Kapitel Erlebnisberichte

"Und dann gab er (Ewald, ein Bekannter von A.K.) mir den Bericht über die Versammlung in den Niles-Werken (Berlin-Weißensee) mit Walter Ulbricht ... (23. Juni 1953) Etwa 700 Arbeiter füllten den Kultursaal. Ulbricht kam eskortiert von acht Polizeimotorrädern. Die Polizisten umringten ihn ... Die Arbeiter johlten, pfiffen und schrien, als die Polizei zur Bühne vordrang. "Pfui!" - "Ei - ei, wer kommt denn da mit so vielen Kindermädchen!" -"Polizei raus!" - "Hoch lebe der Arbeiterführer, der mit Polizei Bedeckung zu den Arbeitern kommt!" "Raus mit der Polizei oder mit Ulbricht!" Ulbricht flüsterte mit den Polizisten. Sie verließen die Bühne. Er ging ans Rednerpult. ... die Polizisten (kamen) mit Stühlen wieder in den Saal ... Neue Empörung. "Nun langts uns aber!" - Pfui-Rufe, viele Arbeiter erhoben sich, um zu gehen. Ulbricht winkte den Polizisten, sie zogen sich zurück.
Er begann sein Referat ohne vorherige Einleitung. Schon beim ersten Satz wurde er unterbrochen. Etwa 150 bis 200 Arbeiter erhoben sich, stühlerückend, und stampften aus dem Saal. Andere schrien: "Genug, aufhören!" Ein Arbeiter stand auf und rief: "Diese Rede haben Sie schon zehnmal gehalten, und wir haben das alles schon hundertmal gehört. Wir wollen jetzt mal ganz konkret sprechen." Ein anderer Arbeiter rief: "Hat ja doch keinen Sinn. Wir verstehen nicht , was Sie reden. Sie verlangen von unserer Jugend, daß sie richtig Deutsch spricht, und Sie selber haben es immer noch nicht gelernt." Ulbricht steckte das Manuskript in die Rocktasche. Er sagte:" Ich bin ein Arbeitersohn, dem die kapitalistische Gesellschaft nur vier Jahre Schule erlaubt hat ... ihr versteht mich nur deshalb nicht, weil ihr nicht verstehen wollt, was ich euch zu sagen habe." Rufe: "Hoho!"
... in der Mitte des Saales (erhob) sich Ewald und rief: "Ich muß schon sagen, Genosse (Ulbricht), schwer machst du es uns. Wie stehen wir als einfache Genossen zwischen den Kollegen und sollen ihnen Rede und Antwort stehen, daß du hier mit der Polizei herkommst."
Danach stand Meister Wilke auf ... Er frug Ulbricht: "Erklären Sie uns mal: wenn ich schlecht arbeite an meinem Kessel, dann fliege ich. Sie haben öffentlich gestanden, daß Sie politisch schlecht gearbeitet haben, aber Sie bleiben. Und was gedenken Sie zu tun?" ... Ulbricht reagierte wütend: "Sie lügen! Es ist nicht wahr. Bringen Sie mir den Beweis, daß ein guter Arbeiter entlassen wird, wenn er mal was an seiner Maschine falsch macht - etwas anderes ist es, wenn er die Maschine absichtlich kaputtmacht. Dann ist er ein Feind. Aber wer will behaupten, daß die Regierung ein Feind der Arbeiter ist!" Weitere Arbeiter schnellten ihre Fragen auf ihn ab. Einer ... forderte: "Entfernung der Plakate und Losungen in Weißensee, keine übergroßen Bilder der Parteiführer. Wir wollen eine saubere Stadt haben." Ein anderer rief: "Keine Versammlungen mehr!" Zwischenruf: "Und keine Aufbauschichten!"
Dann verlangte der Gewerkschafter Wienke im Auftrag der Gewerkschaft Gruppe 9 die Freilassung der nach dem 17. Juni gemachten Gefangenen. Allein aus den Niles-Werken seien über 100 Arbeiter verschwunden. (...) Ein anderer Meister sagte: "Wir haben schon hundertmal berechtigte Kritik geübt. Der Erfolg war immer gleich Null, so daß wir schließlich über das, was wir jetzt über die Beschlüsse der Regierung, den sog. Neuen Kurs erfuhren, alle nur sagten: die Botschaft hör ich wohl, allein mir fehlt der Glaube." Ein Parteimitglied sagte: "Wir haben ja immer gewollt, daß frei gesprochen wird und kritisiert wird. Aber leider ist es so gekommen, daß wir zuletzt nicht mehr gewagt haben, den Mund aufzumachen." (...) der Arbeiter Kreise sagte: "Ich bin der Meinung, daß unsere Funktionäre im Betrieb lieber am Tag ein bis zwei Stunden durch den Betrieb gehen und mit den Arbeitern über ihre Sorgen sprechen sollen, als daß sie sich an ihren Schreibtisch setzen und einen Bericht schreiben, der am Ende doch nicht stimmt." Die Unruhe wuchs; Zwischenrufe mehrten sich. Am Ende verdarb Ulbricht alles ... indem er eine vorbereitete "Resolution" zur Abstimmung bringen lassen wollte. Da brach der Sturm los. "Aha! - ein Hurra für die SED!" - "Es lebe der Führer!" - "Ohne uns!" - Ulbricht versuchte, sie zu überschreien. Schließlich gelang es ihm, die Resolution vorzulesen. Die übliche Vertrauenserklärung für die Partei und Regierung. Er stellte sie zur Abstimmung. Die Zählung ergab: 199 dafür; dagegen alle übrigen. Ulbricht selbst schätzte: 'Also etwa 500 dagegen.'" (nach Kantorowics: Deutsches Tagebuch, S. 383 ff.)

Heinz Brandt, damals Sekretär der Berliner SED, beschreibt seine Eindrücke so: "Am Morgen des 17. Juni stand Ostberlin, stand die DDR im Zeichen der Volkserhebung. Ich sah, wie Funktionärsautos umgeworfen, Transparente und Losungen, auch Parteiabzeichen abgerissen und verbrannt wurden ... Als ich morgens zu dem mir zugeteilten volkseigenen Großbetrieb Bergmann-Borsig in Berlin-Wilhelmsruh kam, wurde dort keine Hand gerührt. Die Arbeiter diskutierten am Arbeitsplatz und führten in den Hallen kleine Versammlungen durch. Vertrauensleute nahmen von Abteilung zu Abteilung miteinander Verbindung auf, um eine Versammlung der gesamten Belegschaft herbeizuführen ... Zum Ausschußvorsitzenden wurde ein älterer, erfahrener sozialdemokratischer Arbeiter gewählt. In der Diskussion, die der Wahl des Betriebsausschusses folgte, sprachen etwa zwanzig Arbeiter. Das war eine elementare, leidenschaftliche Auseinandersetzung, eine historische Abrechnung mit dem SED-Regime. All das, was sich bisher gestaut hatte, nie offen in Versammlungen ausgesprochen worden war, brach sich jetzt Bahn. Aus eigenem Erleben, in der drastischen, ungekünstelten Sprache des erregten Menschen, der von seinen persönlichen Erfahrungen ausgeht, wurden zahllose empörende Beispiele von Rechtswillkür angeführt. Namen von Arbeitskollegen aus dem Betrieb wurden genannt, die verhaftet, verurteilt, mißhandelt worden waren, deren Angehörige nichts mehr von ihnen gehört hatten. Es wurde eine Entschließung angenommen, die den gewählten Arbeiterausschuß bevollmächtigte, die wirtschaftlichen und politischen Interessen der Belegschaft zu vertreten und sich mit ähnlichen Ausschüssen in anderen Betrieben in Verbindung zu setzen. Als politisches Hauptziel wurde die Wiedervereinigung Deutschlands durch freie demokratische Wahlen gefordert. Am Schluß der Versammlung sprang ein Arbeiter auf das Podium und forderte die Belegschaft auf, sich mittags am Betriebstor zu versammeln, um in das Stadtzentrum zu demonstrieren - überall wären bereits derartige Streikdemonstrationen in Gange Der Demonstrationszug kam nicht weit. Um 13 Uhr war der Ausnahmezustand eingetreten. General Dibrowa, der sowjetische Stadtkommandant, hatte ihn verhängt. Unmittelbar darauf kämmten sowjetische Truppen die Straßen durch. Die Bergmann-Borsig-Demonstration wurde aufgelöst, die 'Rädelsführer' - darunter der sozialdemokratische Vorsitzende des soeben gewählten Betriebsausschusses - verhaftet. Welch glorreiche Aktion der Sowjet(Räte)macht gegen die Räte." (Heinz Brandt, "Ein Traum, der nicht entführbar ist", S. 240)

Hans Lützendorf berichtet: "Da war zunächst die erstaunliche Disziplin, die überall gewahrt wurde. Ältere Arbeiter bremsten junge Heißsporne mit dem mahnenden Hinweis, dies sei eine rein deutsche Angelegenheit, man solle die Russen draußen lassen. Und tatsächlich fiel gegenüber der Besatzungsmacht bis zum späten Nachmittag kein böses Wort. Alle wünschten, diese würden einsehen, daß die SED abgewirtschaftet hatte und andere Männer die Regierung in Ostberlin bilden müßten. Von diesen erhoffte man sich eine positive Einstellung zur Frage der deutschen Einheit. Sieht man einmal von den Parteilokalen ab, so wurde nirgendwo, weder in den Betrieben noch in den HO- oder Konsumgeschäften, eine Scheibe eingeschlagen, geschweige denn geplündert. Im Gegenteil, die spontan gewählten Streikkomitees wiesen Kollegen an, in den Betrieben zu bleiben und den Fortgang der Produktion zu sichern. Weder in den Leuna-Werken noch in den Buna-Werken gab es später Schäden an den Maschinen und Einrichtungen wegen mangelnder Aufsicht oder Bedienung. Undenkbar wäre es gewesen, daß in diesen Stunden Unbekannte die Leitung der Demonstrationen hätten übernehmen können. Die Streikleiter und Redner waren alle ohne Ausnahme besonnene, ältere Kollegen, die durch Zuruf ausgewählt wurden, ohnehin das Vertrauen ihrer Mitarbeiter besaßen, und sich plötzlich in den Streikleitungen wiederfanden. Die später von der SED verbreitete Parole von den Saboteuren und Agenten, die aus dem Westen kommend in die DDR eingeschleust worden seien, um die Werktätigen aufzuputschen, stieß in den großen Betrieben nur auf verächtliche Ablehnung. Die dabei gewesen waren, wußten es besser." (Hans Lützendorfs Bericht in Klaus Ewert und Thorsten Quest, "Die Kämpfe der Arbeiterschaft in den volkseigenen Betrieben während und nach dem 17. Juni in Spittmann/Fricke, "17. Juni 1953", S. 35)

"Es war am Abend des 15. Juni, einem Montag, da erschien die Sekretärin Otto Grotewohls aufgeregt bei Bruno Baum in der Wirtschaftsabteilung der Bezirksleitung. Sie legte ihm einen Brief vor, den die Bauarbeiter vom Krankenhausneubau Friedrichshain an Grotewohl, den damaligen Ministerpräsidenten der DDR , geschrieben hatten. Zufällig war ich anwesend. Dieser Brief - er ist inzwischen zu einem historischen Dokument geworden - forderte von der Regierung die sofortige Zurücknahme der Normenerhöhung. Der neue Kurs - so wurde ausgeführt - habe nur den Kapitalisten etwas gebracht, aber nicht den Arbeitern. Für Dienstagvormittag, den 16. Juni, wurde eine Delegation der Bauarbeiter angekündigt, die sich an Ort und Stelle den Bescheid des Ministerpräsidenten abholen wolle. Für den Fall einer negativen Antwort wurde Streik angedroht. Otto Grotewohl schien unsicher, ja völlig hilflos zu sein und bat um die Meinung der Bezirksleitung der SED. Auf Grund ihrer Kenntnis der konkreten Lage solle sie raten, was zu tun sei. Bruno Baum, überlegene Ruhe ausstrahlend oder posierend, fällte ein salomonisches Urteil: Nur nicht bange machen lassen. (...) 'Auf keinen Fall klein beigeben', postulierte er, 'wenn die Delegation erst über die roten Teppiche im Amtssitz Grotewohls geht, wird ihr so feierlich zumute, daß sie ganz zahm verhandeln wird.' Darin habe man ja Erfahrung aus der Weimarer Zeit, damals, als es noch umgekehrt herum ging. Wie oft hätten bürgerliche, hätten sozialdemokratische Minister die aufgebrachten Arbeiter mit ein paar wohlwollenden Worten nach Hause geschickt, und die seien dann auch noch ihr ganzes Leben lang auf diese Begegnung stolz gewesen ... Diese Wirkung der Obrigkeit hätte uns damals genug Kummer bereitet - aber heute käme sie uns zugute. Grotewohl solle den Brief überhaupt nicht beantworten, die Delegation ruhig ‚anrücken' lassen und ihr dann überlegen - von der hohen Warte des Ministerpräsidenten her - erläutern, daß strenge Sparsamkeit nun einmal vonnöten sei." (H. Brandt in Fritsche, S. 126) Unserer Meinung nach stellt dieser Bericht ein bezeichnendes Verhalten gegenüber den Arbeitern dar, wo es sich doch um einen "Arbeiterstaat" handelte. Ganz nach bürgerlicher Manier sollten die Probleme einfach ausgesessen werden.

"Wie die Ereignisse des 16. Bis 19. Juni zeigten, herrschte ... in manchen Parteiorganisationen, leitenden Parteiorganen, bei einigen leitenden Parteifunktionären und Parteimitgliedern Kopflosigkeit und Unorganisiertheit. In einer Reihe von Fällen haben sich Parteifunktionäre selbst im Schlepptau der Provokateure befunden und an den von den Provokateuren organisierten Kundgebungen und Demonstrationen teilgenommen ... Andere Parteimitglieder wiederum sind in Panik verfallen, auf die Position des Kapitulantentums und des Opportunismus ... abgeglitten." (Entschluß, auf der 15. Tagung des ZK der SED im Juli 1953 angenommen, laut W. Brandt "Arbeiter und Nation", S. 29)

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