Kapitel "Bedürfnisse" aus "Zur Kritik der Arbeiterbewegung, des Marxismus und der Linken"

Bedürfnisse

Als wir in unserem Flugblatt "Recht auf Arbeit? Recht auf Faulheit? Nieder mit der Lohnarbeit!" schrieben "Setzen wir dem Totalitarismus der Ware unsere Bedürfnisse, Sehnsüchte, Träume und Wünsche entgegen. Kämpfen wir für das volle Leben, nicht nur ein einigermaßen akzeptables Überleben. Wir müssen das Überleben beenden, damit unser Leben beginnen kann.", wurde uns - vor allem von linkskommunistischer Seite - sogleich Individualismus und Anarchismus vorgeworfen. Was haben wir anderes zu erwarten von Parteisoldaten? Individuelle Bedürfnisse, die Motivation für jeden von uns waren und sind, Interesse am Kommunismus zu entwickeln, sich den kapitalistischen Verhältnissen zu widersetzen, passen nicht zu den Befehlsempfängern der proletarischen (Arbeits-)Armee. Wo es um Unterordnung geht, ist kein Platz für individuelle Bedürfnisse. In einer Armee entscheidet der Generalstab, nicht die Befindlichkeit und die Bedürfnisse des Einzelnen. Bedürfnisse passen nicht zum steril-autistischen Anspruch der Wissenschaftlichkeit. Das rein autistisch-wissenschaftliche Verhalten der Avantgarde zum Leben und Kampf der Klasse hat Doktor Gottschalk, ein Kritiker von Marx einmal recht gut charakterisiert, als er schrieb: "Das Elend des Arbeiters, der Hunger der armen hat für sie nur ein wissenschaftliches, ein doktrinäres Interesse. Sie sind erhaben über solche Miseren." In der Tat sind sie erhaben über die Misere der Arbeiter: für sie existiert sie nur als soziologische Größe ohne individuelle Bedürfnisse, als Mythos und als Objekt. Ihr Interesse ist rein politisch. Politik läßt keine individuellen Bedürfnisse gelten, sie kennt nur Sachzwänge und versucht diese zu verwalten. Auf diese Parteisoldaten, die damit auch ihre einstigen (?) Antriebe verleugnen, trifft zu, was Brecht einst schrieb, daß sie "unter dem Verdacht stehen, daß sie die Revolution nur machen wollen, um den dialektischen Materialismus durchzusetzen". Eben diese Bedürfnisse werden vom Kapital wie auch von der Parteibürokratie unterdrückt - nur ist ihre Verwirklichung das Ziel und der Inhalt des Kommunismus, ebenso wie die auch vom Parteikommunismus abgelehnte Selbsttätigkeit der Menschen. Für wen unsere Bedürfnisse "individualistisch" und die Selbsttätigkeit "anarchistisch" oder "rätistisch" sind, der hat den Sinn und Inhalt des Kommunismus nicht verstanden! Aufgabe von Kommunisten sollte es sein, nicht die individuellen Bedürfnisse auszugrenzen, zu diffamieren, zu unterdrücken und zu verdrängen, sondern ihr Entstehen zu fördern, sie zu vervielfachen, sie zu entfachen und als Antrieb anzuerkennen. Denn die Formulierung dieser Bedürfnisse ist ein Akt der Selbstbewußtwerdung über die eigenen Bedürfnisse und die eigene Lage, ein Akt der Rückerlangung der eigenen Subjektivität und ein Akt der Selbstemanzipation von der Rolle als Konsument und Produzent; sie kollidiert mit der kapitalistischen Ordnung der Sachzwänge und der Lohnarbeit. Aber die selbständige und selbstbewußte Formulierung der Bedürfnisse könnte zu selbsttätigem Handeln führen, welches einer Partei, einer Gewerkschaft, einer Avantgarde, kurz: einer Vermittlung nicht bedürfte und sich direkt äußerte. Darin ist auch der Hauptgrund ihrer Diffamierung und Ausklammerung zu sehen.

Die Summe der Individuen bildet zusätzlich das Kollektiv der Klasse; daß sich diese Individuen selbstbewußt äußern, ist Teil des Bewußtwerdungsprozesses der Klasse. W. Reich hat in "Was ist Klassenbewußtsein?" hierzu angemerkt: "Die Revolution kann sich nur aus den Widersprüchen des heutigen Lebens entwickeln und nicht aus den Debatten über die amerikanisch-japanischen Gegensätze oder aus Aufforderungen zu Demonstrationen und Streik, die niemand durchführen kann." Die derzeitige Ausklammerung unserer Bedürfnisse und ihre Diffamierung als "individualistisch", "anarchistisch" und "kleinbürgerlich" paßt nicht zu einer Bewegung, die angeblich die Verwirklichung unserer menschlichen Bedürfnisse erstrebt, sondern zeigt, daß diejenigen welche die Formulierung unserer Bedürfnisse als "anarchistisch" oder "individualistisch" verurteilen Feinde der sozialen Revolution und der Selbstemanzipation der Menschen sind.

Wie sollen wir jemals Subjekte der Geschichte und des gesellschaftlichen Lebens werden, wenn unsere eigene, sich entwickelnde Subjektivität einer Avantgarde und einen "objektiven Lauf" der Geschichte untergeordnet wird? Warum aber sollten wir eine Revolution herbeisehnen, wenn unsere eigenen Bedürfnisse, Träume und Wünsche wie im Kapitalismus im Kampf gegen ihn ausgeschlossen sind? Wenn wir nicht länger Statisten bleiben, sondern Subjekte werden wollen, schließt dies die selbstbewußte Formulierung subjektiver Bedürfnisse und Interessen ein, welche hier der Kapitalverwertung, dort der Parteidisziplin untergeordnet werden sollen. Es macht keinen Sinn sich von der Unterwerfung unter das Kapital zu befreien, um sich der Partei und deren Bedürfnissen zu unterwerfen. Würden wir jemals gegen den Kapitalismus und die Lohnarbeit kämpfen, wenn wir nicht das Bedürfnis hätten beides zu überwinden?

Was für die Verbannung unserer Bedürfnisse in die Zukunft gilt, gilt für vieles; ihre Verwirklichung wird auf den St. Nimmerleinstag verschoben und unsere Bedürfnisse stehen in keinem Zusammenhang mit der sozialen Revolution und der kommunistischen Gesellschaft, zwischen ihnen und der Zukunft besteht eine große Lücke : "Somit wird es in Zukunft eine Revolution geben, aber in der Zwischenzeit wirken die Gesetze der kapitalistischen Reproduktion. In der Zukunft wird es einen realen Bruch geben, aber in der Zwischenzeit können wir den Kapitalismus so behandeln, als wäre er eine sich selbst reproduzierende Gesellschaft. In der Zukunft wird die Arbeiterklasse das Subjekt der gesellschaftlichen Entwicklung sein, aber in der Zwischenzeit herrscht das Kapital. In Der Zukunft werden die Dinge anders sein, aber in der Zwischenzeit können wir den Marxismus als funktionalistische Theorie behandeln, in der die ‚Bedürfnisse des Kapitals', ein häufig in marxistischen Diskussionen auftauchender Satz, als adäquate Erklärung dessen, was geschieht oder nicht geschieht, genommen werden können ... Der Bruch, sofern an dieser Vorstellung überhaupt festgehalten wird, kann also nur als etwas Externes, als etwas von außen Eingebrachtes betrachtet werden." (John Holloway, "Die Welt verändern ohne die Macht zu ergreifen", S. 157/158)

Den Vorwurf des "Individualismus" kann ebenso gegen die Avantgardisten gerichtet werden: Ihr Avantgarde-Dasein ist nicht viel kollektiver als die Formulierung individueller Bedürfnisse, nur entspringt es nicht dem Kampf der Arbeiter gegen die Ordnung der Lohnarbeit und reproduziert die gesellschaftlich herrschende Trennung in Wissende und Ausführende, während die Formulierung der Bedürfnisse den Rahmen der gesellschaftlichen Verhältnisse zu sprengen vermag, weil die kapitalistische Gesellschaft die Bedürfnisse der Menschen nicht wirklich befriedigen und verwirklichen kann, außer in ihrer pervertierten und kastrierten Warenförmigkeit. Die Avantgarde ist weit individualistischer, weil sie das Kollektiv des Proletariats ihrem Anspruch unterwerfen will und ein Teil der Avantgarde bereits heute seine ganz individuelle Emanzipation von der Lohnarbeit erfährt: als Funktionär und Bürokrat.

Überhaupt besteht der Individualismus der Avantgardisten darin, daß sie die Arbeiterinnen und Arbeiter ihrem voluntaristischen Glauben an die Verbesserung der ungerechten Verhältnisse und die Revolution unterwerfen, anstatt die ökonomischen, konkret und direkt erfahrenen Interessen als Ausgangspunkt und Ziel einer gesellschaftlichen Veränderung zu nehmen. Sie wollen den Arbeitern die "Lehre vom Klassenkampf" (Es gibt keine "Lehre" vom Klassenkampf außer den bürgerlichen Irrlehren über ihn, von den Bolschewiki bis zu den Nazis.) näher bringen, ihnen die Welt erklären, anstatt die konkreten Bedürfnisse, Kämpfe und Verhältnisse wahrzunehmen und diese als Anknüpfungspunkte statt als Agitationsmöglichkeiten zu nutzen oder diese gar den diversen religiösen und politischen Sekten zu überlassen, welche die Träume der Menschen vermarkten, bürokratisieren und militarisieren. Die Bedürftigkeit der Arbeiter wird als Ausgangspunkt genommen, nicht ihre Bedürfnisse und ihre Stellung im Produktions- und Arbeitsprozeß. Bedürftigkeit aber setzt eine Opferrolle voraus, welche die Klasse zum Objekt werden läßt. Die armen, hilflosen Arbeiter bedürfen Hilfe und wie in einem kitschigen Hollywood-Schinken ist der selbstlose Retter, der edle Rächer bereit und zum allem entschlossen: die Avantgarde. Die Existenzberechtigung der Organisation ist gerettet. Bedürfnisse suchen sich ihren Weg der Verwirklichung, bedeuten zugleich Selbstbewußtsein, mitunter Selbsttätigkeit und Selbstemanzipation.

Die Avantgarde steht als politische Bewegung den menschlichen Bedürfnissen feindlich gegenüber, weil diese direkt geäußert werden und keiner Vermittlung und Vertretung durch Partei oder Gewerkschaft, nicht wie unmündige Kinder einer väterlichen Obhut bedürfen. Auf der Verachtung des Kampfes der Massen gegen das Überleben und die Bedingungen des Überlebens, also der derzeitigen Subjektivität der Klasse, eines Kampfes, welchen die Avantgarde nicht kennt, basiert die idealistische Überhöhung der politischen Partei und des Führungsanspruchs der jeweiligen Organisation. Diese Haltung ist antirevolutionär, weil sie Weg und Ziel einer wirklichen Emanzipation bzw. deren zaghafte Anfänge verdammt, hemmt und bekämpft, anstatt sie zu fördern. Die Distanz der Praxis und Theorie der Avantgarde ist Ausdruck des eigenen Verhältnisses zum Proletariat: des eigenen Glaubens in eine fremde Klasse, des eigenen Standpunktes außerhalb des Proletariats, der eigenen Interessenlosigkeit an einer wirklichen Emanzipation des Proletariats.

Sicher: Die soziale Revolution ist nur als kollektiver Akt der Klasse zu ihrer eigenen Aufhebung denkbar. Aber diese Revolution speist sich aus vielen individuellen Bedürfnissen, Sehnsüchten und Träumen wie auch die Klasse aus lauter Individuen besteht. Bei der sozialen Revolution handelt es sich nicht um die Verwirklichung einer "historischen Mission", sondern um das Handeln einer bewußten und sich selbst im Laufe ihres eigenen Handelns bewußt werdenden Klasse. Der anarchistische Traum von der "Selbstverwaltung" und der "Selbstbestimmung" unter kapitalistischen Verhältnissen ist eine Illusion. Es gibt im Kapitalismus keine Selbstverwaltung außer der Selbstverwaltung des eigenen Elends und der eigenen Ausbeutung in Betrieben wie LIP in den 1970ern oder argentinischen Betrieben heutiger Tage. Mit der Selbstbestimmunng verhält es sich genauso. Allerdings existieren Keimformen einer kommunistischen Gesellschaft: z.B. egalitäre Tendenzen in Arbeiterkämpfen (z.B. in Bezug auf die Löhne), die Formulierung der Bedürfnisse, die Selbstorganisation der Menschen jenseits bürgerlicher Vermittlung in Form von Politik und Institutionen.

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