ETHNOLOGIE - Zusammenfassungen


Die Selbstdarstellung im Alltag
oder: Wir spielen alle Theater

Ein Standardtext von Erving Goffman aus dem Jahr 1959


"Seine Verhaltensweise sieht wie ein Spiel aus", sagte einmal Sartre über einen Kaffeehauskellner. Goffman meint, unser gesamtes menschliches Verhalten sei ein (Schau-)Spiel. Ein Spiel, in dem wir verschiedene Rollen spielen, in denen wir uns möglichst gut verkaufen müssen. Die Selbstdarstellung beruhe auf dem Prinzip des "impression managements": Was dem erwünschten Eindruck dienlich ist, wird überbetont, anderes verborgen. Dafür sei das Leben in eine Frontstage, wo das Schauspiel stattfindet, und in eine Backstage, wo man quasi sich selbst sein kann, unterteilt.
"Jede gesellschaftliche Einrichtung kann unter dem Aspekt der Eindrucksmanipulation untersucht werden", findet Goffman. Dieses Prinzip sei charakteristisch für soziale Interaktion. Parfümverkäufer tragen wie Ärzte einen weissen Kittel, um den Eindruck zu erwecken, sie leisteten klinisch saubere Arbeit. Hindus halten sich an ihre Bräuche, wenn man sie beobachtet.

Für Goffman ist Selbstdarstellung eine Art Ritual, in der der Einzelne die anerkannten Werte der Gesellschaft verkörpert, erneuert und bestätigt. Solch eine bühnenwirksame Inszenierung verlangt das Publikum: "Ein Kolonialwarenhändler, der vor sich hinträumt, wirkt auf den Käufer anstössig, weil er nicht mehr durch und durch Kolonialwarenhändler ist."


Fassaden

Zu jeder Rolle gehört deshalb eine Fassade, ein standardisiertes Ausdrucksrepertoire mit Bühnenbild und Requisiten. Die Erwartungen des Publikums begrenzen die Ausformung der Rolle. Goffman: "Wenn ein Darsteller eine etablierte soziale Rolle übernimmt (z.B.) Kellner, wird er feststellen, dass es bereits eine bestimmte Fassade für diese Rolle gibt."

Für den Einzelnen bedeutet dies eine Anpassung an die Normen der Gesellschaft - zumindest während des Schauspiels auf der Frontstage. Dort muss er die Technik des "impression managements" beherrschen: Das Überbetonen von Aspekten, die dem erwünschten Eindruck dienlich sind und das Verbergen oder Unterlassen anderer Aspekte. Auf der Backstage kann man die Maske fallen lassen.


Informationskontrolle

Um den erweckten Eindruck aufrecht zu erhalten, muss der Zugang zur Backstage natürlich verhindert werden. Wirkungsvoll ist Mystifikation, die Wahrung sozialer Distanz (Könige, Minister etc). So wird die Entdeckung verhindert, dass es gar kein Mysterium gibt.

Informationskontrolle und Wahrung von Geheimnissen ist zentral. Das gilt besonders für Ensembles, für Gruppen von Leuten, die gemeinsam eine Rolle aufbauen (Parteien, Berufsstände, Vereine). Da offen ausgetragene Meinungsverschiedenheiten Missklang erzeugen, muss ein einheitliches Bild nach aussen präsentiert werden. Ensembles sind bestrebt, diese Situationsbestimmung durch ihre Darstellung zu wahren.

Mitglieder müssen sorgfältig ausgewählt werden. Eine Gruppenloyalität muss kreiert werden, zu naher Kontakt zum Publikum und anderen Ensembles vermieden werden, meint Goffman. Mit moralischer Stütze der Gruppe können Darsteller dann jede Art von Täuschung verüben. "Wartungsspezialisten" (Buchhalter, Zahnarzt, Hausmeister etc) versucht man gerne als Vertraute zu gewinnen. Sie stehen oft unter Schweigepflicht. Dienstboten betrachtet man als "Unpersonen". Unter Kollegen gilt: "Verätst Du mich nicht, verrate ich Dich auch nicht."


Aufbegehren gegen das Schauspielen

Ensembles begehren durchaus gegen die Ordnung auf. Wenn das Schauspiel zu sehr den eigenen Gefühlen widerspricht, wird die Situation gerne ins Lächerliche gezogen ("Herabsetzende Verschwörung"): Bei selbstkritischen Sitzungen in China werden z.B. die falschen Worte im Satz betont. Durch "enthüllende Kommunikation" (z.B. Bestehen auf Sandwich mit Roggenmehl) kann man demonstrativ zeigen, wo man ethnisch hingehören möchte.

Es gibt viele Realitäten, die einzelne Personen und Ensembles spielen. Goffman wollte deutlich machen, dass das Selbst nichts Organisches ist, sondern "eine dramatische Wirkung, die sich aus einer dargestellten Szene entfaltet". Die jeweiligen Mittel, dieses Selbst zu produzieren, sind für ihn in den sozialen Institutionen (Konventionen etc) verankert. Seine Theorien sind auch heute noch aktuell.


lk, 25.5.1997






Lorenz Khazaleh, Seite erstmals erstellt am 02.03.04

MEHR DAZU IM NETZ


Erving Goffman-Biographie (von B. Diane Blackwood) / siehe auch AnthroBase.com über Goffman

Mythos und Ritual in den Medien und der Politik (interessante Seite vom Institut für Kommunikation und Kultur in Luzern)

Selbstpräsentation auf privaten Homepages - ein Forschungsprojekt (Untersucht werden soll, durch welche Mittel die Selbstdarstellung auf den privaten Homepages erfolgt, welche Bereiche der Persönlichkeit vorwiegend präsentiert werden, welche Meinungen und Einstellungen die Befragten hinsichtlich der Glaubwürdigkeit von Identitätsdarstellungen im Netz haben - Sabina Misoch, Uni Karlsruhe) / siehe dazu auch Hugh Miller and Russell Mather (1998): The Presentation of Self in WWW Home Pages (SOSIG) und eine etwas laengere Version Hugh Miller (1995): The Presentation of Self in Electronic Life: Goffman on the Internet

MUDs - faszinierende virtuelle Welten. Ein Vergleich der Selbstdarstellung in Multi-User Dungeons und im "Realen Leben" mit Hilfe von Theorien Erving Goffmans - von Maja Coradi (Kap 3 bespricht eingehend Goffmans Theorien)

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BUCHAUSZUG (auf Englisch): Presentation of Self (Seiten 22-30, 70-76) / The Arts of Impression Management (Seiten 208-12).


Socio-Site: Noch mehr Goffman-Links!





Links aktualisiert: 11.5.05