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Sind wir alle Kinderschänder?

von Erich Wulff


I.

Die Wellen der Erregung, die die Diskussion um den sexuellen Mißbrauch an Kindern in den letzten Jahren geschlagen hat, haben sich inzwischen ein wenig geglättet, so daß nun vielleicht doch eine etwas ruhigere Diskussion über alle damit verbundenen Fragen geführt werden kann. Ich selber greife aus folgenden Gründen in diese Debatte ein:

  1. Weil ich in meinen letzten Jahren als Leiter einer psychiatrischen Hochschulklinik mehrfach mit diesen Fragen konfrontiert worden bin und dabei auch folgenreiche Entscheidungen über die nötigen therapeutischen Strategien treffen, und gleichzeitig die Aufarbeitung destruktiver Überidentifikationen der therapeutischen Teams mit den wirklichen oder vermeintlichen Opfern anmahnen mußte, was sich als eine höchst schwierige und undankbare Aufgabe erwies.
  2. Weil ich befürchte, daß das Reizthema ,,sexueller Mißbrauch" eine Eintrittspforte für Bestrebungen geworden ist, rechtsstaatliche Grundsätze ebenso wie wissenschaftliche Abwägungen dort über Bord zu werfen, wo es um vorgeblich selbstevidente Wahrheiten oder höhere moralische Zielsetzungen und Werte geht. So wird bereits der Versuch gemacht, ein Jahrhundert psychoanalytische Forschung über die kindliche Sexualität, aber auch über die Ubiquität von Inzestwünschen und Phantasien, die die Psychoanalyse in den Begriff des Ödipuskomplexes gefaßt hat, ungeschehen zu machen. Und es genügt manchmal schon ein vager Verdacht, um Kinder ihrer Eltern ohne jede Vorankündigung wegzunehmen und sie in ,,geeignete" Heime zu schaffen, um dort zu belastenden Aussagen zu kommen.
  3. Weil ich einen neuen, puritanischen Fundamentalismus im Kommen sehen, der sich mit einem radikal männerfeindlichen Feminismus zu einem unentwirrbaren Knäuel verstrickt und immer größere Bereiche menschlicher Sexualität nicht nur mit moralischer Verteufelung, sondern auch mit immer schärferen strafrechtlichen Sanktionen zu belegen sucht.
  4. Weil der gesamte Bereich der Sexualität - ohne Zwischentöne - in Gut-Böse, Korrekt-Inkorrekt, Gewollt-Erzwungen unterteilt und der ausschließlichen Herrschaft bewußt-expliziter Entscheidungen unterworfen werden soll. Schon averbale Äußerungen von Gefallen, von Wunsch und Begehren, die zur Entwicklungslogik, wenn man will zu den Eröffnungszügen sexueller Beziehungen gehören, verfallen so dem Verdacht nicht nur moralischer, sondern auch juristischer Unzulässigkeit. Gefordert wird vielmehr eine Holter-die-polter-Sexualitat, bei der aus einer Situation gemimter Indifferenz verbale Rechtsverträge über Umfang und Grenzen von zulässiger Betracht- und Berührbarkeit geschlossen werden sollen, vorsichtshalber am besten gleich unter Zeugen. Nur am Rande sei hier vermerkt, daß ein solcher Vorgang an Kaufverträge erinnert, in welchen das Qbjekt auch immer erst in seinen Maßen und Grenzen beschrieben werden muß. Diese Forderungen gelten im übrigen fast ausschließlich für heterosexuelle Beziehungen, und hier wieder fast nur für die sexuellen Eröffnungszüge des Mannes Sogar in der Ehe soll ,,grundsätzlich vom entgegenstehenden Willen der Frau ausgegangen werden, es sei denn, diese signalisiere Bereit-schaft" (Freitag, Nr.40, 29.09.1995) Eine solche Rechtslage würde viele sexuelle Wünsche zwischen Mann und Frau schon im Keim ersicken. Man muß sich fragen, ob nicht dies gerade das Ziel sowohl des puritanisch-protestantischen als auch des feministischen Fundamentalismus ist.

Wenn ich diese Befürchtungen äußere, heißt dies nicht, daß ich sexuellen Mißbrauch als Problem und als Skandal einfach wegdiskutieren möchte. Dies sollte eigentlich gar keiner Erwähnung bedürfen und völlig selbstverständlich sein. Bei diesem Reizthema komme ich aber um ein solches Bekenntnis trotzdem nicht herum. Sexueller Mißbrauch von Kindern hat seit jeher seine Brutstätten gehabt, zu denen soziales Elend und Perspekivlosigkeit gehörten. Hinzugetreten ist die Ökonomische Verwertung von Kindern als Sexualobjekten, sei es als Kinderprostitution, sei es in der Form von Kindersex-Pornographie, beides besonders ekelhafte Varianten von sexuellem Mißbrauch, gegen die, trotz einiger spektakulärer Strafprozesse, wenig unternommen wird, am wenigsten, wenn es sich dabei um Kinder aus Ländern der 3. Welt handelt.

Das Thema Mißbrauch ist allerdings seinerseits schon zu einem für die Veranstalter lukrativen Medienspektakel geworden und eine Zeitlang schien es sich geradezu um eine Epidemie zu handeln, wobei kaum auszumachen war, ob es der Tatbestand selber oder bloß seine Behauptung war, die sich wie eine Seuche vermehrten. Zu diesem Thema hat Katharina Rutschky schon das Nötige gesagt.

II.

Jetzt erst komme ich zum eigentlichen Thema, nämlich den sexuellen Handlungen, die Väter gegenüber ihren Töchtern, männliche Ankündigung gegenüber Mädchen in ihrer Familie begehen. Solche Handlungen können unmittelbar durch physische Gewalt durch Bedrohungen oder auch durch Ankündigung von Liebesentzug und Gefühlserpressung erreicht werden. Manchmal wird ihre Duldung auch erbettelt oder durch Geld oder andere Geschenke erkauft. Im Grenzfall ist es aber auch denkbar, daß zwischen beiden Beteiligten authentische Liebe im Spiel ist. Andersrum, zwischen Mutter und Sohn, zeigt Louis Malles Film ,"Herzflimmern" eine solche Liebe, die sich in einer Ausnahmesituation auch körperlich-sexuell artikuliert. Das, was unter dem Titel "sexueller Mißbrauch von Kindern" subsumiert wird, umfaßt also ein Kontinuum von sehr unterschiedlichen Verhaltensmöglichkeiten und von sehr unterschiedlichem Ausmaß an Gewalt. Wenn auch davon ausgegangen werden muß, daß sexuelle Handlungen an Kindern, die von ihren Eltern vorgenommen werden, fast immer psychische Folgewirkungen hinterlassen, ob nun Gewalt dabei im Spiel war oder nicht, plädiere ich auch hier gegen einen inflationistischen Gebrauch des Gewaltbegriffes. Physische Gewalt, Ausnutzung materieller und gefühlsmäßiger Abhängigkeit, Verführung durch Geld und Geschenke sollten also voneinander unterschieden und nicht einfach unterschiedslos unter einen gewaltbezogenen Oberbegriff subsumiert werden. Dies alles ist nämlich auch für spätere therapeutische Verarbeitung von Belang, wenn diese Verarbeitung aus mehr als aus der bloßen Abwälzung aller Probleme auf eine konstruierte Kunstfigur: den nur noch bösen, lieblosen, gewaltsamen Vater bestehen soll, dem ein unschuldiges, am Vorgang völlig unbeteiligtes Opfer gegenübergestellt wird. Für die therapeutische Aufarbeitung würde es auch nicht viel helfen, wenn an die Stelle des bösen Vaters und gewaltbereiten Mannes das Patriarchat als gesellschaftliche Institution träte. Wenn der therapeutische Klärungsprozeß fortschreiten soll, dann müßten die gesellschaftlichen Bedingungen, unter welchen männliche Gewalt am ehesten hervortritt, vielmehr konkreter herausgearbeitet werden. Es ist ja kein Geheimnis, daß Inzest besonders häufig in ganz bestimmten sozialen Konstellationen auftritt. Zu diesen gehört die Promiskuität enger Wohnverhältnisse, arbeitslose Väter, die sich dem Alkohol zugewandt haben und weder für sich noch für ihre Kinder eine Perspektive sehen und darüber hinaus - mit ihrem Beruf - auch ihren Status als Ernährer und Haupt der Familie verloren haben. In einer solchen Situation kultureller und sozialer Anomie, in der das Patriarchat eben nicht mehr selbstverständlich vorgegeben, sondern, zusammen mit der übrigen sozialen Ordnung, brüchig geworden ist, gewinnen archaische, extrem maskuline, patriarchische Identifikationsangebote eine besondere Durchschlagskraft. Zur Aufarbeitung psychischer Inzestfolgen gehört also auch die Akzeptierung einer relativen Schuldentlastung des Täters, das Verständnis von dessen eigener Eingebundenheit in soziale, manchmal allerdings auch vorwiegend psychische Zwangslagen. Geschieht das nicht, so wird den Mädchen ein Vater präsentiert, der von vornherein böse war, der sie nie geliebt und nur noch zugrunde gerichtet hat; d. h. es wird diesen Mädchen auch noch der letzte Anknüpfungspunkt für ein potentiell auch positives Vaterbild genommen.

III.

Genauso problematisch ist aber auch die Generalisierung des Verdachtes in Vater-Tochter-Beziehungen. Vor einiger Zeit las ich in einer Zeitung - ich habe den Artikel leider nicht ausgeschnitten - daß einem geschiedenen Vater das Besuchsrecht für seine Tochter entzogen und eine Anzeige wegen sexuellen Mißbrauches erstattet worden war, weil die kleine Tochter morgens zu ihm und seiner zweiten Frau ins Bett gekrochen und dort beim Vater eine morgendliche Erektion wahrgenommen hatte. Das Kind hatte dies, durchaus nicht schockiert, allenfalls neugierig, der Mutter berichtet, die die Gelegenheit sofort nutzte, ihrem geschiedenen Mann eines auszuwischen. Ich bin sicher, daß auch meine Tochter als kleines Mädchen, wenn sie zu meiner Frau und zu mir ins Bett gekrabbelt war, ähnliche Wahrnehmungen gemacht haben muß, und verdanke es wohl nur günstigen Umständen, daß ich noch nicht wegen sexuellen Mißbrauches meiner Tochter vorbestraft worden bin.

Aber abgesehen selbst von solchen juristischen Skurrilitäten: Was geschieht, wenn der US-importierte Verhaltenskodex der sexual correctness auch auf die Vater-Tochter-Beziehung angewendet werden müßte? Müßte ich sie - oder ihre Mutter, da sie ja noch minderjährig ist - jedesmal um Erlaubnis fragen, wenn ich sie in den Arm nehmen möchte? Auch dann, wenn sie weinend angelaufen kommt? In unser Bett hereinlassen hätte ich sie wohl ohnehin nicht dürfen. Darf ich ihr noch - mit ihren 2, 3, 6, 8 Jahren - einen kleinen freundschaftlichen Klaps, auf den runden, prallen, seidigen Hintern geben? Oder durfte ich, als sie noch kleiner war auf diesen Hintern, auf ihren kleinen Bauch, beim Wickeln einen Kuß draufsetzen? Ist jedes Bedürfnis, ist jeder Wunsch der Eltern, die Haut ihrer Kinder zu berühren, zu streicheln, zu küssen, schon eine abartige sexuelle Handlung? Und zwar bereits deshalb, weil so etwas auch mir - ebenso wie meiner Frau - Freude, ja Vergnügen macht? Darf ich so etwas nur tun, wenn es eine eher lästige, zumindest aber gefühlsneutrale Elternpflicht ist, über die mich die Lehrbücher der Kinderpsychologie und -Psychiatrie belehrt haben?

Und etwas später: Sind wir Väter nicht auch die ersten Adressaten der Koketterien, des verführerischen Lächelns unserer Töchter, üben sie nicht mit uns zum ersten Male auch die Technik des Flirtens, der Annäherung, aber auch des Signalisierens von Widerstreben? Es ist sicher kein Zufall, daß wir Väter meist die Ersten sind, die unsere Töchter irgendwann am liebsten heiraten wollen. Diese Erprobungsfunktion des eigenen Charmes, der eigenen Verführungskraft, auch schon während der Kindheit, ist in gewisser Weise die Vorschule der Sexualität, und wir Väter stellen uns als Übungspartner zur Verfügung. Kann man diese Vorschule, ohne böse Folgen, einfach überspringen? Wenn wir uns unseren Töchtern gegenüber ,,sexuell korrekt" verhalten, impfen wir ihnen nicht dann gerade die keimfreie, aseptisch gemachte Sexualität ein, von der die Puritaner - und nun auch die feministischen Fundamentalistinnen - die heterosexuelle Beziehungen regiert sehen wollen? Haben diejenigen, die das fordern, nie etwas von den Arbeiten Freuds, Rene Spitz' und anderen über die normale sexuelle Entwicklung des Kindes gehört? Sind Versuche der 68er Bewegung, die Heuchelei des puritanischen Moralismus meiner Generation aufzubrechen, inzwischen völlig vergessen? Dabei teile ich durchaus nicht die Auffassung, die die GRÜNEN noch vor einigen Jahren vertreten hatten, als sie nämlich gewaltfreie pädophile Akte entkriminalisieren wollten. - Aber daß so etwas von einer ernsthaften politischen Kraft überhaupt vorgebracht und für diskussionswürdig gehalten wurde, erscheint heute schon als Undenkbarkeit und zeigt, wie weit sich Macht und Einfluß innerhalb der Linken selbst verschoben haben.

Fast noch erschreckender ist aber auch die Stilisierung der Opfer von Taten gegen die sexuelle Selbstbestimmung als ,,Überlebende". Das suggeriert, daß die meisten solcher Opfer eben nicht überleben, sondern dabei umkommen, wie dies beim Holocaust geschah. Diese Verbindung ist nicht zufällig; damit sollen die Täter mit den deutschen Faschisten, ja mit den schlimmsten Schergen der SS gleichgestellt werden. Sie sind das Böse schlechthin. Den Opfern wird damit eingeredet, daß sie ebenso schwere, ebenso unheilbare Schäden davongetragen haben, wie die Überlebenden der Vernichtungslager. Durch diese Vokabel ,,Survivor" und die Selbstidentifikation mit ihrem Begriffsinhalt wird versucht, an der Anteilnahme, die Holocaustopfer inzwischen auch bei uns in Deutschland - endlich - finden, auf eine parasitäre Weise zu partizipieren. Die Übernahme des amerikanischen Survivor-Diskurses durch deutsche Feministinnen signalisiert einen Mangel an Sensibilität und Dezenz, den jeder beklagen muß, der den Holocaust-Opfern ein ehrendes Andenken und seinen Überlebenden Respekt und Anteilnahme entgegenbringt. Das Recht auf diese Feststellungen lasse ich mir auch nicht unter den Vorwand nehmen, daß ich selber ein Mann - und damit in dieser Sache parteiisch - bin.

IV.

Selbst wenn es sich bei diesen semantischen Strategien - ebenso wie bei den Manipulationen der Opferzahlen - wie Katharina Rutschky aufgedeckt hat - um eine ,,skandalisierende Übertreibung" handelt, die Frigga Haug unter Umständen für gerechtfertigt hält, taucht, ganz abgesehen von wissenschaftsethischen Erwägungen die Frage auf, ob sie der Sache, der notwendigen Auseinandersetzung mit einem über lange Zeit sicher unterschätzten Problem weiterbringt. Solch ,,skandalisierende Übertreibungen" waren die wechselseitige Greuelpropaganda der Kontrahenten im ersten Weltkrieg, und im Bosnien-Krieg werden wir wieder mit ganz ähnlichen Greuelthesen konfrontiert. Ähnlich steht es mit dem inflationären Gebrauch des Genozid-Begriffes, dessen Verwendung ich selber auch im Vietnam-Krieg immer für falsch gehalten habe. Wer solchen Übertreibungen auf die Schliche kommt, der glaubt schließlich gar nichts mehr. Und daß man ihnen auf die Schliche kommt, kann nur durch einen rücksichtslosen Einsatz der Manipulationsmacht der Medien verhindert werden. Eines der wenigen Beispiele, wo dies vollauf gelungen ist, ist der Bosnien-Krieg. Daß den Feministinnen ein ebensolcher Coup gelingen könnte, war von vornherein unwahrscheinlich. Katharina Rutschkys Buch hat dann ja auch den Beweis dafür geliefert, daß die ,,skandalisierende Übertreibung" eher eine Fehlstrategie war.

V.

Klaus Holzkamp verteidigt - in einem sehr eindrucksvollen, nahezu sokratischen Selbstdialog - die These von ,,Wildwasser und von Autoren wie Barbara Kavemann und Ingrid Lohstöter, man müsse den Mädchen, die über sexuellen Mißbrauch berichten, ,,in jedem Falle ... glauben, und zwar hundertprozentig". Auf einer ersten, noch recht oberflächlichen Ebene ließe sich dem entgegenhalten, daß es sich für manche der Betreuerinnen schon gar nicht mehr darum handelt, daß man den Mädchen glaubt: darum also, daß man sie zunächst anhört und dann das, was sie gesagt haben, als wahr unterstellt. Vielmehr geht nicht selten den Äußerungen der Mädchen schon die Erwartungshaltung der Betreuerinnen voraus, daß tatsächlich ein sexueller Mißbrauch stattgefunden habe - noch bevor von diesem überhaupt berichtet wird. Ausgangspunkt eines solchen konkreten Mißbrauchsdiskurses ist also häufig gar nicht das betreute Mädchen selbst, sondern ihre radikal-feministische Betreuerin. Und natürlich wäre es in diesem interaktiven Zusammenhang ganz und gar absurd, hinterher, wenn eine solche Erwartung sich erfüllt hat, an ihr nachträglich noch andere als taktische Zweifel anzumelden oder gar das Mädchen der Lüge zu zeihen. Gerade weil Mißbrauchsäußerungen mittlerweile so häufig in einen entsprechenden Erwartungszusammenhang fallen, ist es für die Betreuerin so schwierig, den Wahrheitsgehalt der Äußerungen in Frage zu stellen - dazu müßten sie ihren eigenen Erwartungshaltungen gegenüber eine kritische Distanz einnehmen können, was wohl zuviel verlangt ist. Allenfalls eine sehr kompetente Supervision könnte einer Betreuerin, die es im Prinzip jedenfalls akzeptiert, daß an der Eigenhaltung auch eigene unbewußte Ängste und Wünsche beteiligt sind, zu einer solchen Distierung verhelfen. Wo dies nicht geschehen ist, stellt sich die Frage, ob man den Mädchen glauben soll, praktisch gar nicht, oder eben nur als rhetorische Frage. Umgekehrt wird allerdings vielleicht ein Schuh daraus: ob die Mädchen selber und allesamt und hundertprozentig der Erwartungshaltung ihrer Betreuerinnen, bei ihnen habe ,,tatsächlich" Mißbrauch stattgefunden, vertrauen - und damit ihnen glauben sollten...

Sicherlich ist es auf einer anderen Bedeutungsebene des Interaktionsmusters zwischen Betreuerin und Mädchen richtig, daß pure Äußerung des Zweifels an der Wahrhaftigkeit der Mißbrauchsberichte der Mädchen, ganz gleich, wie diese nun zustande gekommen sein mögen, vor allem dann, wenn diese Zweifel in der polizeiverhörsähnlichen Form des ,,Stimmt das denn auch, hast Du die Wahrheit gesagt oder gelogen" geäußert wird, gleichbedeutend mit dem Abbruch der Subjektbeziehung (Holzkamp) sein könnten. Gleichwohl scheint mir auch hier noch einmal eine Differenzierung am Platze. Wenn der geäußerte Zweifel die Mädchen umstandslos als Lügnerinnen stigmatisieren würde, dann würde Klaus Holzkamp's These vollauf zutreffen. Mit Lügnerinnen ist eben ein weiterer Dialog nicht möglich. Und von Seiten der Mädchen nicht mit jemandem, der sie als Lügnerinnen definiert. Aber andererseits beruht eine ,,Subjektbeziehung" auch nicht grundsätzlich darauf, daß beide Gesprächspartner blauäugig darauf vertrauen, sich in allen Situationen nichts als die reine Wahrheit zu sagen. Ein fundamentaler Unterschied liegt nämlich schon darin, ob ich annehme, jemand sei ein Lügner (so wie ein Kreter ein Lügner ist) - jemand also, dem ich überhaupt nicht trauen kann, - oder aber, ob ich es für möglich halte, daß er nur hier und jetzt einmal, aus dem einen oder anderen Grund, nicht die Wahrheit sagt - er sich vielleicht sogar in einer derartigen Not befindet, daß er sie mir hier und jetzt nicht sagen kann. In einer solchen Situation meine Zweifel zu verbergen oder zu verleugnen würde für den Moment vielleicht das Mäntelchen einer fortdauernden Subjektbeziehung aufrecht erhalten, die Verlogenheit einer solchen Art des ,,Für-wahr-haltens" hätte aber auf längere Sicht einen katastrophalen Einfluß auf die Subjekthaftigkeit der Beziehung - gerade dann, wenn es sich nicht um etwas Beiläufiges, aus dieser Beziehung Ausklammerbares handelt, sondern möglicherweise um ihren Kern. Natürlich setzt die Äußerung von Zweifel die Subjekthaftigkeit einer Beziehung immer einer harten Prüfling aus: der andere kann sie abbrechen, und er tut es manchmal dann, wenn meine Zweifel berechtigt sind, seine Lüge ihm aber als Lebenslüge lebenswichtig erscheint. Jeder Psychiater macht solche Erfahrungen, beispielsweise, wenn einer seiner Patienten ihm von seinen psychotischen Erlebnissen berichtet: Wenn man diese als bloße Hirngespinste abtut, ist das Vertrauensverhältnis, bevor es sich etablieren konnte, schon dahin. Aber wenn man dem Patienten signalisiert, man verstehe und akzeptiere, daß er mit dieser Äußerung etwas für ihn Wichtiges, ja Entscheidendes sagen will, man bereit ist, darauf zu hören, ja das mit ihm zusammen überhaupt erst herauszuarbeiten, auch dann, wenn es nicht auf der intersubjektiven Ebene gemeinsamer Tatsachenwirklichkeit zu fassen ist, dann wird ein Vertrauensverhältnis hergestellt, das weitaus stabiler sein kann als eines, das darauf entsteht, wenn man bloß vorgibt, an eine objektivierbare Realität seiner Wahnerfahrung zu glauben. Die psychotischen Kranken haben ürigens eine sehts feine Nase dafür, ob man dies - an die objektivierbare Realität ihrer Wahneffahrung zu glauben - wirklich tut, und sie würden es wohl dann akzeptieren, wenn man mit ihnen in eine Folie a deux hineingleitet, wobei man ihnen dann allerdings auch nicht mehr helfen kann.

Man könnte sagen, dieses Beispiel sei eher weit hergeholt: Ein anderes, alltägliches macht es vielleicht noch deutlicher: Auch meine Kinder lügen schon einmal, und ich merke das manchmal, zumindest kommen mir des öfteren Zweifel, ob alles stimmt, was sie mir erzählen. Von Zeit zu Zeit gehe ich auch einfach darüber hinweg. Wenn ich mein Kind aber liebe - und in der Lage bin, ihm das auch zu signalisieren - (nur fanatisch-puritanische Eltern würden aufhören, ihr Kind zu lieben, bloß weil es zwischendurch einmal lügt), wenn ich ihm also signalisieren kann, daß ich es liebe und respektiere, auch noch im Moment, wo es die Unwahrheit sagt, dann wird es die Beziehung zu mir nicht abbrechen, wenn ich Zweifel daran äußere, was es mir gerade sagt. Wenn es sich um etwas Wichtiges, Entscheidendes handelt, werde ich die Äußerung des Zweifels mit dem Angebot verbinden, mit ihm seine Not seinen Kummer, über seine Ängste, die es dazu bringen, hier der Wahrheit auszuweichen, zu sprechen. Lügen von Kindern haben ja oft den Charakter von Appellen, sie wollen mit ihnen gehört werden. Wenn ich also nur so tue, als ob alles stimmt, stoße ich mein Kind noch tiefer in seine Not hinein. Allerdings verlangt die Äußerung von Zweifeln auch den Mut, für den Augenblick jedenfalls eine asymmetrische Position zu beziehen, es im Moment vielleicht ,,besser" zu wissen als mein Kind. - Wobei diese asymmetrische Position allerdings immer auch von einer stummen Bitte um Verzeihung begleitet sein muß, für den Fall, daß ich mich mit meinem Zweifel geirrt und ihm damit Unrecht getan habe.

Bisher war von einem moralischen Schuldvorwurf noch gar nicht die Rede, der gemein hin mit Lügen verbunden ist, und es bleibt ja immer noch etwas übrig, wenn man eine Lüge als Notlüge versteht oder gar als Appell, endlich hinzuhören Aber auch ein solcher, durch Verständnis schon erheblich abgemilderter Schuldvorwrf führt nicht zwangsläufig zum Abbruch einer Subjektbeziehung. Ich kann signalisieren, daß ich darunter persönlich leide, wenn mein Kind mich belügt, und sogar auch noch, daß ich ihm für einen Augenblick böse bin, es aber gleichwohl liebe und immer lieben werde, und ihm deshalb auch - früher oder später -verzeihen kann. Auch in einer therapeutischen Beziehung braucht die Enttäuschung darüber, belogen worden zu sein, nicht verleugnet zu werden: Aber sie läßt sich in der Empathie, die eine solche Beziehung trägt, aufheben, solange diese Empathie selber aufgehoben werden kann. Die gleiche Nuancierung, wenn Zweifel geäußert werden, muß natürlich auch eine kompetente Betreuung von Mädchen aufbringen, die vom sexuellen Mißbrauch berichtet haben, und ebenso natürlich auch Betreuerinnnen von Frauen, die sich an dergleichen erst Jahrzehnte später zu erinnern meinen. So ergibt sich für mich: Die Betreuerin muß an die Mädchen glauben - aber eben nicht zwangsläufig an alles, was diese ihr als angebliche Tatsachen berichtet. Sie sollte sicher nicht über die Maßen mißtrauisch sein - aber den Mut haben, Zweifel, die sich bei ihr einstellen, gleichwohl zur Sprache zu bringen. Sie muß sogar Antennen dafür entwickeln, was in den Aussagen der Mädchen auf der Ebene der Tatsachenwirklichkeit wirklich vorgefallen ist und was nicht, was im FREUDschen Sinne dann ja auch gar keine Lüge, sondern ein Phantasma wäre. Nur dann kann sie es vermeiden, in die Kampfposition eine ideologisierten, militanten Folie a deux oder a plusieurs hineinzufallen und sich damit selbst als Helferin, als eine, die verstehen kann, welche Not ein Mädchen oder eine Frau zu einer Lüge - oder genauer, zur Produktion von Vergewaltigungsphantasien treiben kann, zu entmachten.

VI.

Eine solche Folie a plusieurs, die sich aus einer Mißbrauchserwartung entwickelt hat, möchte ich jetzt darstellen.

Es handelt sich um eine junge Frau aus gutbürgerlichen Verhältnissen, die seit ihrer Kindheit zunächst kinder- und jugend-psychiatrisch, später auch erwachsenen-psychiatrisch betreut werden mußte. In der Kindheit geschah dies wegen Magersucht, später wegen depressiven Verstimmungen, Suizid- und Selbstverstümmelungsversuchen und zeitweisen konversionsneurotischen Lähmungserscheinungen. Die Patientin befand sich in tagesklinischer psychiatrischer Behandlung, als ein Arzt diese Station übernahm, der die Aufdeckung und Therapie von sexuellem Mißbrauch kurz zuvor zu seinem Hauptinteressengebiet gemacht hatte. Aus Bildern und Zeichnungen der künstlerisch hochbegabten Patientin, aber auch aus der Borderline-nahen konversionsneurotischen Symptomatik kam diesem Arzt der Verdacht, es könne hier sexueller Mißbrauch im Spiele sein. Nach intensiven und lang anhaltenden Befragungen, an denen sich bald schon das gesamte Team beteiligte, ,,gestand" die Patientin schließlich: Sie berichtete über sexuellen Mißbrauch durch den Vater, aber auch den Großvater, der zudem mit sadistischen Handlungen - Ausdrücken brennender Zigaretten auf ihrer Haut - einhergegangen sei, und konnte für das letztere auch genaue Zeitangaben machen. Sie behauptete, dies alles hätte sie verdrängt, ja vergessen gehabt in den Sitzungen mit dem therapeutischen Team seien ihr diese Erinnerungen aber wiedergekommen. Im Verlaufe der Zeit berichtete sie dann über immer mehr Mißbrauchserlebnisse, aber auch von regelmäßigen Vergewaltigungen in der eigenen Wohnung durch eine Vielzahl unbekannter Männer. Als der für die Station zuständige Oberarzt zunächst an diesen massenhaften Vergewaltigungen Zweifel äußerte, räumte sie ein, nicht genau zu wissen, ob diese wirklich vorgefallen seien oder ob sie das nur geträumt habe. Als danach der Oberarzt an den gesamten Mißbrauchsvorwürfen Zweifel bekam, wurde die Patientin und ihre Krankengeschichte vom Team in einer Fortbildungsveranstaltung der Psychiatrie vorgestellt, an der auch ich teilnahm. Anfragen an das Team nach Abschluß des Gespräches mit der Patientin - diese war nicht mehr zugegen -, ob durch anamnestische Befragungen der Angehörigen versucht worden sei, die Angaben der Patientin zu verifizieren, wurden zunächst bejaht.' Der Bruder hätte ihre Berichte vollauf bestätigt. Es stellte sich bald aber heraus, daß der Bruder dem Team nur berichtet hatte, daß seine Schwester ihm während ihrer Behandlungszeit in der Tagesklinik von dem Mißbrauch erzählt hatte und er selber darüber überhaupt keine eigenen Kenntnisse besaß. Mit den Eltern war die gesamte Thematik überhaupt nicht angeschnitten worden. Anläßlich der Fortbildungsveranstaltung wurde dann auch noch klar, daß die Patientin sich unmittelbar nach der Zeit, in der der Großvater ihr angeblich Zigaretten auf der Haut ausgedrückt hatte, in stationärer kinderpsychiatrischer Behandlung befunden hatte, und daß das Team dies auch lange schon wußte. Gegen alle Gewohnheit und gegen die Regeln der Klinik hatten Arzt und Team die Krankengeschichte nicht angefordert. Sie taten dies auch später über mehrere Monate nicht, obwohl der Oberarzt das mehrfach eindringlich gefordert hatte. Schließlich besorgte der Oberarzt selber das Krankenblatt, in welchem über keinerlei Verletzungen berichtet wurde, sondern über eine eher überprotektive Haltung der Eltern und über eine emotional eher etwas verdünnte Atmosphäre im Elternhaus. Berichtet wurde in der Krankengeschichte auch über Konkurrenzprobleme mit den Geschwistern und über eine starke emotionale Abhängigkeit vom Elternhaus.

Zu bemerken ist hier noch, daß das ganze Team alle Fragen, die ich oder der Oberarzt stellten, ob es nämlich versucht hatte, die Aussagen der Patientin zu verifizieren, mit gereizter Aggressivität, leicht süffisanter Herablassung und einer moralisierenden Anklagehaltung beantwortete: Nur Männer konnten so fragen - und gleichzeitig Andeutungen über unsere innere Komplizenschaft mit den mißbrauchenden Vätern fallen ließ.

Das Team erlebte also das von ihm selbst provozierte coming out der Mißbraucherfahrungen der Patientin nicht nur als unverrückbare Gewißheit. Es versuchte darüber hinaus auch alles, um eine mögliche Infragestellung dieser Gewißheit durch Fakten zu vermeiden, indem es den Bruder als einen fiktiven Zeugen auffuhr, der jedoch gar nichts zu bezeugen hatte, und indem es möglichen Widerlegungen durch die Krankengeschichte des Kinderkrankenhauses aus dem Wege ging. Die Anforderung der Krankengeschichte wurde immer wieder "vergessen", wobei das Team in Kauf nahm, damit gegen die für alle anderen Patienten gültigen Regeln zu verstoßen.

Die Aufrechterhaltung der Mißbrauchsgewißheit war für alle Teammitglieder also so wichtig, daß sie die logische Kohärenz ihrer Argumentation ebenso opferten wie die institutionellen Regelungen. Ihre Auswegstrategien vor möglichen Konfrontationen mit der Wirklichkeit ähnelten denjenigen, mit denen paranoide Patienten ihre Wahnsysteme verteidigen.

Das Argumentationsmuster des Teams läßt sich also wie folgt zusammenfassen:

  1. Man kann aus bestimmten Krankheitssymptomen, aber auch aus bestimmten künstlerischen Ausdrucksformen unmittelbar auf sexuellen Mißbrauch schließen.
  2. Ist ein solcher Verdacht einmal aufgekommen, muß man die Patientin dazu bringen, daß sie sich an einen sexuellen Mißbrauch in ihrer Kindheit oder Jugend auch erinnert. Man muß sie zu einem ,,coming out", d.h. zu einer Art von Geständnis bewegen.
  3. Ist dieses einmal erreicht, dann ergibt sich eine nicht mehr in Frage zu stellende Gewißheit, daß der Mißbrauch wirklich stattgefunden hat. Jede Art von Überprüfung durch Dritte oder durch objektive Unterlagen ist nicht nur unnötig, sondern verletzt die Würde der Patientin.
  4. Alle psychischen Probleme und Konflikte der Patientin haben ihren einzigen Grund im sexuellen Mißbrauch. Sie können, wenn überhaupt, nur durch eine militante Aufarbeitung der Mißbrauchsproblematik gemildert werden. Der dabei entstehende Haß auf den mißbrauchenden Vater läßt sich dann entweder auf das Patriarchat als gesellschaftliche Formation oder aber auf ,,Männer überhaupt" ausdehnen. Nur das kann zu einer begrenzten psychischen Stabilisierung führen, ist also der "Königsweg" der Mißbrauchstherapie. In jedem Fall bleiben unheilbare psychische Folgen zurück.
  5. Wer an der Mißbrauchsthese zweifelt und an andere ätiologische Alternativen auch nur denkt, ist selber dringend zumindest der geistigen Komplizenschaft mit den Mißbrauchern verdächtig.
  6. Solchen Anfeindungen gegenüber muß das therapeutische Team zusammen mit der Patientin einen solidarischen Block bilden. Die Welt besteht einerseits aus den Mißbrauchern und ihren Komplizen - potentiell alle Männer - und ihren Opfern (potentiell alle Frauen) und denjenigen, die sie verteidigen. Jeder muß sich zwischen diesen beiden Alternativen entscheiden, und zwar nicht nur abstrakt und ideologisch, sondern in jedem einzelnen konkreten Fall, in dem der Verdacht auf Mißbrauch überhaupt auftaucht.

Es handelt sich hier also um eine Logik, die

  1. Verdacht und wirkliches Geschehensein gleichsetzt und
  2. von einer absoluten unverrückbaren und unwiderlegbaren Wahrheit ausgeht.

Wer sich in dem Netz eines solchen Verdachtes verfangen hat, wird darin zappeln, bis ihm die Luft ausgeht.

Diese Art von Logik findet man heute am ehesten bei Sekten vor. Mit den Denkmustern der verschiedenen religiösen Fundamentalismen zeigt sie eine deutliche strukturelle Verwandtschaft. Sie hat aber natürlich auch historische Vorbilder. Zu nennen wäre hier die Logik des Hexenwahns. Damals - vom 15. bis ins 18. Jahrhundert - waren es vorwiegend Männer, die sich von einer meist sexuell attraktiven, eher emanzipierten Frau verhext empfanden und dies häufig erst retrospektiv, nach Jahren oder Jahrzehnten, an bestimmten Verdachtsmomenten rekonstruierten, meist um sich selber von jeder Schuld reinzuwaschen. Auch damals war für Zweifel kein Raum, wenn der Verdacht geäußert war - allenfalls konnte es sich noch darum handeln, die ,,wirklich" Schuldige zu identifizieren, was durch peinliche Verhöre, also Folterungen, meist auch gewährleistet werden konnte. Wie heute wurde von den damals Betroffenen - es waren zumeist Männer - auch ,,Erinnerungsarbeit" verlangt: Der Verhexungsvorgang lag nicht gleich schon an der Oberfläche des Bewußtseins, er mußte in vielen Gruppengesprächen oder in Befragung durch ,,Spezialisten" erst in die Erinnerung zurückgerufen werden. Und wie heute war damals der Unschuldsnachweis nicht möglich: es handelte sich um eine unbezweifelbare, absolute Gewißheit.

Ähnliche Figuren wie die der Hexen wurden von anderen Formen der Verdachtslogik als das Böse schlechthin konstruiert: Der Teufel, der nicht nur zur Sündhaftigkeit, sondern, viel schlimmer, zu Unglauben und Häresie verführte, der "identifiziert" und durch Schmerzen, wenn nötig auch durch den Tod, ausgetrieben werden mußte. Der Klassenfeind in den Moskauer Prozessen, der ,,rassisch Entartete" durch die Nazis. Sie alle sind als Formen des absolut ,,Bösen" historische Vorläufer und Vorbilder des seine eigenen Kinder vergewaltigenden, gleichzeitig aber meist als Biedermann verkleideten Sexmonsters, dieser neuesten Projektionsfigur eines fundamentalistischen Feminismus. Alle diese Projektionsfiguren des absolut Bösen erlauben es, wie FREUD es vor fast einem Jahrhundert schon gezeigt hat, tabuisierte Bedürfnisse an anderen sowohl zu genießen als auch zu verfolgen und dabei gleichzeitig allen anderen eigenen ungelösten Problemen eine ebenso handliche wie preiswerte Begründung zu unterschieben.

Anfällig für solche totalitäre Logiken sind allerdings auch linke Diskurse, wenn sie alle Leiden und Probleme auf ein einziges schlechthin Böses abzuwälzen versuchen: bei der entrechteten Dritten Welt nur noch auf die Kolonisatoren, bei den Proletariern nur noch auf das Kapital, bei den Irren nur noch auf die sie ausgrenzende Institution Asyl. Das Fatale an diesen Thesen ist, daß an ihnen allen auch etwas Richtiges dran ist, und der Kampf gegen die Mächte, die sie definieren, auch berechtigt und notwendig ist. Gleichwohl entstehen dabei leicht kurzschlüssige Begründungszusammenhänge, die dann nur noch sehr begrenzt weiterführende Handlungsanweisungen ergeben. Hier wie bei der Projektionsfigur des kindervergewaltigenden Sexmonsters als das schlechthin Böse gälte es vielmehr, dieses ,,Böse" in seiner ganzen Vielfältigkeit, in seinen Abschattungen und Übergangen auch zum Guten und Richitigen hin in den Blick zu bekommen, um es dann auch gezielt, ohne dabei den Kopf zu verlieren, angehen zu können: beim sexuellen Mißbrauch würde es bedeuten, ihn in seinen eigenen gesellschafflichen und individual-biographischen Bedingungszusamrnenhängen sichtbar zu machen. Nur so können die Wunden, die er geschlagen hat, schließlich auch geheilt werden.

Erstveröffentlichung: Forum Kritische Psychologie 37


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