Die Grenzen auflösen - Vielheit leben


Wie oben bereits angedeutet, leben verschiedene Nutzer Online-Identität auf verschiedene Weise. Jeder nutzt das Netz seinen Bedürfnissen entsprechend. Es scheinen jedoch bestimmte, sich immer wiederholende Grundmuster zu bestehen.

Viele Netzbenutzer spielen in bestimmten, themenorientierten MUDs Rollenspiele, das heißt sie legen sich einen in das Setting des MUDs passenden Charakter zu, definieren seine Eigenschaften und agieren innerhalb dieser selbstgewählten Rolle mehr oder weniger mit der Rolle stimmig.

Turkle belegt, daß auch in MUDs ähnliche Effekte auftreten, wie im traditionellen Rollenspiel. Entgegen der landläufigen Vorurteile muß das sich-einlassen auf ein Rollenspiel - wie etwa ein Weltraumrollenspiel oder ein Fantasyrollenspiel in der Tradition von Dungeons & Dragons - weder eine Flucht aus der Realität in eine einfachere Welt sein, noch muß es notwendigerweise gefährlich oder deprimierend sein (Turkle erwähnt in diesem Zusammenhang einen Suizidfall beim Dungeon&Dragons-Spiel).

Anhand der Erfahrung der neunzehnjährigen Julee beschreibt Turkle (1995), wie physische Rollenspiele psychologisch konstruktiv und sogar therapeutisch wirken können. Julee machte dabei innerhalb eines Rollenspiels eine geradezu kathartische Erfahrung, als sie mit der Frau, die im Rollenspiel ihre Tochter verkörperte, das Gespräch führen konnte, das ihr ihre richtige Mutter so lange verweigert hatte (Die richtige Mutter, streng katholisch, hatte den Kontakt zur Tochter abgebrochen, nachdem sie von deren Abtreibung erfahren hatte, und die Tochter, Julee, litt unter dieser Situation sehr) . Julee brach schließlich, in einem symbolischen Akt, das Muster, das sie in ihrem richtigen Leben so sehr belastete, mit dem Skript des Rollenspieles, das vorsah, daß sie ihre Tochter im Spiel verleugnen sollte. Im Spiel konnte Julee dieses Muster durchschauen und durchbrechen, indem sie auf die Spielsituation eine Situation ihres eigenen Lebens projizierte.

Anders als bei physischen Rollenspielen , wo die beteiligten sich gegenüberstehen und die auf bestimmte Rollenspielwochenenden oder ähnliches zeitlich begrenzt sind, gibt es für MUDs praktisch keine zeitlichen Limits. MUDs sind Tag und Nacht erreichbar und da das Klientel der MUDs aus den verschiedensten Zeitzonen stammt, finden sich dort auch nahezu immer Spieler. Da es im MUD kein festgesetztes Ende eines Spieles gibt, existiert auch nicht zwangsläufig ein Skript in dem Sinn, wie bei physischen Rollenspielen. Zwar ist meist das Setting festgelegt, etwa ein Wohnzimmer, eine Taverne, oder ein Garten, oder ein bestimmtes Zeitalter im MUD - etwa eine ferne Zukunft, oder das Mittelalter - doch kreieren die Spieler ihre Charaktere selbst und bestimmen oft auch die Handlung sehr frei.

Im IRC existieren ebenfalls Channels mit genau definiertem Handlungsrahmen , aber auch Channels, die lediglich um ein bestimmtes Thema gebildet wurden und in denen eine sehr freie Gestaltung der Charaktere möglich ist, sowie Channels die ganz frei von vordefinierten Handlungsrahmen oder Rahmen für die Charaktere sind . Wie in frei gestalteten MUDs wählen deren Channelbesucher ihre Charaktere ganz frei, das heißt sie bestimmen Namen Alter, Geschlecht, Spezies, Aussehen und Wesenszüge des Charakters, den sie in einem Channel verkörpern, ganz unabhängig von dem, was sie im RL sind. Im Gegensatz zum physischen Rollenspiel können die Nutzer sich im IRC oder in MUDs parallel in ihrer RL-Rolle und in mehreren Rollen im virtuellen Raum befinden und durch diese rotieren. Wenn zum Beispiel ein Nutzer am Computer seiner Arbeit nachgeht, und gleichzeitig in mehreren MUDs eingeloggt ist, erfährt er jede dieser parallelen Realitäten als einem Fenster zugeordnet. Er lebt parallel mehrere Realitäten, und in jeder dieser Realitäten ist er unter Umständen ein ganz anderer:

"[...] they periodically put their characters to sleep, remaining logged on to the game, but pursuing other activities. The MUD keeps running in a buried window. From time to time, they return to the game space. In this way, they break up their day and come to experience their lives as cycling through the real world and a series of virtual ones." (Turkle 1995)

Viele Nutzer beschreiben MUDs als eine angenehme Ergänzung zu ihren RL-Rollen, oft auch als gleichwertig zu ihrer RL-Rolle. Es gibt Nutzer, die den ganzen Tag eingeloggt sind, die in den MUDs ein 'Zweitleben' oder gar mehrere weitere Leben führen. Turkle beschreibt verschiedene Erfahrungen mit MUDs, die klar machen, daß das Rollenspiel auch in MUDs oder IRC nicht nur vom RL losgelöst als Flucht in eine virtuelle Welt gesehen werden kann. Vielmehr scheinen die Rollen, die im virtuellen Raum ausgefüllt werden, oftmals auf das RL zurückzuwirken, so wie auch die RL-Situation auf die Wahl der Rolle im MUD oder IRC einen Einfluß hat.

Eine sehr wichtige Komponente scheint die der sozialen Anerkennung zu sein. Dies kann im Kleinen der Fall sein, wie etwa bei dem von Turkle interviewten Softwaredesigner, der in seinem Büro ständig in einem MUD eingeloggt ist:

"[...]on one MUD, [ I ] start a few conversations going, put out a question or two about MUD matters, and ask people to drop off replies to me in a special in-box I have built in my MUD "office". Then I'll put my character to sleep and go off and do some work. Particularly if I'm in some conflict with someone at work it helps to be MUDding, because I know that when I get back to the MUD I'll have some appreciative mail waiting for me. Or sometimes I use a few rounds of MUD triumphs to psych myself up to deal with my boss." (Turkle 1995)

Für den Einzelnen wesentlich bedeutender werden solche Erfahrungen der Anerkennung sicherlich, wenn sie im RL größere Probleme in ihrem sozialen Umfeld haben. Turkle beschreibt die Erfahrung von Gordon, der in seiner Schulzeit ein Außenseiter war, bis er auf einer Reise die Erfahrung machte, daß ein neuer Anfang eine große Chance sein kann. In den MUDs hat er bereits mit vielen verschiedenen Charakteren Erfahrung gesammelt, und jeder dieser Online-Persönlichkeiten hat einen Charakterzug, den Gordon im RL entwickeln möchte. Indem er sich in verschiedenen MUD-Charakteren ausprobiert, arbeitet er an sich in einer kontrollierteren, gefahrloseren Umgebung. Hat eine seiner Online-Personen ihren psychologischen Nutzen für ihn verloren, legt er die Rolle ab. Gleichzeitig überträgt er Erfahrungen aus den MUDs in sein RL. Auf diese Weise kam er zu einem Selbst-Verständnis, in dem er sich selbst als "work in progress" begreift. Für Gordon hat jeder seiner Online-Charaktere ein Eigenleben und steht für sich, gleichzeitig steht aber auch jeder dieser Charaktere in direktem Bezug zu ihm, kann als Teil von ihm begriffen werden .

Dieses Beispiel, ebenso wie die anderen von Turkle in ihrer Untersuchung angeführten Beispiele, demonstriert deutlich die Wechselbeziehung und das Verwischen der Grenzen zwischen MUD und RL, das für viele Nutzer des Internet eine ganz selbstverständliche Erfahrung geworden ist. Gleich ob die Nutzer das Netz dazu verwenden, Situationen, die in ihrem RL traumatisch oder einfach nur zu ihrer Unzufriedenheit verlaufen sind, zu re-inszenieren und den Verlauf der Dinge dort zu ändern, oder um sich auszuprobieren: deutlich wird, daß die Benutzer nicht nur ihre RL-Persönlichkeit und Erfahrungen ins Netz einbringen, sondern daß viele von ihnen ebenso ihre Erfahrungen im Netz, sowie Aspekte ihrer Online-Persönlichkeiten in ihr RL übertragen.

Diese Wechselbeziehung gilt sicher für positive wie negative Erfahrungen, doch werden dadurch, daß man sich negativen Erfahrungen im Cyberspace eigentlich nicht stellen muß, sondern sich von vornherein wahrscheinlich eine angenehme Umgebung und Gemeinschaft aussucht, negative Erfahrungen eher kürzerer Natur sein (da Nutzer in der Regel einen Channel oder MUD verlassen, in dem sie sich nicht wohlfühlen) , während positive Erfahrungen zur Rückkehr in die betreffende Umgebung und Rolle animieren, und so positive Erfahrungen bestätigt und in ihren Effekten gefestigt werden können. Stellt sich aber ein Nutzer zum Beispiel negativem Feedback und nimmt eine Kritik seines Verhaltens an, kann es durchaus zu Lerneffekten kommen, die dann wiederum ebenfalls auf das RL zurückschlagen können. Durch modifizieren seiner Online-Persönlichkeit kann der Nutzer dann ausprobieren, welches Verhalten besser akzeptiert wird, doch wie oben erwähnt scheint diese Variante nicht sehr oft der Fall zu sein.

Insbesondere in Umgebungen, beziehungsweise Gemeinschaften, die den Usern vertraut sind, entsteht, in Kombination mit der gegebenen Anonymität, ein Gefühl, weniger verletzlich zu sein, und daraus beziehen viele Nutzer den Mut, sich auf neue Aspekte ihres Selbst einzulassen, die sie im RL verdrängen oder unterdrücken [müssen]. Es ist oft erstaunlich, wie offen manche Nutzer im Netz mit fremden Menschen über Dinge reden, von denen in ihrer RL-Umgebung niemand weiß. Gerade in Fällen, in denen ein Nutzer ein Problem hat, das gesellschaftlichen Tabuthemen betrifft, scheint das Internet eine Zuflucht aus dem im RL herrschenden Zwang zur Verdrängung von der normierten Rolle abweichender Persönlichkeitsaspekte darzustellen. Im schlechtesten Fall wird das Netz ewig dabei das 'Ventil' bleiben. Im Idealfall wird dieser Nutzer aber in seiner Internetgemeinschaft so viel Unterstützung erfahren, daß er vielleicht den Mut findet, sich auch im RL jemandem anzuvertrauen, und schließlich möglicherweise offen und in seinem Selbstbewußtsein gestärkt zu seiner Abweichung von der ihm gesellschaftlich zugewiesenen Rolle zu stehen .

Es ist klar, daß das Internet für verschiedenen Individuen verschiedene, wahrscheinlich zahllose Bedeutungen und Funktionen erfüllt. Dennoch scheinen, vor allem für regelmäßige Nutzer des IRC und der MUDs, die sich in mehreren Welten zuhause fühlen, die Erfahrungen der Cyberwelt nicht künstliche Zustände zu sein, sondern den Erfahrungen des RL gleichzusetzende Erfahrungen darzustellen, insofern als die Cyberwelt zwar andersartig, doch letztlich als nicht weniger real erlebt wird.

Man kann daher sagen, daß die Erfahrung der parallel gelebten Rollen, sowie das Ausleben verschiedener Persönlichkeiten im MUD (oder IRC oder ähnlichen Netzeinrichtungen) nicht eine auf das virtuelle begrenzte Erfahrung ist, sondern auch in deren RL hineinstrahlt, und somit auf die Identität[sbildung] des Nutzers einwirkt, indem sie die eigene Vielheit oder Multiplizität nicht nur theoretisch bewußt, sondern die Differenz auch erfahrbar macht und zudem ein Bewußtsein für die Unfixiertheit eines dezentrierten Selbst, also die Auflösung der traditionellen Grenzen des Subjektes zugunsten einer Vielheit gibt:

"Wer spricht? Wer handelt? Es gibt immer eine Vielfalt - selbst in einer sprechenden oder handelnden Person. Wir alle sind 'Gruppen'... ." (Deleuze/ Foucault 1977)

Auch die Erfahrung, daß Persönlichkeitsaspekte, die im RL-Umfeld einer Person nicht anerkannt werden, im Netz eventuell sogar als etwas positives betrachtet werden, kann als Bereicherung empfunden werden und letztlich dazu führen, daß eine Person leichter - weniger schuldbewußt, selbstbewußter - mit dem Widerspruch zwischen den Ansprüche von außen und den inneren Bedürfnissen zurechtkommt.

Letztlich kann diese Erfahrung einer selbstverständlichen inneren Vielheit auch lehren und üben lassen, vermeintliche Widersprüchlichkeiten innerhalb der eigenen Person nicht nur auszuhalten, sondern sie - im Sinne eines affirmativen Denkens wie Deleuze/ Foucault es beschreiben - als selbstverständlich zu sehen, schließlich und endlich zu einem Denken zu gelangen, das diese nicht länger als Widersprüche sieht. Diese Selbst-Erfahrung, also das Erleben der eigenen Vielheit, kann dazu beitragen, sich von der Idee des "einzigen und ewigen Ich" zu verabschieden und zu einem Denken zu gelangen, das affirmativ ist insofern als es "zur Divergenz ja sagt" .

Zu guter letzt kann gerade die Erfahrung, sich selbst zugleich als ein Vieles, als etwas Fragmentarisches und dennoch Stimmiges und Ganzes zu erleben dazu ermutigen, die eigene Multiplizität als Bereicherung zu genießen und möglicherweise auch im RL selbstbewußter mit Aspekten der eigenen Persönlichkeit umzugehen, die nicht mit den gesellschaftlich festgelegten Rollenbildern korrespondieren oder sogar mit ihnen kollidieren . Insofern birgt die Ermöglichung erfahrbarer Vielheit nicht nur für die einzelnen Nutzer, sondern auch für den gesellschaftlichen RL-Kontext innerhalb dessen diese Einzelnen agieren, ein Entwicklungs- und Veränderungspotential, das bislang in dieser Form nicht gegeben war. Bezüglich der Tendenz zur Ausübung von Druck hin auf Reduktion des Einzelnen zur Einheitlichkeit kann dieses Potential durchaus als subversiv bezeichnet werden, da es den Zwang "zum einzigen und ewigen Ich" (Deleuze/Foucault 1977) untergräbt.

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