Linth Zeitung, 22.11.2001


«Ich glaubte mich im Mittelalter»

Rapperswil: Vor einem voll besetzten Saal berichtete Louis Palmer über seine aufrüttelnden Erlebnisse in Afghanistan

Bilder von aufwühlender Authentizität waren es, die Louis Palmer im Kirchgemeindehaus Rapperswil zeigte. Alltagsbilder aus Afghanistan, wie der Lehrer sie im Sommer während seiner abenteuerlichen Reise durch das Land oft verbotenerweise festhielt. Gemildert wurden sie durch die spontane, auch immer wieder humorvolle Erzählung Louis Palmers, der den richtigen Ton traf zwischen Erlebnisbericht und Dokumentation.

JACQUELINE OLIVIER

Afghanistan ñ ein Land, über das wir in den vergangenen Jahren und insbesondere in den letzten zwei Monaten viel hörten, aber im Grunde nur wenig wissen. Über das zahlreiche Schauergeschichten im Umlauf sind, über deren Wahrheitsgehalt man sich von unseren Breitengraden aus bisher höchstens vage informieren konnte. Louis Palmers Diavortrag bestätigte einen Teil unserer Vorstellungen über dieses isolierte Land, widerlegte andere, übertraf auch einige.Vor allem aber brachten seine Bilder und Ausführungen eines zu Tage: Die von Kriegen, Unterdrückung und Dürre gebeutelten Menschen in Afghanistan brauchen Hilfe, heute mehr denn je.

Keine Bilder von lachenden Kindern

Dennoch drückt Louis Palmer mit seinen Schilderungen nicht auf die Tränendrüse. Es durfte an diesem Abend auch gelacht werden, und war es manchmal auch nur, um seiner eigenen Ungläubigkeit Ausdruck zu verleihen. Louis Palmers oft erschütternde Erlebnisse sind für die Afghanen grauer Alltag. «Im Moment, als ich die Grenze von Pakistan nach Af-ghanistan passiert hatte, glaubte ich mich im tiefsten Mittelalter», berichtete der Lehrer aus Luzern, der zurzeit in Rapperswil unterrichtet. «Sie werden auf meinen Bildern keine lachenden Kinder sehen», fuhr er fort, «denn ich habe keine angetroffen.Auf den Strassen gibt es keine fröhlichen Kinder, und zu den Familien hatte ich keinen Zutritt.» Überhaupt war das mit dem Fotografieren so eine Sache: Aufnahmen von Mensch und Tier wurden durch die Taliban unter rigorose Strafen gestellt, bei Landschaften und Gebäuden waren die Regeln widersprüchlich und selbst von den Taliban unterschiedlich gehandhabt. «Aber ich wollte ja fotografieren», so Louis Palmer, «ich wollte das festhalten, was eigentlich festzuhalten verboten war.»

Riskiert hat er dabei einiges. Oft konnte er nur dank Hilfe seiner afghanischen Begleiter, die erst das Hilfswerk Afghan Relief Committee (ARC), später die Entminungsorganisation Mine Detection and Dog Center (MDC) stellten, operieren. In Kabul fotografierte er durch die verdunkelte Rückscheibe eines afghanischen Wagens. In Herat lichtete er Strassenszenen von seinem Fahrrad aus ab. Nur in Kandahar, der Hochburg der Taliban, blieb seine Fotoaus-rüstung unbenutzt. Die Gefahr, in flagranti eines «Verbrechens» überführt zu werden, war zu gross.

Minenfelder und zerstörte Städte

Seine 15 Filme schmuggelte er schliesslich im Orangensaft in der Kühlbox über die Grenze nach Turkmenistan, wo ihm als Erstes das Grün ins Auge stach, nachdem er in Afghanistan 18 Tage lang karge Berg- und Wüstengegenden durchfahren hatte. Auf Hauptstrassen in bedenklichem Zustand, auf denen er kaum vorankam. Manchmal schaffte er in sieben Stunden 140 Kilometer. Flankiert oft von den Nomaden, die wie seit Hunderten von Jahren auf Kamelen ihrer Wege ziehen und denen man im Krankenhaus, wenn sie in ein Minenfeld geraten sind und ärztliche Hilfe brauchen, erst erklären muss, wie man eine Türfalle bedient, um von einem Zimmer ins andere zu gelangen.

Gerade diese Minenfelder machen der Bevölkerung Afghanistans zu schaffen. Jede Woche gibt es deswegen Verletzte und Tote. Dicht vermint wurde das Land von den Russen, doch auch Nordallianz und Taliban sind daran nicht unschuldig. Und wo immer Louis Palmer sich aufhielt, begegneten ihm fast auf Schritt und Tritt zerschossene russische Panzer, obwohl man ihm versicherte, die meisten dieser gespenstischen Stahlkadaver seien bereits weggeräumt worden.

Nebst den Panzern fand der Schweizer Reisende wüste Zerstörungen in den Städten vor, insbesondere in Kabul, das 1995 von den Kämpfern, die sich später zur Nordallianz zusammenschlossen, zu grossen Teilen dem Erdboden gleichgemacht wurde, aus dem einzelne Ruinen wie Mahnmale ragen.

Kaum mehr Medikamente

Solche Bilder gehen unter die Haut. Wie auch die Bilder aus der Klinik des ARC in Jalalabad, für die Louis Palmer mit seinen Auftritten Geld sammelt. Die Aufnahme des noch verbliebenen Medikamentenbestandes, der in einem kleinen Kühlschrank Platz findet und 50 000 Menschen versorgen sollte, liess die Zuschauer erschauern. Ebenso die Bilder der halb verwüsteten Universität in Kabul, wo noch rund 1200 Studenten ñ keine Studentinnen ñ studieren. Als später die medizinische Versorgung der Minenhunde, denen man es an keiner Pflege mangeln lässt, zur Sprache kam, ging ein erbostes Raunen durch den bis auf den letzten Platz besetzten Saal ñ selbst wenn an diesem Abend sicher jedem klar ge-worden ist, welch wichtige Aufgabe die Entminungsteams mit ihren Hunden wahrnehmen.

Louis Palmers Augenzeugenbericht löst Betroffenheit aus, weil er so menschlich und frei von Sensationslust ist. Die gesamten Einnahmen dieses Abends gehen an das ARC zugunsten der drei Kliniken, die von der Organisation betreut werden. Nebst dem Eintritt war der Getränke- und Kuchenverkauf durch Louis Palmers Schüler in der Pause eine weitere Einnahmequelle.

Während dieser Pause nutzten zudem etliche Zuschauerinnen ñ und auch Zuschauer ñ die Ge-legenheit, sich einmal eine echte Burka ñ wie der Schleier der Frauen genannt wird ñ über den Kopf zu ziehen, um zu testen, wie viel sie durch das kleine Fenster von ihrer Umgebung noch zu Gesicht bekamen.

Mit lang anhaltendem Applaus bedankte sich das Publikum für diesen informativen und ergreifenden Abend. Die zwei Glasvasen beim Ausgang, die für weitere Spenden gedacht waren, füllten sich im Nu.

Spenden an die von Louis Palmer unterstützte Klinik können auf folgendes Konto einbezahlt werden: Afghan Relief Commit-tee, Account No. 1131346695009, Standard Chartered Grindlays Bank, Peshawar, Pakistan. Der Diavortrag ist am Dienstag, 27. November, um 20 Uhr im Hotel War tmann in Winterthur nochmals zu sehen.