir einmal, wie er auch die groessten Nervensaegen noch ertragen kann: „Du musst dir einfach vorstellen, wie sie sich im Gebet verbeugen und niederwerfen und was sie noch alles fuer Gott tun.“
Er hatte recht. Denn im Prinzip wollten wir doch alle das gleiche. So fuehlten wir uns trotz unserer Unterschiedlichkeit bald als Gemeinschaft. Wir begannen, zu verstehen, was im Koran gemeint sein muss mit „... und gedenket der Gnade Gottes, die Er euch erwiesen hat, als ihr Feinde wart und Er eure Herzen in Liebe vereinte, so dass ihr durch Seine Gnade zu Bruedern wurdet...“ (3:103) 
Ich denke, dass darin der Schluessel fuer das Zusammenleben ueberhaupt liegt. „Liebe“ hat in diesem Sinne nichts mit Freundschaft oder Einvernehmen zu tun, ja nicht einmal mit Sympathien. Es ist einfach nur die alte neue Weisheit: „Keiner von euch ist glaeubig, bis er fuer seinen Bruder wuenscht, was er fuer sich selbst wuenscht.“ (AL-NAWAWI:Nr.13)
So begann sich eine wirklich herzliche Atmosphaere zu entwickeln. Jeder Muslim galt als Bruder und jede Muslima als Schwester. Und das war auch so gemeint. Einmal am Info-Tisch verwies ich einen mir unbekannten tuerkischen Studenten mit einer Frage an Menem weiter: „Menem, dieser Bruder hat eine Frage.“
Jahre spaeter, als derselbe Student im Vorstand unseres Vereins war, sagte er mir einmal, dass ich die erste Person war, die ihn jemals Bruder genannt hat. Abgesehen von seinen leiblichen Geschwistern natuerlich. Das hatte grossen Eindruck auf ihn gemacht.
Sind es wirklich diese „Kleinigkeiten“, wie die Wortwahl, die die Herzen erreichen? Muessen wir nicht viel bewusster, viel vorsichtiger mit unserem Mundwerk umgehen? „Gott, schenke uns eine gedenkende Zunge!“ bittet ein Muslim im Wissen darum, wie leicht Tratsch, Beleidigungen und ueble Nachrede ueber die Zunge gehen. Und das, was einmal ausgesprochen wurde, laesst sich nicht wieder zuruecknehmen.
Da habe ich viel von Nurtens aelterem Bruder Yilmaz gelernt. Nie habe ich ihn etwas Negatives ueber andere sagen hoeren. Er meinte immer: „Jeder muss das, was er tut, vor Gott verantworten. Wenn ich ueber anderer Leute Fehler herziehe, werde ich spaeter fuer meine Worte zur Rechenschaft gezogen. Warum sollte ich das also tun?“
So hat sich Yilmaz eben nicht in anderer Leute Angelegenheiten eingemischt. Er war immer freundlich und kam mit jedermann gut aus. Seine Herzlichkeit machte selbst vor dem schmuddeligen Stadtstreicher nicht halt, der eines Tages an unserem schoenen Ramadanbuffet an der Uni erschien. Ich hatte Yilmaz zusammen mit zwei weiteren Studentinnen gebeten, sich darum zu kuemmern, diesen „Penner“ moeglichst schnell wieder loszuwerden. Er sah uns erstaunt an und fragte: „Warum denn? Es ist doch genug zu essen da.“ Dann ging er auf den Stadtstreicher zu und lud ihn freundlich zum Bleiben ein. Ja, er drueckte ihm sogar einen Teller und eine Gabel in die Hand und war ihm am Buffet behilflich. So beschaemt habe ich mich selten in meinem Leben gefuehlt.

Stueck fuer Stueck begriff ich, was es heisst, Muslim zu sein. Im Koran steht: „Es ist nicht Froemmigkeit, dass ihr Eure Gesichter (beim Gebet) dem Osten oder dem Westen zuwendet. Froemmigkeit ist vielmehr, an Gott zu glauben, den Juengsten Tag, die Engel, das Buch und die Propheten, (von) dem Besitz - obwohl man ihn liebt - zu geben den Verwandten, den Waisen, den Armen, dem Wanderer, den Bettlern, und fuer (das Freikaufen von) Sklaven, das Gebet zu verrichten und Zakat zu geben. Und (fromm sind) diejenigen, die ihr Versprechen halten, wenn sie es gegeben haben und diejenigen, die in Elend, Not und zu Zeiten von Unheil geduldig sind. Sie sind es, die wahrhaft und gottesfuerchtig sind.“ (2:177) 
Und an anderer Stelle wird der Prophet Muhammad aufgefordert, zu einigen muslimischen Wuestenarabern zu sagen: „Ihr glaubt nicht; sagt vielmehr: ’Wir haben den Islam angenommen.’, und der Glaube ist noch nicht in Eure Herzen eingedrungen.’... “ (49:14)  
Ich bin nicht allein deshalb glaeubig, weil ich bete, faste und ein Kopftuch trage. Ist mir Gott nicht naeher, als meine Halsschlagader? Sieht er nicht auch, was in den Herzen ist? „Wahrlich, Gott weiss um die Geheimnisse der Himmel und der Erde. Wahrlich, er weiss, was in den Herzen verborgen ist.“ (35:38) Der Prophet Muhammad sagte einmal: 
„Keiner von euch ist glaeubig, bis sein Wollen dem entspricht, womit ich gekommen bin.“ (AL-NAWAWI:Nr.41) „Iman“, der Glaube, ist eine Steigerung des Islam. Und doch ist Islam „das glaeubige Tun, das aus Iman hervorgeht.“ (DENFFER 1986:75) 
Das eine ist ohne da andere kaum denkbar. 
Glaeubig ist man entweder ganz oder gar nicht. Und doch ist Gott barmherzig, der Allerbarmer.

Einer der Zeitgenossen des Propheten, Anas Ibn Malik, berichtete: „Ich und der Prophet kamen gerade aus der Moschee, als ein Mann zu uns trat und sagte: „O Gesandter Gottes, wann ist die Stunde des Gerichts?“ Der Prophet fragte ihn: „Wie hast du dich auf die Stunde vorbereitet?“ Ich hatte den Eindruck, dass der Mann bei dieser Frage zusammenzuckte und erschrak. Dann sagte er: „O Gesandter Gottes, ich habe nicht oft gefastet, ich habe nur selten gebetet und wenig Almosen gegeben. Aber ich liebe Gott und seinen Gesandten.“ Der Prophet sagte: „Du wirst bei denen sein, die du liebst.“  (SAHIH AL-BUHARI:476)