"Wir sind alle Abschaum!" - Die brennenden Autos und Supermärkte der Banlieues

Der Tod zweier Jugendlicher, gehetzt von der Polizei, in der nordöstlichen Vorstadt von Paris, Clichy-sous-Bois, war Auslöser der diesjährigen „Jugendkrawalle“ in Frankreich. Einige Tage waren die französischen Balieues in nahezu aller Munde. In den Zeitungen und im TV wurde über sie und die brennenden Autos und Supermärkte berichtet. Gesprächsthema war all das auch in Deutschland. Beim Anblick der Bilder erinnerten wir uns der Riots in Watts Ende der 1960er, der "Jugendkrawalle" in britischen Städten in den 1980ern, der "Rassenunruhen" in Los Angeles 1992, der Auseinandersetzungen zwischen Kindern und Jugendlichen einerseits und der Polizei andererseits Mitte der 1990er in Polen. Und natürlich erinnern wir uns an die alljährlich wiederkehrenden "Krawalle" in französischen Städten, bei denen meist Polizeiübergriffe gegen Jugendliche die Auslöser sind.

Diesmal hat die Dauer, die Heftigkeit und die Ausbreitung der Auseinandersetzungen die meisten überrascht. Das, was im englischen Birmingham im Oktober diesen Jahres zwei Tage eines Wochenendes gedauert hatte, blieb in Frankreich kein Strohfeuer und nicht auf einen Ort beschränkt. Es entwickelte sich ein Flächenbrand, der von den Pariser Banlieues ausgehend weitere Banlieues im ganzen Land in Brand setzte. Betroffen waren u.a. Dijon, Lyon, Marseille, Rennes, Toulouse ... In etwa 300 der 36.000 Gemeinden wurden rund 3.000 Menschen verhaftet und es brannten knapp 9.000 Autos. Es gab kaum Verletzte und es gab kaum Plünderungen.

Brennende Autos und Supermärkte - Alptraum der Warengesellschaft

Die brennenden Autos und Supermärkte der Banlieues bedeuteten das zeitweise Ende der heilen Welt der Warengesellschaft; sie kündeten davon, daß sich noch nicht alle mit ihrer elenden Existenz abgefunden haben. Die brennenden Autos und Supermärkte, die brennenden Schulen und Kindergärten künden aber auch von Resignation, davon, daß der Protest isoliert und ohne Perspektive ist und verzweifelt; sie sind der Alptraum einer Welt, in der die Supermärkte und die Autos Symbole einer teuer bezahlten und erkauften "Freiheit" sind, in der Schulen und Kindergärten Symbole einer unter kapitalistischen Verhältnissen nicht realisierbaren "Chancengleichheit" und ebenfalls Orte der Verwaltung des Elends und der Disziplinierung der Elenden sind. „Im November 2005 verweigern sich die jungen Prolos der Entwürdigung durch das prekäre Leben und das Elend. Das hat in der Schule begonnen, also brennen sie die Schulen nieder. Solch ein Umfeld und solche Institutionen sind ihr Gefängnis, also zerstören sie es.“ (Laurent, Ivry-sur-Seine aus Le Monde libertaire, 17.11.2005) Rebelliert hat genau ein Teil der Jugendlichen, denen der Zugang zu all dem verweigert wird: sie sind arbeitslos und der Großteil von ihnen wird es bleiben, aufgrund ihrer Herkunft (Kinder von Immigranten, Bewohner der Banlieues) und weil es - selbst für "Qualifizierte" - keine Jobs gibt. Sie gehören der weltweit wachsenden Masse von für die kapitalistische Ökonomie Überflüssigen an. "Überflüssig", weil sie ökonomisch nicht verwertbar und sie nicht (finanziell) "flüssig" sind.

"Wir sind alle Abschaum!"

Als der französische Innenminister Sarkozy Anfang November die Jugendlichen in den Banlieues als "Abschaum" und "Gesindel" beschimpfte und meinte, sie müßten mit "Hochdruckreinigern" von der Straße "gespült" werden, war dies nicht nur eine Provokation, es war gleichzeitig auch ehrlich. Sarkozy hat nur seine Verachtung für "die da unten" kundgetan. Wir, also "die da unten", waren schon immer das "Lumpenpack", ob nun als Bettler/innen oder Arme, Arbeiter/innen oder Arbeitslose: Das war schon immer so. Im Mittelalter, im 19. und im 20. Jahrhundert, und eben auch heute. Das ist nicht nur in Paris der Fall, sondern auch in anderen Ländern und Städten der Welt. Wir waren und sind das "Lumpenpack" und der "Abschaum" - bis heute. Früher nannten die Herrschenden uns "gefährliche Klassen" und "working poor", an dieser Einschätzung und an dieser Stellung in dieser Gesellschaft hat sich nichts grundlegend geändert - trotz Arbeitsschutz, Konsumartikeln, Menschenrechten und Sozialversicherung, trotz Auto, TV, Einbauküche und Handy. Die Ausgangssperre, die mittels eines Gesetzes aus der Kolonialzeit umgesetzt wurde, zeugt eher weniger von einer weiter existierenden „Kolonialmentalität“. Es zeigt das Potential der totalitären Demokratie und weckt Erinnerung daran, daß am Anfang der Industrialisierung zuerst die einheimische ArbeiterInnenklasse kolonisiert werden mußte.

Solange wir uns mit unserer Rolle, mit unseren Brosamen und unserer Rolle als Lohnabhängige (von Lohn und Lohnersatzleistungen abhängig sind wir, ob wir nun arbeitslos sind oder in "Lohn und Brot" stehen) bescheiden zufrieden geben, schweigen sie über uns. Sobald wir anfangen diese Verhältnisse zu kritisieren, Forderungen zu stellen, uns nicht länger abfinden, werden sie uns wieder mit Ausdrücken ("Asoziale", "Lumpenproletariat", "Sozialschmarotzer", etc.) versehen und mit neuen Reformen und Repressionen bedenken. Der Grund, warum Sarkozy die Jugendlichen als „Abschaum“ beschimpft hat, ist der, daß sie das verordnete Schweigen gebrochen haben und sich nicht ruhig damit abfinden: „Solange wir uns still halten, kümmert man sich einen Dreck um uns!“ (NZZ online, 6.11.2005)

Ein Teil des "Abschaums" der Banlieues schlägt sich auf die Art und Weise durchs Leben wie der Großteil der Menschen unter kapitalistischen Verhältnissen, halt nur unter ihren ganz besonderen Bedingungen und mit den sich ihnen bietenden Möglichkeiten: "asozial", auf Kosten der anderen, mit dem (Ver-)Kaufen von Waren und kleinen Geschäften. Für die Herrschenden ist das Problem hieran lediglich die "Illegalität" dieser Geschäfte: Dealen, Diebstahl, Hehlerei ... im Gegensatz zu ehrwürdigen Kavaliersdelikten wie "legalem" Waffenhandel, Alkohol- und Zigarettenhandel, Steuererhöhungen, "Sollbruchstellen" bei Produkten, "Gammelfleisch" ... - halt den ganz „legalen“ Sauereien des Warenalltags und der Lohnarbeit.

Die Rebellierenden

Die Jugendlichen in den Banlieues sowie der Großteil der restlichen (vor allem der Langzeit-)Arbeitslosen kann längst nicht mehr als Bestandteil der Reservearmee an Arbeitskräften angesehen werden, da sie auf lange Sicht (wenn sie überhaupt darauf noch eine Aussicht haben) keine Aussicht auf Anstellung haben. Aus diesem Grunde rechnen wir sie der zunehmenden Menge der Ausgeschlossenen, der Klasse der Ausgegrenzten und Überflüssigen zu, die dauerhaft oder zumindest für sehr lange Zeit aus dem gesellschaftlichen Verwertungs-, also Ausbeutungsprozeß ausgesondert worden sind. Ihre Arbeitskraft ist überflüssig, ihre Kaufkraft nicht vorhanden, in den kapitalistischen Metropolen wird ihr physisches Überleben (noch) staatlicherseits gesichert; in anderen Teilen der Welt wird das Elend der Ausgeschlossenen, Ausgegrenzten und Überflüssigen ignoriert und sie sterben an Hunger und Krankheiten. Erinnert sei an die 25.000 Kinder, die tagtäglich am Hunger sterben. Die Menschen, die in den Banlieues endgelagert werden, sind Teil der weltweit wachsenden Überbevölkerung.

Die Rebellion in den Vorstädten war ähnlich aggressiv, destruktiv, gleichgültig und (ir)rational wie die gesamte kapitalistische (Re-)Produktion. Es gab keine offiziellen Forderungen. In den 1980ern hatten die rebellierenden Jugendlichen in den Banlieues noch Forderungen an den Staat gerichtet. 2005 gab es solche Forderungen nicht, was heißt, daß sie von der Politik nichts erwarten, also keine Illusionen hierin haben (was nicht heißen soll, daß sie keine Illusionen haben). Dazu paßt, daß etwa 50 % der BewohnerInnen der Banlieues nicht mehr wählen gehen. Eine Solidarisierung von Seiten einer Mehrheit der Bevölkerung in den betroffenen Gegenden blieb aus. Da gibt es nichts zu beschönigen. Bei den Rebellierenden handelte es sich wohl fast ausschließlich um männliche Jugendliche. Nach außen hin war keine Organisation zu erblicken, im Internet gab es aber Homepages, auf denen über den Stand der Riots berichtet wurde. Einige dieser Homepages wurden gesperrt.

Für uns ergeben sich aus den Riots viele Fragen: Welche Rolle werden die Ausgegrenzten und Überflüssigen in einer sozialen Revolution spielen? Sind solche Riots in Zukunft auch in anderen Ländern Europas möglich? Wird die Wut verpuffen oder wird sich daraus in irgendeiner Art eine Form der Selbstorganisation herausbilden? Was gab es an Beispielen sozialer Selbstorganisation? Was haben die weiblichen Jugendlichen gemacht als ihre Mitschüler, Freunde und Brüder an den Riots beteiligt waren? Und was heißt es und sagt es über die französische Gesellschaft aus, wenn die Zeit vor den Riots als „Normalzeit“ bezeichnet wird und in den „ruhigen“ Monaten Januar bis September 2005 in Frankreich trotzdem insgesamt 28.000 Fahrzeuge angezündet wurden und darüber in der internationalen Presse nicht berichtet wurde? Wie hoch ist der Preis der „Normalität“? Inwiefern ist in den Banlieues der Ausnahmezustand längst Normalzustand? Das sind nur einige unserer Fragen.

Die üblichen Erklärungen

Schnell waren Politiker und Intellektuelle zur Stelle, um den gesellschaftlichen Ausnahmezustand zu erklären. Die französischen Intellektuellen Alain Finkielkraut und Andre Glucksmann sind der Ansicht, Texte französischer Rapper seien verantwortlich für die Riots in den Balieues. 200 Abgeordnete des französischen Parlaments wollen nun sieben französische Rap-Gruppen verbieten, weil diese sich angeblich der "Anstiftung zum Haß" schuldig gemacht hätten (jW, 1.12.2005).

Der französische Arbeitsminister Gerard Larcher machte „die Polygamie unter Einwanderern“ für die Riots verantwortlich. „Da einige Teile der Gesellschaft diese antisoziale Verhalten zeigen, ist es nicht verwunderlich, daß manche von ihnen Probleme bei der Arbeitssuche haben.“ (jW, 17.11.2005 Zynischer geht es nun wirklich nicht!

Viel war die Rede von der mangelnden "Integration" der Immigranten in die französische Gesellschaft. Es ginge darum, daß sich die Jugendlichen nicht ausgegrenzt "fühlen" dürften. Alles also nur ein Gemütszustand, ein Gefühl(szustand) ohne gesellschaftliche Basis? Die sich ausgegrenzt "fühlenden" Jugendlichen müßten integriert "werden". Wenn Menschen integriert werden sollen, dann steht schon grammatikalisch fest, wer Subjekt und wer Objekt ist. Im Endeffekt geht es darum, daß sich diese Jugendlichen "integrieren" sollen, d.h. sich anpassen und zufrieden geben sollen mit der Perspektive, welche ihnen die Gesellschaft bietet. Doch welche Perspektive bietet die "Integration"? Genau das, wogegen sie sich aufgelehnt haben. Tristesse der Wohnsilos mit oder ohne Begrünung, Routine mit oder ohne Jobs, ... was bleibt, sind die Abhängigkeit und das Elend.

Francois Asecsi (PCF) sprach Anfang November 2005 davon, daß Frankreich sich in einem "sozialen Notstand" befinde. Befindet sich der Kapitalismus nicht permanent im "sozialen Notstand"? "Haben sie nichts anderes als ein Gesetz, das die Grundfreiheit verletzt, um die Ordnung in den Vorstadtvierteln wieder herzustellen? Wir befinden uns nicht im Krieg, sondern in einem sozialen Notstand." (jW, 10.11.2005)

Französische Politiker, Alice Schwarzer wie auch andere haben den Versuch gemacht, die Riots mit dem islamischen Fundamentalismus in Verbindung zu bringen und sie somit ihres sozialen Inhalts zu berauben sowie sie zu diskreditieren. Auch das TV brachte Bilder einiger Jugendlicher, deren Ausrufe mit "Allah ist groß!" übersetzt wurden. Sicherlich hat der islamische Fundamentalismus nach dem 11. September 2001 und dem hysterischen Anti-Islamismus auch in den Banlieues an Boden gewonnen, die Riots allerdings als Werk der Mullahs darzustellen, geht völlig fehl. An den Riots waren nicht nur Jugendliche mit Immigrationshintergrund beteiligt, sondern auch viele „normale“ weiße französische Jugendliche. Die französische Politik besonders unter Sarkozy hat ein taktisches Verhältnis zu islamischen Kräften: Nun nutzt sie diese als Schreckgespenst, als Gefahr für die „westlichen Werte“, um sie erneut morgen wieder als verläßliche Ordnungsfaktoren einzusetzen. So hat Sarkozy in der Vergangenheit auf die heutigen „Unruhestifter“ (moslemische Organisationen) als Ordnungsstifter gesetzt. „Im Gegensatz zu Anfang der 90er Jahre spielten die religiösen Führer keine aktive Rolle in den Revolten. Die Bärtigen machten eher die Clowns zwischen CRS-Bullen und brennenden Autos. Die radikalen Islamisten haben an so einem Chaos und den damit einhergehenden Polizeikontrollen auch kein Interesse.“ (Wildcat-Zirkular Nr. 75, Winter 2005/2006) Zudem hat eine islamische Gruppierung eine Fatwa gegen gewaltsame Aktionen ausgesprochen. Gerade die Mullahs wie auch Drogenbanden sind daran interessiert, daß alles ruhig bleibt, damit sie ihrem „Geschäft“ nachgehen können.

Vielleicht dient aber gerade das mediale Spektakel und die Gleichsetzung der Rebellierenden mit Terroristen dazu, die Repression gegen die potentiell Unzufriedenen im Voraus zu rechtfertigen. Verschärfungen in der Sozialpolitik (z.B. Herabsetzung des Schulpflichtalters) wie in der „Inneren Sicherheit“ (z.B. verstärkte Überwachung von Handies und Internet) sind bereits beschlossene Sache. Dazu paßt, daß Sarkozy schon vor den neuerlichen Riots die Jugendlichen der Banlieues als „kleine Stadtteilterroristen“ bezeichnet hat, weshalb es zur Verwaltung der Vorstädte einer Anti-Terror-Strategie bedürfe. Krieg gegen den Terror im Inneren sozusagen. Und gegen „Terroristen“ ist halt alles erlaubt ... Auch das Gesetz aus Kolonialzeiten offenbart einiges an Möglichkeiten: z.B. Hausarrest für „jede Person, deren Aktivität sich als gefährlich für die Sicherheit und die öffentliche Ordnung“ erweist. Präventive Konterrevolution!

Die üblichen Probleme - die üblichen üblen Antworten und Lösungen

Wie üblich ist die Politik und die Meinungsindustrie der Medien schnell dabei, die Ereignisse zu "erklären". Die Versuche sind vielfältig, die soziale Misere der Banlieues (stellvertretend für die soziale Misere der kapitalistischen Gesellschaft unter den besonderen französischen Verhältnissen) und mit ihr die soziale Frage ihres sozialen, also gesellschaftlichen Gehalts zu entleeren und sie zu einer individuellen Frage werden zu lassen. Für die soziale Misere wird nicht die kapitalistische Ökonomie verantwortlich gemacht. Nein, "schuld" ist die mangelnde "Integration" der Menschen in den Banlieues. So wird versucht, die soziale Frage zu einer medizinischen oder einer kriminalistischen, zu einer Frage der "Integration", der "guten Sitten", des individuellen Verhaltens, der Erziehung, der Religion, der Werte, etc. umzuinterpretieren. Schnell sind dann auch nicht die gesellschaftlichen Verhältnisse, also die erduldete, erlebte, erlittene oder "gefühlte" Ausgrenzung oder die vorhandene „Chancen“- und Perspektivlosigkeit schuld, sondern die "fehlende Integration", die "mangelnde Erziehung", die "falsche Einstellung", der fehlende Glauben oder der "moralische Zerfall" (auch jener der Familie). Daß aber all dies unter gewissen gesellschaftlichen Verhältnissen stattfindet, welche diese Probleme und Erscheinungen hervorbringen und ermöglichen, wird ausgeblendet und ignoriert. Überantwortet werden dann die "Problemfälle" (also das auffällige, von der gewünschten Norm der devoten Arbeiterin oder des devoten Almosenempfängers abweichende Individuum, das sich nicht brav in seine Rolle als Staatsbürger/in und sein „Schicksal“ als überflüssiges Ausbeutungsobjekt und nicht verwertbares Konkurrenz- und Warensubjekt fügt) den jeweiligen Disziplinen der Sozialdisziplinierung: Arbeits- und Sozialamt, Gefängnis, Jugendheim, Polizei, Psychiatrie, Sozialarbeit, ... im Endeffekt der sozialstaatlichen Verwaltung, welche das Elend zwischen Aktendeckeln mittels Jobangeboten, Repression, sozialer Kosmetik wie Sozialwohnungen und staatlichen Almosen verwaltet.

Die trotzkistische "Lutte Ouvriere" (LO) mit ihrer Sprecherin Arlette Laguiller forderte während der Riots in ihrem Programm zum anstehenden Präsidentenwahlkampf (2007) ein "Entlassungsverbot", die "Anhebung des gesetzlichen Mindestlohns 'um wenigsten 300 Euro'" sowie die "massive Errichtung von Sozialwohnungen". Dies ist die Lösung der Linken für den Normal- wie für den Ausnahmezustand. "Zu den jüngsten sozialen Unruhen in den Vorstädten meinte die LO-Sprecherin, daß sie diese zwar 'verstehe', die Methoden aber bedauere. 'Die Autos der eigenen Angehörigen oder öffentliche Gebäude und Schulen zu verbrennen, das beweist einen Solidaritätsmangel'". Michel Rodinson, Mitglied der LO-Parteileitung, meinte sogar: "Man muß auf dem Terrain des Klassenkampfes durch Streiks und Kundgebungen reagieren". (in "Alle guten Dinge sind sechs, in junge Welt , 6.12.2005). Die LO scheint genauso wenig wie der Rest des bürgerlichen Lagers zu realisieren, daß die "Akteure" der Riots gar keine Möglichkeit haben, "auf dem Terrain des Klassenkampfes durch Streiks" zu agieren. Sie besitzen nicht einmal die dazu nötige "Macht" (sie haben keinen verdammten Job), zum anderen haben sie vielleicht gar keine Lust einen solchen zu bekommen bzw. sich der Vermittlung durch die Politik (Gewerkschaften und Parteien) zu bedienen. Der Hölle der Banlieues, der Mindestlöhne und der Fabriken entstammen die Jugendlichen und ihre Eltern und was ist die Antwort der LO, die stellvertretend für die anderen politischen Organisationen der "Linken" und "Rechten" in all ihren geringfügig abweichenden Nuancen steht: Sozialwohnungen, Mindestlohn und Jobs als Allheilmittel. Der Grad zwischen "rechten", "mittigen" und "linken" Organisationen und Parteien ist dabei minimal. Bezugspunkt bei allen sind Lohnarbeit und Staat. Kritik der Lohnarbeit, Kritik des Sozialstaats, Kritik der Warengesellschaft - Fehlanzeige! Statt dessen alternative Krisen- und Sozialpolitik und linke Elendsverwaltung.

Die Antworten und Lösungen sind die üblichen üblen; die Reden gleichen sich, wie die Empörung und die Entschlossenheit dem Elend Abhilfe zu schaffen. Dabei ist doch das Elend nur die Kehrseite des Reichtums, Kehrseite und Konsequenz der auf Selektion und Verwertung aufbauenden kapitalistischen Ökonomie, welche uns in "nützliche" und "überflüssige" Menschen scheidet. Bei weitem sind die Probleme in den Banlieues nicht neu, sind sie bloß die besonderen Probleme eines Teils der kapitalistischen Gesellschaft, konzentrierter und zugespitzter als die Probleme der "integrierten" Teile der Gesellschaft. Ihr "Schicksal" führt uns die potentielle Prekarität aller Lohnabhängigen vor Augen. Sie sind die Probleme derer, die ausgeschlossen sind von der Teilhabe an der Gesellschaft und das - angesichts ständig steigender Produktivität und Verlagerung von Produktionsstandorten - auf unabsehbare Zeit bleiben werden. So werden die Jugendlichen in den Banlieues seit 30 Jahren größtenteils nicht mehr durch Lohnarbeit in den Fabriken, Büros und Klitschen „sozialisiert“, sondern durch die Arbeitslosigkeit.

Gruppen wie die LO halten die Arbeitslosigkeit für einen Skandal, der bekämpft werden müsse. Der eigentliche Skandal aber ist, daß die Menschen einer Lohnarbeit nachgehen müssen, um überleben zu können - nicht daß sie keine Lohnarbeit haben. Der Skandal schlechthin ist die kapitalistische Gesellschaft, welche die menschliche Arbeitskraft zu einer Ware gemacht hat und uns der Ware-Geld-Beziehung und ihren Auswirkungen unterwirft. Die Arbeitslosigkeit zeigt nur die Abhängigkeit der Menschen, ihr elendes Dasein als Ausbeutungsobjekte und Konkurrenz- und Warensubjekte (die sich anpreisen müssen wie ein Händler seine Waren, z.B. Gemüse oder Elektro-Geräte, anpreisen muß, um sie verkaufen zu können) und die Möglichkeit des sozialen Abstiegs, die als Damoklesschwert der potentiellen Prekarität über allen Lohnabhängigen schwebt. Für Gruppen wie die LO sind nur die Zustände das Problem (auch wenn sie den Kapitalismus kritisieren, so neutralisieren sie ihre "Kritik" der Gesellschaft dadurch, daß sie mit ihren Forderungen nach "Integration", "Jobs", "Mindestlöhnen", "garantierter Rente", etc. im Rahmen des Systems verbleiben und all dies als erstrebenswert erscheinen lassen), nicht die Verhältnisse. So beklagen sie die "schlechte Bezahlung" von Jobs, nicht, daß es überhaupt Lohnarbeit und Geld gibt bzw. daß wir in dieser Gesellschaft einer Lohnarbeit nachgehen müssen, um überleben zu können. Für sie sind hohe Mieten und die tristen Wohnsilos das alleinige Problem, weshalb sie "mehr Sozialwohnungen" fordern, anstatt Verhältnisse, die keine Sozialwohnungen kennen und keiner mehr bedürfen. Sie fordern eine ehrliche Politik und eine soziale Variante des ganzen statt seiner Aufhebung.

Die Gewalt der Verhältnisse, die Gewalt, die täglich Millionen von Menschen, nicht nur Jugendlichen, angetan wird und die diese sich gegenseitig antun und antun lassen, die Gewalt des alltäglichen Konkurrenzkampfes um „Chancen“, Jobs, Sonderangebote, Wohnungen, etc. , die Gewalt der Sachzwänge war nirgends Gegenstand der Kritik. Dabei ist diese Gewalt und Mannigfaltigkeit der Gewaltverhältnisse, die der kapitalistischen Gesellschaft zugrunde liegen (z.B. Lohnarbeit, Staat, Ware-Geld-Beziehung), viel zerstörerischer für Mensch und Natur als die brennenden Autos und Gebäude. Nirgends wurde thematisiert, daß die Banlieues, die französischen Gettos, vielen BewohnerInnen und vor allem die Jugendlichen wie ein Gefängnis vorkommen. Nirgends wurden die Parallelen zu anderen gesellschaftlichen Gettos und Gefängnissen gezogen: zu den Schulen, zu den gesellschaftlichen Rollen, zu den „Sachzwängen“, zur Lohnarbeit in Fabrik, Büro oder in der Klitsche.

Übrigens sind die „Lösungen“ (Jobs, Repression, Verbesserung der Wohnsituation und „Integration“) der heutigen Tage die „Lösungen“ der letzten 25 Jahre. An der trostlosen Situation als solcher hat sich nichts geändert, die „Lösungen“ blieben kosmetischer Art und so verschwindet das Elend, das kurz Teil des medialen Spektakels war, nun auch wieder zunehmend aus den Medien. Und es geht auch hier kein einziges Mal um die Jugendlichen, darum, was sie kritisieren und wollen. Sie existieren lediglich als Objekte der Politik, der „Diskussion“, der Disziplinierung. Und das ist ja auch der Zweck all dieser „Lösungen“: daß wir dort bleiben, wo wir sind und das bleiben, was wir sind: abhängiger Abschaum.

"Größere Käfige, längere Ketten!"

In den 1980ern hatte es regelmäßig ähnliche "Jugendkrawalle" in Großbritannien gegeben. Während einer Pause der Kämpfe in Toxteth stieg damals eine linke Aktivistin auf eine Kiste und richtete sich an die Menge bezüglich des Themas einer sich bald realisierenden sozialistischen Utopie. Ihr Versprechen, daß es Arbeit für alle geben werde, wurde durch das höhnische Lachen einer Gruppe von jungen Straßenkämpfern beantwortet. Als die Sprecherin weitere Reformen ausführlich schilderte, begann die Gruppe einen spottischen Gesang: "Größere Käfige, längere Ketten! Größere Käfige, längere Ketten!". Die Worte eben dieser jungen Straßenkämpfer bringen es auf den Punkt: Die Reformen der Demokraten bedeuten nichts als die "Humanisierung" des Elends (mehr Arbeitsbeschaffungsprogramme, Jobs, Sozialwohnungen, höhere Mindestlöhne, gesicherte Rente, etc.), aber eben seine Beibehaltung statt seiner Abschaffung. Die "Revolution" und der "Kommunismus" dieser "Revolutionäre" (z.B. dieser Aktivistin oder der LO) bedeuten nur die Verewegigung (nicht die Abschaffung) der Lohnarbeit in einem "Arbeiterstaat" mit "sozialistischem Wettbewerb" und "sozialistischer Arbeit" ..., wollen sie doch aus der Gesellschaft eine einzige große Fabrik werden lassen; sie erstreben einen effizient(er)en Kapitalismus ohne dessen Folgen, vergessen aber die Kritik seiner Formen (Klassen, Lohnarbeit, Politik, Staat und Ware). Ihre Forderungen, den Alltag betreffend, erschöpfen sich in den geschilderten Allgemeinplätzen und verbleiben im geistigen und materiellen Sumpf der Warengesellschaft statt aus diesem herauszuführen, vorhandene Kritik (wie z.B. Wahlenthaltung, Kritik der Gewerkschaften und der Lohnarbeit) zu bestärken oder den Sumpf trocken zu legen. Die Logik des "Mehr Jobs", etc. bricht nicht mit der Logik und den Werten des Kapitals, im Gegenteil beziehen sie sich positiv darauf und lassen jegliche Kritik vermissen; diese Logik ist Teil des Problems, nicht Teil der Lösung.

Die "unbewußten" Ausschreitungen von z.B. Toxteth oder Paris beinhalten schon ihre "bewußten" Momente und Elemente. Die Dinge scheinen nur nicht immer so wie sie sind. Die jungen Straßenkämpfer, von deren Ausrufen und Kritik wir wissen, haben damals eine viel schärfere und klarere Kritik entwickelt als all die "revolutionären" Gruppen. Ihr gesunder Klasseninstinkt, was nicht heißt, daß sie nicht vielleicht teilweise Kontakt zu (anderen) sozialrevolutionären Menschen und Gruppen, Erfahrung und auch Kenntnis sozialrevolutionärer Literatur hatten, hat sie eine radikale Kritik der Forderungen der (linken) Politik(erin) formulieren lassen. Mit ihrem Ausruf "Größere Käfige, längere Ketten!" haben sie auch jegliche Sozialpolitik kritisiert, sei sie nun das Werk "linker", "rechter" oder "mittiger" Politikanten, sei sie Bestandteil eines "Arbeiterstaates" oder einer Demokratie. Sie wußten, daß die Sozialpolitik das Überleben nur erträglicher machen kann, das Elend als solches aber bleibt.

Solch gesunder Klasseninstinkt ist zusammen mit radikaler, materialistischer Kritik der kapitalistischen Gesellschaft (in allen ihren Formen und Erscheinungen: Lohnarbeit, Überleben, Ware-Geld-Beziehung, Ideologie) die Basis für die Perspektive einer sozialen Revolution, welche nötig sein wird, um den Verhältnissen den Garaus zu machen anstatt nur Zustände zu verändern.

Zerstören wir alle Käfige, zerschlagen wir unsere Ketten!

Wir wollen weder mehr Jobs, eine bessere Bezahlung, einen (höheren) Mindestlohn noch eine garantierte Rente oder größere Sozialwohnungen - nein, wir wollen Verhältnisse, die weder eine Rente noch all den anderen sozialstaatlichen Firlefanz kennen. Wir wollen Verhältnisse, unter denen wir keine Jobs oder Arbeitslosenhilfe mehr nötig haben, um überleben zu können, und unter denen Sozialwohnungen nicht länger notwendig sind! Wir wollen Verhältnisse, unter denen jeder sein Auskommen hat, Verhältnisse jenseits der Vermittlung durch Geld, Ideologie, Politik und die Ware. Wir wollen nicht länger Warensubjekte und Ausbeutungsobjekte sein, wir wollen voll und ganz Mensch sein! Dies wird nur möglich sein durch eine Perspektive jenseits von Kapital, Lohnarbeit, Politik, Staat und Warenproduktion! In diesem Sinne: Beenden wir das tagtägliche Überleben, damit unser Leben beginnen kann!!!

Dezember 2005

Bibliothek des Widerstandes

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