Vorwort zu "Zur Kritik der Arbeiterbewegung, des Marxismus und der Linken"

III. Kritik des Marxismus

Der „Marxismus“, verstanden als das Werk von Karl Marx und Friedrich Engels, wird meist gegen seine Epigonen und Jünger verteidigt. Diese hätten das Werk von Marx und Engels nicht (richtig) verstanden, hätten es falsch interpretiert oder es etwa verfälscht. All diese Kritiker und Vertreter des (in viele konkurrierende Fraktionen gespaltenen und zerstrittenen) Marxismus des 20. und 21. Jahrhunderts sind sich allerdings allesamt einig im positiven Bezug auf das Werk ihrer Klassiker. Dies ist möglich aufgrund der Widersprüchlichkeit des Werkes von Marx und Engels. Oben führten wir bereits Marx‘ „Randglossen“ heran, um die Engelssche Vorstellung von der „proletarischen“ Politik. Gleichzeitig hat Marx im „Kommunistischen Manifest“ auch davon gesprochen, daß das Proletariat eine „politische Herrschaft“ zu ergreifen habe. Marx und Engels allein sind also keine Gegensätze, sondern auch das Marxsche Werk ist äußerst widersprüchlich. Einen Widerspruch zwischen „jungem“ und „spätem“ Marx ist ebenfalls zu widersprechen.

Die eigentliche Leistung von Marx und Engels – die Entwicklung der materialistischen Methode – ist in den letzten Jahrzehnten unter den verschiedensten Ideologien (Marxismus, Marxismus-Leninismus, Trotzkismus, etc.) begraben worden. Marx und Engels wurde – auch von Rätekommunisten - soviel Autorität zugestanden und nahezu religiöse Ehrfurcht entgegengebracht, daß kaum eine kritische Befassung und Auswertung der Erkenntnisse und Schriften von Marx und Engels möglich war. So hat die materialistische Methode als Waffe der Analyse und Kritik enorm eingebüßt, weil sie nicht als Methode, sondern als eine für allemal gültige Lehre aufgefaßt wird. Eine Erklärung, wie es kommt, daß sich verschiedene Fraktionen der Arbeiterbewegung und Politsekten auf Marx und Engels berufen, ist aufgrund der dogmatischen Herangehensweise der Marxisten nicht möglich. Denn: Es handelt sich beim Marx-Engelsschen Werk nicht um ein einheitliches Werk, sondern um ein sehr widersprüchliches, in dem jede Fraktion der Arbeiterbewegung bzw. jede Politsekte, sowohl die fortschrittlicheren als auch die reaktionären ihre Ideologie bestätigt finden und sich auf die Autorität der „Klassiker“ berufen können. Im folgenden wollen wir uns einigen Punkten kurz zuwenden. Eine umfangreichere Auseinandersetzung würde den Rahmen dieser Broschüre sprengen, wird aber noch geliefert werden.

A) Marx und Engels als Apologeten des Staatskapitalismus
„Das Proletariat wird seine politische Herrschaft dazu benutzen, der Bourgeoisie nach und nach alles Kapital zu entreißen, alle Produktionsinstrumente in den Händen des Staates, d.h. des als herrschende Klasse organisierten Proletariats zu zentralisieren und die Masse der Produktionskräfte möglichst rasch zu vermehren“, schrieben Marx und Engels 1848 im „Kommunistischen Manifest“. Während die Rätekommunisten immer einen Gegensatz zwischen Marx und Engels auf der einen und ihren Epigonen wie Lenin angenommen haben, widerspricht die Widersprüchlichkeit des Werkes beider dieser Sichtweise. Lenin konnte sich mit gutem Recht auf Marx und Engels und ihr „Manifest“ beziehen.

Marx und Engels waren nicht nur Apologeten des Staatskapitalismus, sondern zugleich auch die schärfsten Kritiker des Staatskapitalismus. So formulierte Marx in „Lohnarbeit und Kapital“: „Das Kapital setzt also die Lohnarbeit, die Lohnarbeit das Kapital voraus. Sie bedingen sich wechselseitig, sie bringen sich wechselseitig hervor.“ (K. Marx, Lohnarbeit und Kapital, in MEAW, Bd. I, Dietz Verlag Berlin 1972, S. 578.) Im zweiten Band des „Kapital“ gab Marx folgende Erklärung: „gesellschaftliches Kapital = Summe der individuellen Kapitale (inkl. der Aktienkapitale resp. des Staatskapitals, soweit Regierungen produktive Lohnarbeit in Bergwerken, Eisenbahnen etc. anwenden, als industrielle Kapitalisten fungieren)“ (Karl Marx, „Das Kapital“. Zweiter Band, Dietz Verlag Berlin 1975, S. 101) Friedrich Engels ergänzte im Anti-Dühring: „Aber weder die Verwandlung in Aktiengesellschaften noch die in Staatseigentum, hebt die Kapitaleigenschaft der Produktivkräfte auf.“ (Friedrich Engels, „Herrn Eugen Dührings Umwälzung der Wissenschaft“, in MEAW Bd.V., a.a.O., S. 305.)

Im Gegensatz zu den von Marx und Engels im „Manifest“ geäußerten Positionen, steht natürlich auch die in den Marxschen „Randglossen“ geäußerte Kritik am Staat und der Politik, wo er schrieb: „Die Existenz des Staates und die Existenz der Sklaverei sind unzertrennlich.“ (MEW, Bd. 1, S. 401) Maximilien Rubel hat in seiner Schrift „Marx als Theoretiker des Anarchismus“ auf die Staatskritik Marxens hingewiesen. Während Marx also den Staat im „Manifest“ favorisierte, hatte er noch in der „Deutschen Ideologie“ geschrieben, daß die Proletarier „den Staat stürzen [müssen], um ihre Persönlichkeit durchzusetzen“. (MEW, Bd. 3, S. 77) Andererseits haben Marx und Engels in der „Ansprache der Zentralbehörde an den Bund vom März 1850“ von den Arbeitern gefordert: „... Sie müssen neben den neuen, offiziellen Regierungen zugleich eigene, revolutionäre Arbeiterregierungen ... errichten.“

Engels favorisiert die Politik, schreibt aber ebenfalls, daß „alle Emanzipationskämpfe von Klassen ... sich schließlich um ökonomische Emanzipation drehen“. (Engels, „Ludwig Feuerbach und das Ende der klassischen deutschen Philosophie“ (1888)) Hier findet sich Widerspruch, aber auch Übereinstimmung in der positiven Bewertung des Staates, dessen Macht erobert werden sollte. Der Streit zwischen „Reform“- und „Revolutions“-Lager hat sich – wie bereits oben an den Positionen Lassalles und Lenins dargelegt - so als Streit entpuppt, wie der Staat zu übernehmen ist: auf friedlichem oder militärischem Wege, mittels der Wahlen oder eines Putsches. Und beide Positionen können aus dem widersprüchlichen Werk der „Klassiker“ schöpfen.

Zwar kritisierte Engels in seiner Kritik des sozialdemokratischen Programmentwurfs 1891, daß der Parteiapparat „den Staat an die Stelle des Privatunternehmers“ und damit „die Macht der ökonomischen Ausbeutung und der politischen Unterdrückung in einer Hand vereinigt“ wissen wollte, dennoch setzte er Hoffnung darin die Macht im Staate auf friedlichem, parlamentarischem Wege zu erobern.

Nicht ohne Grund können sich – wie wir gesehen haben - auch die Verteidiger des Staatskapitalismus auf Marx und Engels berufen, haben diese dort doch mit dem „Kommunistischen Manifest“ (1848) ein staatskapitalistisches Programm aufgestellt, ebenso wie die heutigen Verteidiger der Demokratie sich auf Marx und Engels als Vorkämpfer der Demokratie beziehen können. Beide sind zugleich die Erfinder des staatskapitalistischen Programms, aber auch seine größten Kritiker.

B) Marx und Engels als Begründer der theoretischen Grundlagen des Reformismus
Wie bereits geschildert, favorisierte Engels „proletarische“ Politik und war der Ansicht, daß die „Eroberung des Staates“ die Aufgabe der „Arbeiterpartei“ sei. „Mit dieser erfolgreichen Benutzung des allgemeinen Stimmrechts war aber eine ganz neue Kampfweise des Proletariats in Wirksamkeit getreten, und diese bildete sich rasch weiter aus. Man fand, daß die Staatseinrichtungen, in denen die Herrschaft der Bourgeoisie sich organisierte, noch weitere Handhaben bietet, vermittelst deren die Arbeiterklasse diese selben Staatseinrichtungen bekämpfen kann. Man beteiligte sich an den Wahlen für Einzellandtage, Gemeinderäte, Gewerbegerichte, man machte der Bourgeoisie jeden Posten streitig, bei dessen Besetzung ein genügender Teil des Proletariats mitsprach. Und so geschah es, daß Bourgeoisie und Regierung dahin kamen, sich weit mehr zu fürchten vor der gesetzlichen als vor der ungesetzlichen Aktion der Arbeiterpartei, vor den Erfolgen der Wahl als vor denen der Rebellion." (Friedrich Engels, Einleitung zu Karl Marx‘ „Klassenkämpfe in Frankreich 1848 bis 1850“) Aber in der gleichen Schrift folgt der Widerspruch: „Die Zeit der Überrumpelungen, der von kleinen bewußten Minoritäten an der Spitze bewußtloser Massen durchgeführten Revolutionen ist vorbei. Wo es sich um eine vollständige Umgestaltung der gesellschaftlichen Organisation handelt, da müssen die Massen selbst mit dabei sein, selbst schon begriffen haben, worum es sich handelt, für das sie mit Leib und Leben eintreten.“ Engels, Einleitung zu Karl Marx‘ „Klassenkämpfe in Frankreich 1848-1850“ (1895)

Doch auch Marx hatte ähnliche Illusionen in den Parlamentarismus, so hatte er in seiner Rede zum Kongreß der Internationalen Arbeiterassoziation 1872 in Den Haag geäußert: „Der Arbeiter muß eines Tages die politische Gewalt ergreifen, um die neue Organisation der Arbeit aufzubauen ... Aber wir haben nicht behauptet, daß die Wege, um zu diesem Ziel zu gelangen, überall dieselben seien ... und wir leugnen nicht, daß es Länder gibt, wie Amerika, England, und wenn mir eure Institutionen besser bekannt wären, würde ich vielleicht noch Holland hinzufügen, wo die Arbeiter auf friedlichem Wege zu ihrem Ziel gelangen können.“ (Karl Marx, „Rede über den Haager Kongreß“, in: MEW 18, S. 160) Bereits zwei Jahre zuvor hatte er in der „Einleitung zum Programm der französischen Arbeiterpartei“ geschrieben, daß das „allgemeine Wahlrecht“ angestrebt werden müsse, „das so aus einem Instrument des Betrugs, das es bisher gewesen ist, in ein Instrument der Emanzipation umgewandelt wird“. (MEW, Bd. 19, S. 238) Hier hegt und schürt Marx selbst Illusionen in den bürgerlichen Wahlzirkus. Paul Mattick schrieb dazu: „Diese Bemerkung erlaubte sogar den Revisionisten, sich selbst zu Marxisten zu erklären...“ (Paul Mattick, „Karl Kautsky: Von Marx zu Hitler“ in Archiv für die Geschichte des Widerstandes und der Arbeit Nr. 13, S. 53) Bebel konnte sich im Sinne der Klassiker wähnen, als er auf dem Parteitag 1891sagte, „daß wir nur den Moment abzuwarten brauchen, in dem wir die ihren Händen entfallende Gewalt aufzunehmen haben.“ (Protokoll Parteitag 1891, S. 280) Diese Vorstellung der Macht, welche dem Proletariat wie eine reife Frucht automatisch in den Schoß fällt, stellt keinen Gegensatz zu den Marxschen und Engelsschen Worten dar. Nelke hat es in dem Text „Marx/ Engels als frühe Kommunisten und staatskapitalistische Ideologen“ richtig auf den Punkt gebracht: „Nein, wir leugnen keinesfalls die theoretischen Pioniertaten, die Marx und Engels geleistet haben. Die Methode des historischen Materialismus, die Methode gesellschaftliches Sein und Bewußtsein nicht vordergründig aus ihren ideellem Überbau, sondern vorwiegend –nicht ausschließlich, das wäre vulgärmaterialistisch – aus den gesellschaftlichen Verhältnissen, besonders den Produktionsverhältnissen abzuleiten, ist unwiderlegbar. Ähnlich sieht es mit dem Hauptanteil ihrer Analyse des Verhältnisses Kapital-Lohnarbeit aus. Aber als Strategen und Taktiker der ArbeiterInnenbewegung sind Marx/Engels heute überholt. Oder besser formuliert: Viele ihrer Ansichten waren schon im 19. Jahrhundert falsch, doch brauchte es die reichhaltigeren Erfahrungen des 20. Jahrhunderts, damit der historische Materialismus in Form des Rätekommunismus diese Fehler geistig reflektieren und überwinden konnte.“

Marx und Engels haben sich mit ihrem Opportunismus und Reformismus an die Organisationen der Arbeiterbewegung angepaßt, deren Entwicklung gerade Engels immer wieder mit geistreichen Kommentaren der oben geschilderten Art kommentierte. Als Marx die Gewerkschaften „Schulen des Kommunismus“ nannte, hatte dies auch damals nichts mit der Wirklichkeit der Gewerkschaften zu tun.

C) Fortschrittsgläubigkeit bei Marx und Engels
„Die zwei Millionen Wähler, die sie (die Sozialdemokratie – Red Devil) an die Urnen schickt, nebst den jungen Männern und den Frauen, die als Nichtwählern hinter ihnen stehen, bilden die zahlreichste kompakteste Masse, den entscheidenden ‚Gewalthaufen‘ der internationalen proletarischen Armee. Diese Masse liefert schon jetzt über ein Viertel der abgegebenen Stimmen; und wie die Einzelwahlen für den Reichstag, die einzelstaatlichen Landtagswahlen, die Gemeinderats- und Gewerbegerichtswahlen beweisen, nimmt sie unablässig zu. Ihr Wachstum geht so spontan, so stetig, so unaufhaltsam und gleichzeitig so ruhig vor sich wie ein Naturprozeß ... Dies Wachstum ununterbrochen in Gang zu halten, bis es dem gegenwärtigen Regierungssystem von selbst über den Kopf wächst, ... das ist unsere Hauptaufgabe.“ (Friedrich Engels, Einleitung zu Karl Marx‘ „Klassenkämpfe in Frankreich 1848 bis 1850“, MEW, Bd. 22, S. 509-527) Engels überschlägt sich im Jahre 1895 voller Enthusiasmus über die „Leistungen“ der deutschen Sozialdemokratie, einer Partei, welche jenseits aller „revolutionären“ Sonntagspredigten bereits „Realpolitik“ machte. Nach eigenen Aussagen betrieb die badische Fraktion der Sozialdemokratie bereits seit 1891 im Landtag eine Politik der Budgetbewilligung. Die Sozialdemokratie war die Partei des „Gothaer Programms“ von 1875, welches Marx und Engels noch radikal kritisiert hatten. Die Sozialdemokratie lehnte bereits in den 1880ern Kolonien nur deshalb ab, weil sie diese für „abenteuerlich“ hielt und den Nutzen für die gesamte deutsche Wirtschaft in Frage stellte. Bereits 1881 hatte Bebel in Vorwegnahme des Jahres 1914 die Verteidigung der Nation im Reichstag gesagt: „Sollte es dahin kommen, daß irgendeine Macht deutsches Gebiet erobern wollte, werde die Sozialdemokratie gegen diesen Feind geradeso gut Front machen wie jede andere Partei.“ Vaterlandsverteidigung statt proletarischem Internationalismus - wo ist da die Sozialdemokratie, welche von Leninisten, aber auch von Linkskommunisten verteidigt wird? Ebenso ist der Bebelsche Ausspruch bekannt, daß er, wenn es gegen den russischen Zarismus ginge, auch das Gewehr ergreifen werde. Die Sozialdemokratie war damals bereits eine gewaltige bürokratische Maschine, deren Heer von Beamten und Parteiarbeitern allesamt in ihrer Existenz von der Partei abhängig waren.

Die Engelssche Lobrede auf die Sozialdemokratie ist allerdings kein Einzelfall. Immer wieder kommentiert er die „Fortschritte“ und „Wahlerfolge“ der Sozialdemokraten. 1879 schreibt er über das Sozialistengesetz, ohne dessen Auswirkungen zu verstehen: „Vielmehr wird das Sozialistengesetz für uns ein ausgezeichnetes Ergebnis haben ...es war ein ständiger Kampf, aber schließlich blieb der Sieg immer auf Seiten der Arbeiter. Sie konnten sich organisieren und jedesmal, wenn es allgemeine Wahlen gab, war dies für sie ein neuer Triumph.“ (MEW, Bd. 19, S. 148) Engels versteht ebensowenig wie Marx, daß die bürgerlichen Wahlerfolge nicht „Siege“ der Arbeiter, sondern diese „Wahlerfolge“ Siege der Integration, also Niederlagen auf dem Rücken der Arbeiter sind. Eine notwendige materialistische Kritik des Parlamentarismus vergessen sie in ihrem Überschwang. Unter dem Sozialistengesetz formte sich der parlamentarische Charakter der Sozialdemokratie vollends aus.

Die Fortschrittsgläubigkeit, welche wir in Bezug auf die Entwicklung der Sozialdemokratie kritisiert haben, läßt sich auch in Bezug auf den Kapitalismus feststellen. Als Lektüre sei das „Manifest“ empfohlen, in dem Marx und Engels über „Leistungen“ des Kapitalismus schwärmen. Diese Entwicklung, die Industrialisierung und die bürgerliche Revolution, war ein „Fortschritt“, allerdings nicht für die Menschheit als ganzes, sondern für die Bourgeoisie, bezahlt mit Blut, Knochen, Schweiß und Tränen der enteigneten Bauern und der zur Lohnarbeit verdammten Proletarier. Marx nennt im Vorwort zur ersten Auflage des „Kapital“ 1867, daß er die „Entwicklung der ökonomischen Gesellschaftsformation als einen naturgeschichtlichen Prozeß“ auffaßt. Solches Denken läßt sich leicht in das Konzept einer Partei einfügen. In das Konzept einer Partei, welche sich, im Bewußtsein, als „Hüterin“ des Wissens von den „naturgeschichtlichen Bedingungen“ und den „Entwicklungsgesetzen der Gesellschaft“ zu handeln, als „Vorkämpferin“ der Interessen der Arbeiterklasse aufspielt und als solche die Selbsttätigkeit der Arbeiterschaft als zu den „Erkenntnissen“ und „Erfordernissen“ in Widerspruch stehend und als „schädlich“ und „abenteuerlich“ bekämpft. „Schon bei Marx gab es dogmatische Verzerrungen. So wurden zum Beispiel die Gesetzmäßigkeiten des Überganges vom Feudalismus zum Kapitalismus dogmatisch auf den Übergang vom Kapitalismus zur klassenlosen Gesellschaft übertragen. Während der Übergang vom Feudalismus zum Kapitalismus tatsächlich eine ökonomische Gesetzmäßigkeit in der Entwicklung der Produktivkräfte darstellt – von vorwiegend landwirt-schaftlicher Produktion zu industrieller – stellt die proletarische soziale Revolution etwas ganz anderes dar. Während die industrielle Produktion und mit ihr die Bourgeoisie sich schon im Feudalismus entwickelt, und diese neuen Produktivkräfte und die Bourgeoisie sich gegen den Feudalismus durchsetzten, besitzt die ArbeiterInnenklasse im Unterschied zur Bourgeoisie keine neuen Produktionsmittel, die sie gegen die kapitalistische Produktionsweise durchsetzen könnten. Die neuen Produktivkräfte des Kommunismus werden auch nicht mehr von der ArbeiterInnenklasse entwickelt – es gibt keine Klassen im Kommunismus!

Der Übergang zwischen Feudalismus und Kapitalismus erfolgt also in erster Linie ökonomisch-evolutionär und die bürgerliche Revolution setzt diese Gesetzmäßigkeit nur noch gewaltsam durch. Eine solche ökonomisch-evolutionäre Notwendigkeit stellt jedoch die soziale Revolution des Proletariats nicht dar. Sie bleibt eine Möglichkeit, aber keine quasi naturnotwendige Gesetzmäßigkeit, wie uns der Marxismus einreden will!“ (Nelke, „Marx/Engels als frühe Kommunisten und staatskapitalistische Ideologen“)

Dem ganzen Marxschen und Engelsschen Denken von einer Zielgerichtetheit des Weltgeschehens liegt der Glaube zugrunde, daß hinter allen Entwicklungen Vernunft stecke. Statt der oft viel beschworenen und angewandten Dialektik, herrscht bei ihnen im Grunde eine mechanische Geschichtsauffassung vor. Gesellschaftliche Entwicklungen vollziehen sich, einem Naturgesetz folgend. Solches Denken ist der ideale Ausgangspunkt für die Legitimation einer wissenden Partei, die Geringschätzung der Selbsttätigkeit der Lohnarbeiterklasse und jede Menge Ideologien wie die „Zusammenbruchstheorie“.

Die Fortschrittsgläubigkeit treibt seltsame Blüten: Eine weitere wichtige ist die fehlende Beschäftigung mit der Unterdrückung der Frau. Gerade Marx hat über die unbezahlte Hausarbeit der Frauen nicht allzuviele Worte verloren. Wenn Engels zur „ersten Vorbedingung“ für „die Befreiung der Frau“ „die Wiedereinführung des ganzen weiblichen Geschlechts in die öffentliche Industrie“ erklärt, so mutet diese Deutung der Unterwerfung der Frauen unter das Joch der Lohnarbeit seltsam an. Diese „Vorbedingung“ schuf der Kapitalismus aus ökonomischer Notwendigkeit: der Aufschwung der Industrie verlangte nach mehr „schaffenden“ Händen. Diese Emanzipation (zur Lohnarbeit) der Frauen spiegelt die Interessen des Kapitals wider, die Tätigkeit in der Produktion hat aber nichts mit Selbstverwirklichung und wirklicher Emanzipation zu tun. (Was auf die Emanzipation der Frauen zutrifft, trifft auch auf die Emanzipation der Sklaven und der Kinder zu.) Die ideologische Verwirrung des durch die Emanzipation der Frauen verkörperten Fortschritts wird in der folgenden Kritik der Frauenbewegung gut auf den Punkt gebracht: „Es gibt eine Vorstellung von vielen Frauen in der Bewegung, die für mich eher den Weltuntergang als die Befreiung verkörpert: Frau und Mann arbeiten .., Kinder von sechs Uhr morgens bis abends in Kindergetto, unterdrückt, gegängelt, angepaßt ... Die Oma ins Altersheim = Altengetto. Die Kranken im Krankenhaus = Krankengetto. Wer ‚arbeitet‘, zählt, alle anderen werden weggepackt. Sind wir borniert genug, solche Zerstörung von Zusammenhängen als Fortschritt, als Emanzipation zu begreifen? Sehen wir nicht, daß das die Unterwerfung unter die Gesetze der Produktivität des Kapitals ist?“(G. Erler, Vorbemerkung, in: „Frauen in der Offensive. Lohn für die Hausarbeit oder: Auch Berufstätigkeit macht nicht frei, S.8) Die Autorin hat eindrucksvoll thematisiert, was von den oft zum Fortschritt erklärten gesellschaftlichen Entwicklungen zu halten ist. Der technologische Fortschritt bedeutet oft soziale Rückschritt in den zwischenmenschlichen Beziehungen, in denen die Entfremdung, die Zerrissenheit immer mehr zunimmt, die aber immer mehr den Charakter von Zweckbeziehungen, von Ware-Geld-Beziehungen erhalten. „Seiner natürlichen Beschaffenheit nach verunfähigt, etwas Selbständiges zu machen, entwickelt der Manufakturarbeiter produktive Tätigkeit nur noch als Zubehör zur Werkstatt des Kapitalisten ... Eine gewisse geistige und körperliche Verkrüppelung ist unzertrennlich ... von der Teilung der Arbeit ...“ (Marx, „Das Kapital“, Bd. 1, S. 381-384) Der technologische Fortschritt bedeutet vielleicht einen höheren Lebensstandard in Form von Autos, Computern, Erholungsurlaub und Waschmaschinen, aber die zunehmende Verwertung der menschlichen Arbeitskraft entwertet die menschlichen Beziehungen zusehends, läßt die Menschen abstumpfen, sich fremd gegenüber bleiben und werden. Die Menschen existieren fast nur noch in ihren Funktionen des Kapitals, immer mehr werden sie unfähig ihren Leben trotz und gegen und ohne die Lohnarbeit einen Sinn zu geben.

Es würde den Rahmen dieser Broschüre sprengen, wenn wir uns hier ausführlich den im Werk von Marx und Engels befindlichen Widersprüchen und reaktionären Tendenzen widmen würden.

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