Natur – x

Eine Theorie der Schilderbilder

Entwickelt von Christina Dichterliebchen
(nämlich die Theorie, nicht die Bilder)

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Ut pictura poesis.
Horaz

Das größte Problem beim Fotografieren sind die glotzenden Passanten. Sobald man etwas fotografiert, was keine Ähnlichkeit mit dem Kolosseum oder den Niagara-Fällen hat, bleiben sie stehen und denken, was fotografiert der denn da, fragen schlimmstenfalls sogar. Mir ist es sehr unangenehm, wenn Leute mir dabei zugucken, wie ich das in einem Fleischereischaufenster hängende Schild "Blutmagen grob, 100g 88 Pfennig" fotografiere.
Max Goldt

Man wendet zwar gut ein, daß die Praxis der Künstler unvermerkt die Theorie derselben leite und verleite; aber man füge auch bei, daß auch rückwärts die Lehre die That beherrsche...
Jean Paul: Vorschule der Ästhetik

 

Großstadtbilder. City Lights. Alltagsbeobachtungen. Dem Volk aufs Maul schauen. Alles schon mal da gewesen. Alltagspoesie? Vielleicht.

Da schnürt einer, die Kamera ums Handgelenk gewunden, durch den Kiez und knipst heimlich die stummen Lebensäußerungen der Bewohner. An den Straßen interessiert ihn nicht, wo sie hinführen. Die Schilder, die er liest, meinen nicht ihn. Sein Ziel ist der Weg. Sein Blick trifft nur die Buchstaben. Die Zeichen, die Namen. Die Schriftart, die Hausmauer, den Grad der Verwitterung, die Abwesenheit derer, die sie geschrieben haben. Die Bilder. Schilderbilder.

Ein Auto wird nur von knallbunten Reklameaufklebern zusammengehalten. Ein Fahrrad ist an den Pfosten gekettet, der – niemandem – ankündigt: Abgestellte Fahrräder werden entfernt. Im Eingang einer Betonkirche klebt ein Pappdeckel in der Handschrift des Mesners: Fotografieren verboten. Er hebt die Kamera, stellt auf Makro, Blende 3,5 bei einer Dreißigstel, und drückt ab. Es hallt.

Niemand hat ihn erwischt, Allwetterjacke und Jeans machen ihn unsichtbar. Die Bilder sind Beute. Diebstahl an halb geistigem, halb materiellem Eigentum. Eigentum wessen? Diebstahl zu wessen Schaden? Trotzdem vermisst er eine Leica, die lautlos zuschnappt. Sein Werkzeug und sein Revier sind neuzeitlich, das Jagen & Sammeln zutiefst archaisch.

Hinter den Müllplatz in einem zweiten Innenhof hat jemand an die Brandmauer gesprüht: Angesichts der Vergänglichkeit. Aus einem Fenster im zweiten Stock wacht eine geiernasige Großmutter. Anlegen, zielen, abdrücken.

„Darf ich fragen, was das werden soll?“ Quatsch: „Derf i frogn, wos des wern soi?“

Lässig spult er den Film mit dem Daumen weiter. „Kunst!“ ruft er hinauf. Großmutter ist mit auf dem Bild. Bevor sie sich auf ihre Rechte am eigenen Bild besinnen kann, dreht er sich um und geht, Beute im Gepäck.

Das Herumdrücken in finsteren Hinterhöfen, das vorsätzliche, organisierte Seelenstehlen bewegt sich am Rande der Legalität. Hoffentlich noch diesseits. Jederzeit kann ihm einer den Film abverlangen, dann war eine ganze Woche mit einem 36er Film für die Katz.

Das macht es zu einem heroischen Vorhaben. Kultur ist definiert, Duden, Band 5, als die Gesamtheit der geistigen und künstlerischen Lebensäußerungen einer Gemeinschaft, eines Volkes. Die dokumentiert er. Das hat nichts mit Sarkasmus zu tun.

Der Schilder aufstellende Mensch hat andere Sorgen als Rechtschreibung oder Ästhetik. Er will sich verständlich machen, nicht einen Pulitzer gewinnen. Wie leicht gerät da einer in die Ecke des White Trash, der ihn dabei beobachtet und die Ergebnisse sammelt. Dabei geht es um Kultur, nicht um Kult.

Eine Bewegung, die schon vorgestrig war, als sie ausbrach, gefiel sich darin, alles Mögliche so schlecht zu finden, dass es schon wieder gut ist. Sie feierte das, was sie für schlechten Geschmack hielt, und umgab sich mit seinen Attributen. Marienbilder, Cordhosen, Gartenzwerge, Country- und Schlagerplatten, Hawaiihemden und Dosenbier sollten einem Lebensgefühl Ausdruck geben, drückten aber höchstens Überheblichkeit aus. Das Spiel mit Geschmackstabus ging auf Kosten von Leuten, die der Spieler als unter sich stehend betrachtete. Man kokettierte damit, unter seinem Businesshemd ein Feinripp-Unterhemd anzuhaben, weil angeblich Bauarbeiter so was tragen. Man las Groschenhefte, weil das Schund ist und schlecht geschrieben. – Sinnlos, anderer Leute Sitten und Fähigkeiten abzukanzeln oder auch nur rührend süß zu finden: Jeder tut, was er kann, niemand produziert aus Bosheit Müll. Kein Grund demnach, ihn anzugreifen.

Und jetzt läuft einer in der Stadt rum und hält sein kaltes, analytisches Kameraauge auf die Rechtschreibfehler in Plakaten. Wen soll das bedienen? Yuppies, die den Proleten beim Leben zugucken wollen? Womöglich noch mit einem Augenzwinkern? Mit spitzer Feder und einem Blick für unfreiwillige Komik, der Alltagsbeobachtungen bis zur Kenntlichkeit entstellt, sodass einem das Lachen im Halse stecken bleibt?

Die Gefahr ist enorm. Wenn es denn so sein soll, bedient man die gleich noch mit. Immerhin sind sie nicht wirklich bösartig, schaden niemandem im engeren Sinne. Mögen sie in Frieden ihren Unrat ausgießen über jene, die er ohnehin nicht trifft.

Wer aber wirklich gemeint ist, das sind die Verständigen, die Bildermenschen, die sich an Worten freuen können, und die Schriftgelehrten, die nicht blind sind für das Bild. Es sind die Großstadtbewohner, sind die Landeier, die sehenden Auges umhergehen. Die sich Bilder an die Wand hängen, weil sie ihnen etwas sagen, nicht weil überm Sofa noch ein Platz frei ist. Die sich auf die Schönheit eines Satzes, eines Wortes nur, einen runterholen können. Die Spannung erkennen zwischen einem Schild, dem Text darauf und dem Rost daran. Die eine Einheit sehen in einem Graffito und seinem Untergrund. Die diese ewige Lustigmacherei so satt haben wie den heiligen Ernst großbürgerlicher Einschüchterungsbauten.

Die Vorstellung, dass Millionen Menschen an immer den gleichen Plätzen immer die gleichen Fotos machen, kann man erhebend finden oder dröge. Ist aber nicht alles Machbare schon getan, um den Eiffelturm oder das Glockenspiel am Münchner Rathaus zu abzulichten? Ist nicht der nackte weibliche Körper fotografisch erschöpfend erforscht? Es gilt neue Aspekte auszureizen. Wenden wir uns also dem zu, was Menschen so tun, was ihnen wichtig ist, wofür sie sich die Mühe machen, Schilder zu errichten und Botschaften zu verbreiten.

Trash Poetry? Per definitionem schon. Aber nicht, um das Treiben der kulturell Minderbemittelten zu bloßzustellen. Sondern um die Schönheit in dem aufzuspüren, was vorfindbar ist. Skurril? Ja. Alltag ist lakonisch. Der Mensch ist gut beraten, der sich darüber freut.

Häme ist wohlfeil. Es fällt leicht, sich über anderer Leute Rechtschreibschwäche zu beeiern, den grafischen Profi hervorzukehren, wenn ein Bild seine Möglichkeiten ungeschickt nutzt. Ironische Distanz ist Lebensverweigerung. Wer zugunsten des Überblicks über den Dingen kreist, hat leicht lästern.

Unser Künstler hat das verstanden. Was er betreibt, ist nicht weniger als empirisch angewandte Semiotik. Was er festnagelt, sind die Zeichen hinter den Zeichen: Der Buchstabe A ist zuallererst ein unten offenes Dreieck mit Querbalken. Erst in zweiter Linie instruiert es den Lesekundigen, den Mund zu öffnen und „A“ zu sagen (im Unterschied zu B oder E oder wie sie alle heißen). Wenn das A in besonderer Weise geschrieben wurde, bedeutet es, dass hier das Arbeitsamt wohnt oder dort jemand den Anarchismus befürwortet. Was aber kann uns ein Wort wie Media lehren, auf die Brüstung eines Kanals gesprüht? Welcher Lebensanschauung mag ein erwachsener Mann anhängen, der Donald Duck auf seiner Schirmmütze spazieren trägt? Führt der Notausgang tatsächlich durch den Sicherungskasten? In welchem allenfalls metaphysischen Zusammenhang steht das verrostete Badeverbot mit der Waldlichtung, die es bewacht?

Schilderbilder: Bilder von Bildern. Zeichen von Zeichen. Hier wird ein Projekt durchgezogen, das die populärsten unter den Semiotikern, die Professoren Doris Dörrie und Umberto Eco, ebenso gutheißen werden wie die künstlerisch subversiven Anarchisten unter uns. Bedeutungsebenen hat es genügend.

Wie jedes fotografische Unternehmen bewahrt es. Der halbwüchsige Junge, der, vor einem Elektrohäuschen im Isartal stehend, sachlich richtig erkannte: Kleines Penis ist schlecht, ist für uns vergangen, solange keine anderen Lebensäußerungen von ihm auf uns kommen. Selbst seine Erkenntnis ist heute von anderen Graffiti übertüncht und vergessen. Diese Erinnerung an ihn ist schön. Est ubi gloria nunc Babylonia? Wo ist der Schnee von gestern? Stat rosa pristina nomine, nomina nuda tenemus.

Schön ist ein verwittertes Herz in hundertjähriger Baumrinde, wenn es die Liebe überdauert. Eine städtische Anzeigentafel ist schön, wenn man sie nicht ernst nimmt. Und der Künstler weiß, er kann gute Arbeit leisten, wenn er sich selber nicht zu ernst nimmt: Die Lakonik des Großstadtlebens schleppt einen breit ausgewalzten Mythos mit. Wer die dingfest machen will, begibt sich in die Arbeitsweise der hardboiled Detektive bei Dashiell Hammett und Raymond Chandler. In dieser Romantik der Steppenwölfe kann man baden. Schon wahr: Der Fisch muss dem Angler schmecken. Trotzdem Vorsicht vor dem Bildermachen als Selbstzweck. Die Bilder sind sensibel, wollen nicht gestellt sein.

So wie das Hinweisschild zu einer Einrichtung, die sich offenbar nicht entscheiden kann, ob sie Biergarten oder Tiergarten sein will, und sich deshalb als Diergarten ankündigt.

Ein junger Türke in Taxifahrerlederjacke schaut zu, wie der Künstler die Entfernung einstellt.

„Knipst du?“ fragt er gebrochen, nicht unfreundlich.

„Nö“, antwortet der Künstler und drückt ab.

Der Türke schüttelt den Kopf, die Hände in den Jackentaschen, und schaut etwas unfreundlicher.

„Dann ich kauf dir ab dein Materietransformator“, mault er und geht seiner Wege. Auf seinem Rücken liest der Künstler in verwegenem Schriftzug etwas von einem Adler, der gerade eine Art Märchendrachen verspeist. Knips!

Das hat der Junge zwanzig Meter weiter gehört. Blitzschnell fährt er noch einmal herum und droht: „Pass auf du, Alter!“ Der Künstler dreht die Kamera off und ruft ihm hinterher: „Peace, ey!“

So bekommt jedes der Schilderbilder seine eigene Geschichte. Die besten sind die, die offensichtlich schon eine mitbringen. Aufgezeichnet ist sie innerhalb eines Sekundenbruchteils, und überlebt, so lange eine .jpg-Datei eben hält.

Schilder oder nicht, die Geschichten sind so ursprünglich wie das bewusste menschliche Erleben. Seitdem werden sie erzählt. Das war der Anfang aller Kultur. Heute, wo die ganze Menschheit das Prinzip des Ganges einer Handlung verinnerlicht hat, erzählt sie sich auch leicht in einem einzigen Bild.

Der junge Türke kommt zurückmarschiert und ereifert sich schon von weitem in dem Sinne, dass er dergleichen nicht nötig habe. Na gut, natürlich habe der Künstler hier geknipst, sähe man ja. Aber wenn er ihm jetzt mit Semiotik anfängt, kriegt er erst recht eins auf die Lichter.

Der Künstler bietet seine gesamte Sophistik auf. Nach kurzer Auseinandersetzung einigen sich die beiden darauf, dass Bilder tatsächlich irgendwie so ähnlich sind wie transformierte Materie.

„Versteh“, sagt der Junge, „fahr ich mit Auto an Baum vorbei, ist bloß Baum. Weit weg und gleich ganz weg. Halt ich an und schau, ist auch Baum. Aber hat Blätter und alles.“

„Genau“, bestätigt der Künstler. „Und kannst du dich drunter ausruhen oder dranpinkeln.“ Zum Abschied klopfen sie einander lachend auf die Schultern.

Darüber hinaus sind Schilderbilder visuelle Volkslieder: Sie werden nicht aus dem Nichts gestampft und zurechtgezimmert, wie dem Künstler es gefällt, sondern sind von vornherein da. Erneut wie die wirklich wahren Geschichten. Wie das Volkslied warten sie nur, bis jemand vorbeikommt, durch den sie sich manifestieren können. Volkslieder, Geschichten und Schilderbilder wachsen quasi auf den Bäumen. Sie brauchen nur jemanden, der sie erkennt. Das macht sie echt und unmittelbar, zu einem nur schwach gefilterten Ausschnitt aus der Kultur, aus unser aller Wirklichkeit. Nur auf ein Medium sind sie angewiesen. Wie alle Naturereignisse.

Ein Volkslied wird überleben, wenn es eine anrührende Melodie hat. Um sich in den Hirnen festzusetzen, hilft es ihm, wenn seine Melodie im positivsten Sinne schlicht genug ist für das Volk, in dem es lebt. Um die Zeiten zu überdauern, hilft ihm ein zeitlos gültiger Text.

Schilderbilder erfüllen somit sämtliche Paradigmen des Volkslieds: Die Schilder haben die plakative Form, auf die man sich ihrer Funktion zuliebe geeinigt hat, ihr Text ist von eingängiger Schlichtheit. Meist ist ihr Wortlaut eigentümlich vertraut. Schilder vermitteln keine komplexen Inhalte, sie werden nicht durch philosophische Erörterung die Welt retten. Was sie verkünden, muss schnell erfasst werden und notfalls umgesetzt werden können. Schilder greifen also unmittelbar in die Wirklichkeit ein. Wäre es vermessen, hier eine Parallele zum Zauberspruch zu vermuten?

Sind Zaubersprüche doch nichts anderes als der Versuch, durch das gesprochene, auch geschriebene, Wort die äußere Welt zu beeinflussen. Ein ganz alltägliches Stoppschild, und abrakadabra bleiben alle Autos an der Einmündung stehen. So retten sie den Verkehrsablauf, ja Menschenleben. Wer sich widersetzt, riskiert einen Unfall oder muss empfindliche Strafen gewärtigen. Die Strafe der Sakrilegien – und die Welt hebt an zu singen, triffst du nur das Zauberwort.

Schilderbildern wird diese normative Komponente genommen. Als sein eigenes Abbild verliert das Wort seinen Befehlscharakter. Dafür kommt die künstlerische Komponente hinzu: Die äußeren Gegebenheiten des Schildes werden konserviert und auf eine andere Ebene gehoben. Nach Schilderbildern muss sich niemand richten. Sie wollen nur wahrgenommen werden, nicht dirigieren.

Was ebenso erhalten bleibt, ist der frappierende Wiedererkennungswert ihrer Texte. So sind Schilderbilder niemals vollkommen fremdartig. Ihre Elemente sind allgemein bekannt. Nur eben in ihrem neuen Kontext transzendent.

Das alles der urbanen oder ländlichen Zivilisation nachempfunden, beinhart an der Realität, ungekünstelt. Aus ihrem innewohnenden Konzept heraus folgen sie der naturalistischen Formel: Kunst = Natur – x, nach Arno Holz mit x à 0 – wobei das x allein durch das Arbeitsgerät definiert wird: die Fotokamera, die sprichwörtlich akkurat die Natur abbildet. Die Formel geht auf. Wenn das keine Kunstform ist, gibt es keine.

Parodie war gestern, heute sind Schilderbilder. Warum der Künstler dann nicht gleich mit einer Lomo unterwegs ist? Eine Lomo atmete den richtigen Spirit. Hat aber keinen Sucher.

Er biegt aus einer Nebenstraße auf den Maximiliansplatz. Von weitem sieht er sich ein Mädchen entgegenwippen, viel zu alt für ihre blonden Gretchenzöpfe, viel zu jung für ihre 70er-Jahre-Plateauschuhe. Bonbonfarbenes Röckchen. Von ihrem Rucksack baumelt ein neonrosa Plüschelefant. Wahrscheinlich benutzt sie Erdbeerlippenstift. Auf ihrem T-Shirt prangt, o Graus, das Wort Zicke. Sofort dokumentieren!

Er legt die Kamera an und tut, als ob er ein architektonisches Objekt weit hinter dem Mädchen fixiert, stellt heimlich auf ihre Knallerbsenbrüste in dem beschrifteten T-Shirt scharf. Gar nicht so einfach, solange sie immer wieder so eilig aus dem Fokus stakst.

Da bleibt sie stehen. Zieht den unteren T-Shirt-Rand mit beiden Händen straff. Grinst ihm mitten ins Objektiv. Knickst.

„Eins für die Sammlung“, lächelt sie.

Na bitte, geht doch.

 

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