Sachtexte

 

Schiller-Rezep- tion im National- sozialismus

Die Entdeckung des Seewegs nach Indien durch Portugal

Wilhelm Tell, Schiller und der Nationalsozialismus

 

Reichsleiter Martin Bormann

Führerhauptquartier - 3. Juni 1941

An Herrn Reichsminister Dr. Lammers

Berchtesgarden, Reichskanzlei

Streng vertraulich!

Sehr geehrter Herr Dr. Lammers!

Der Führer wünscht, daß Schillers Schauspiel "Wilhelm Tell" nicht mehr behandelt wird. Ich bitte Sie, hiervon vertraulich Herrn Reichsminister Rust und Herrn Reichsminister Dr. Goebbels zu verständigen.

Heil Hitler! Ihr Martin Bormann

Mit dieser Anordnung des Reichsleiters der NSDAP, des Leiters der Parteikanzlei und engsten Mitarbeiters von Adolf Hitler, hörte Friedrich Schillers 'Wilhelm Tell' für die deutsche Öffentlichkeit auf zu existieren.

Auf Veranlassung des Propagandaministers Joseph Goebbels verschwand noch im selben Jahr der 'Tell' von den Bühnen. Bernhard Rust, Minister für Wissenschaft, Erziehung und Volksbildung, verbannte das Stück aus dem Schulunterricht. Keine Bibliothek durfte das Werk fortan ausleihen, keine Textstelle durfte mehr in den neuen Lesebüchern abgedruckt werden.

Damit indizierte die nationalsozialistische Führung eines der bekanntesten und meistgespielten Stücke der deutschen Klassik.

 

Friedrich Schiller war weder das einzige noch das erste Opfer der nationalsozialistischen Kulturpolitik. Sofort nach der Machtergreifung begann das Verbot mißliebiger Literatur, deren vorläufiger Höhepunkt die Bücherverbrennungen vom 10. Mai 1933 waren. Diese gewaltsame Säuberung der deutschen Literatur betraf in erster Linie linke und jüdische Autoren. Die Klassiker blieben weitgehend verschont, noch waren die neuen Machthaber bemüht, sie für ihre Zwecke zu vereinnahmen. Sie begriffen sich als Erben und Vollstrecker der bedeutendsten deutschen Denker und Dichter; aus deren Geist heraus behaupteten sie zu handeln.

 

Zensur und Verbote der Werke Schillers hatte es schon zu seinen Lebzeiten gegeben. Für die Berliner Erstaufführung des 'Wilhelm Tell' am 4. Juli 1804 mußten einige zu freigeistig-jakobinische Passagen verändert werden. Aus der Rütli-Szene sollten die "ew'gen Rechte, / die droben hangen unveräußerlich" gestrichen werden. Nicht die Menschenrechte, sondern nur mehr das "Altererbte" durfte in Berlin gegen Tyrannenmacht verteidigt werden. Noch weitergehende Änderungswünsche lehnte Schiller ab:

Können die Stellen, wie sie jetzt lauten, auf einem Theater nicht gesprochen werden, so kann auf diesem Theater der Tell überhaupt nicht gespielt werden.

 

Die Umdeutung und Verfälschung der Werke Schillers begann bald nach seinem Tod. Verschwiegen wurden die Inhalte, die noch zu seinen Lebzeiten zu Verboten und Skandalen geführt hatten: sein Eintreten für die Aufklärung, seine Bewunderung für die Französische Revolution, sein Humanismus und sein Weltbürgertum, und nicht zuletzt seine Anklagen gegen Willkür und Tyrannei.

Schon wenige Jahrzehnte später war Schiller zum Nationaldichter geworden, den jede politische Richtung für die eigenen Ziele auszuschlachten suchte. 1859, zu seinem hundertsten Geburtstag, ließ die preußische Obrigkeit dem Dichter ein Denkmal in Berlin errichten. Die satirische Zeitschrift Kladderadatsch fand es bezeichnend für die Verhältnisse in Deutschland, daß Schillers Statue auf dem Gendarmenmarkt stehen sollte.

Mit der Zeit gerannen Schillers Anliegen und Inhalte zu bloßen Schlagworten. Sein Schaffen, sein Leben und seine Person mußten für noch so abstruse Theorien und Wahnideen herhalten, seine Aussagen wurden ihres Gehaltes beraubt und oft in ihr völliges Gegenteil verkehrt.

Im Jahr 1928 erschien das Buch 'Der ungesühnte Frevel'. Darin wurde behauptet, Schillers früher Tod sei nicht Folge einer Krankheit, sondern einer Vergiftung gewesen. Der Dichter soll das Opfer eines heimtückischen Verbrechens geworden sein, verübt von Juden und Freimaurern.

Diese haarsträubenden Thesen stammten von Mathilde Ludendorff, der Frau des Weltkriegshelden General Erich Ludendorff. Nach der Niederlage 1918 hatte sich Erich Ludendorff selbst als "heimlicher Diktator Deutschlands" bezeichnet. 1923 nahm er an Hitlers Putschversuch in München teil, wurde deshalb angeklagt, aber nicht verurteilt. Zusammen mit seiner Frau widmete sich der ehemalige Feldherr nun dem Kampf gegen die Herrschaft der Juden und Freimaurer.

Mathilde Ludendorffs Buch 'Der ungesühnte Frevel' erschien bis 1936 in einer Gesamtauflage von 59.000 Exemplaren; ihre Thesen wurden erregt diskutiert und provozierten wissenschaftliche Beiträge.

Das Motiv für die Ermordung Schillers wollte Mathilde Ludendorff im 'Tell' gefunden haben, wo sich der Dichter angeblich dem deutschen Volkstum zu und vom "jüdisch inspirierten Kosmopolitismus" abwende. Damit habe er die Hoffnung der jüdisch-freimaurerischen Kräfte zerstört, ihn für ihre Zwecke einzuspannen. Zudem habe Schiller in seiner Schrift "Die Sendung Moses" die jüdische Fremdartigkeit im deutschen Volkskörper hinreichend bloßgestellt.

An Schillers Ermordung, behauptete Mathilde Ludendorff, sollte auch der Freimaurer Goethe beteiligt gewesen sein. Ihre lange Liste weiterer Mordopfer umfaßt Luther, Lessing und Mozart, dazu noch Fichte, Leibniz, Nietzsche, Schubert und Johann Sebastian Bach. All das ließ bald starke Zweifel an der Wissenschaftlichkeit des Buches aufkommen, zumal sie keinerlei Belege für ihre abstrusen Anwürfe vorbrachte. Quellenangaben, meinte sie, bewiesen gar nichts, da diese nur eine "jüdische Unsitte" seien.

Ihre Kritiker verwies sie auf das Ansehen und die Integrität ihres Mannes, des Tannenberg-Helden und Hindenburg-Kampfgefährten, der auch ihr Mitstreiter sei. Zu ihrer Verteidigung wies sie außerdem in einigen Schriften vehement den Verdacht zurück, sie sei geisteskrank.

Der Goethe-Gesellschaft, die zuvor die These von der Ermordung Schillers und die Mitschuld Goethes als Hirngespinst bezeichnet hatte, warf Mathilde Ludendorff vor, sie stünde im Sold jüdischer Freimaurerlogen. Schließlich wurde es sogar den mittlerweile nationalsozialistischen Machthabern zu viel. Propagandaminister Goebbels wandte sich gegen die "gemeine und charakterlose" Aufteilung der deutschen Kunst- und Kulturgeschichte und verbot kurzerhand die Auslieferung der letzten Auflage des Ludendorff-Buches.

 

Der promovierte Germanist Joseph Goebbels galt als ein Bewunderer und recht guter Kenner der Werke Schillers. Das hinderte ihn freilich nicht, den Klassiker als Wegbereiter des Nationalsozialismus darzustellen. Am Ende mußte er selbst der allzu plumpen und durchsichtigen Be- und Verurteilung der deutschen Dichter und Denker Einhalt gebieten. 1936 ordnete er an:

"Alle Großen der deutschen Geschichte stehen unter behördlichem Schutz, da ansonsten derartige Gesinnungsschnüffelei dazu führen könnte, daß wir eines Tages überhaupt keinen unserer großen Geistesheroen mehr aufführen könnten. Die frechen Eindringlinge in das deutsche kulturelle Leben, die sich an der großen deutschen Geschichte vergreifen wollen, werden ohne Ansehen der Person oder ihrer Verdienste so behandelt werden, daß ihnen für alle Zeiten die Lust vergeht, sich noch einmal an der großen deutschen Vergangenheit zu vergreifen."

 

Goebbels Verdikt meinte in erster Linie die eigenen Parteigenossen. Gerade sie hatten sich dabei hervorgetan, das historische Erbe in dreister Weise zu vereinnahmen und gehörig zu verbiegen. Ihr prominentestes Opfer hieß Friedrich Schiller.

Hans Fabricius, Abgeordneter und Geschäftsführer der NSDAP-Fraktion im Reichstag veröffentlichte 1932 ein Buch, dessen Titel an Deutlichkeit nichts zu wünschen übrig ließ: 'Schiller als Kampfgenosse Hitlers /Nationalsozialismus in Schillers Dramen'.

Der bis dahin geläufigen und unbestrittenen Interpretation, die den Klassiker als engagierten Verfechter freiheitlicher und egalitärer Gedanken begriff, setzte Fabricius sein eigenes, völkisches Schillerbild entgegen. Fabricius behauptete, der Dichter habe - ganz im nationalsozialistischen Sinne - getreu seinem Blut gelebt. Seine Bekenntnisse zu Rasse und Volkstum kämen in seinen Dramen, vor allem im Tell und im Wallenstein, zum Ausdruck. Außerdem hätte er immer wieder Führerfiguren entworfen, die Adolf Hitlers Führerschaft gleichsam vorwegnähmen, etwa in den Figuren Carl Moors oder des Stauffachers. Zu guter Letzt sieht er Schiller:

an der Spitze, dem leuchtenden Hakenkreuzbanner voranziehen

und schließt: Schiller als Nationalsozialist! Mit Stolz dürfen wir ihn als solchen grüßen.

 

Derart plakativ versuchte kaum ein anderer Autor, Schiller für den Nazi-Staat dienstbar zu machen. Der Göttinger Literaturwissenschaftler Hermann Pongs, der in Carl Moor ebenfalls die Vorwegnahme des nationalsozialistischen Führergedankens erkennen wollte, brachte auch noch - sicher unfreiwillig - den tatsächlichen Charakter des Nazi-Staates und der Partei zum Ausdruck, als er schrieb: Aus dem Freundeskreis schafft der geniale Führer sich die Räuberbande.

 

Für Goebbels wäre Schiller, hätte er im 20. Jahrhundert gelebt, "zweifellos der große dichterische Vorkämpfer der nationalsozialistischen Revolution geworden". Als Beweis für diese Behauptung mußte ausgerechnet ein Drama herhalten, das die Erhebung des Volkes gegen die Tyrannei zum Gegenstand hat, der 'Wilhelm Tell'. Goebbels konnte dies nicht ganz außer acht lassen, und so ist in seinen Ausführungen das Drama nicht wiederzuerkennen:

Aber so sehr auch Schiller die Volkserhebung gegen anmaßende, grausame Tyrannen feiert, so warnt er doch vor jeder planlosen, gewaltsamen Revolution. Das bedrängte Volk soll sich seinen stammverwandten, artgeborenen Führern in straffer Selbstzucht unterordnen, wie die Schweizer dem bedächtigen, weitblickenden Stauffacher, und dann den richtigen Augenblick ergreifen, um die Erhebung möglichst unblutig durchzuführen. Auf den Führer kommt hier alles an, nicht auf Mehrheitsbeschlüsse.

 

Die Feierlichkeiten zu Schillers 175. Geburtstag im Jahr 1934 gerieten in diesem Sinne zu einem Propagandaspektakel. Unter der Überschrift „Der Führer ehrt Friedrich von Schiller“ berichtete der Völkische Beobachter am 13. November 1934:

Den Mittelpunkt dieser Schillerwoche aber bildete am Sonnabend der große feierliche Staatsakt der Reichsregierung und der Thüringischen Staatsregierung im Deutschen Nationaltheater, mit dem Adolf Hitler Friedrich von Schiller ehrte, in dem der deutsche Genius des 20. Jahrhunderts sich beugt vor dem Genius des 18. Jahrhunderts.

Erst dem Nationalsozialismus blieb es vorbehalten, den wahren Friedrich von Schiller dem deutschen Volk wiederzugeben und ihn als das zu zeigen, was er wirklich ist: der Vorläufer des Nationalsozialismus, ein deutscher Dichter und Idealist, der jene Worte poetisch formte, die heute den Wesenskern des Nationalsozialismus ausmachen: "Immer strebe zum Ganzen und kannst du selber kein Ganzes werden, als dienendes Glied schließ an ein Ganzes dich an!"

 

Einzelne Zitate Schillers, sogenannte Kernsprüche, wurden von den nationalsozialistischen Machthabern ausgiebig benutzt, um ihrer Politik einen auf klassischen Traditionen fußenden Anstrich zu verleihen. Der am häufigste verwendete 'Kernspruch' stammt aus dem 'Tell'. Es sind die Worte des alten Attinghausen an seinen zweifelnden Neffen:

Ans Vaterland ans teure schließ dich an / Das halte fest mit deinem ganzen Herzen.

Auch die Verschwörungsszene auf dem Rütli findet sich häufig in nationalsozialistischen Lesebüchern. Sie wird oft zitiert und zu den unterschiedlichsten Anlässen aufgeführt, zum Beispiel bei den Langemarck-Feiern, den Maifeiern und selbstverständlich zur Vereinnahmung Schillers an dessen 175. Geburtstag. Gerade die Rütli-Szene soll den Sinn der nationalsozialistischen Umgestaltung erhellen. In ihr verkörpere sich der pflichtbewußte und heimatverbundene, der soldatische und nordische Mensch. Aus diesem Grund sollte auch der 'Wilhelm Tell' in keiner Schulbücherei fehlen, bedeute er doch soviel wie die "Schlagkraft von drei Armeekorps".

 

Der 'Tell` war nicht nur Pflichtlektüre für die Schüler sämtlicher Stufen und fand sich, zu Kernsprüchen zerrissen, in den Lesebüchern - er wurde auch verfilmt (Heinz Paul) und gehörte zum Repertoire nahezu jeder deutschen Bühne. Zwischen 1933 und 1939 war er das meistgespielte Stück Schillers. An politischen Gedenktagen, etwa dem Führergeburtstag, dem Heldengedenktag und anderen wurde gezielt der 'Tell' ins Programm genommen, um der neu gewonnenen völkisch-nationalen Einheit Ausdruck zu geben.

Doch nicht einmal die Goebbelsche Propaganda vermochte die offensichtlichen Widersprüche zwischen der nationalsozialistischen Ideologie und dem ursprünglichen Geist des Werkes Schillers zu verwischen. Der 'Tell' geriet schließlich ins Schußfeld der Nazis, weil er auch die Loslösung eines deutschen Gebietes vom Deutschen Reich behandelte. Vor allem nach Kriegsbeginn häuften sich die Angriffe auf dieses "Drama des Separatismus", das nun als untauglich für den völkischen Gedanken befunden wurde. Unter dem Motto "ein Volk, ein Reich, ein Führer" hatte Hitler auch der Schweiz die Heimholung ins Reich zugedacht.

In den folgenden Jahren gab es immer weniger Aufführungen des Stückes an den deutschen Theatern, bis am 3. Juni 1941 Reichsleiter Martin Bormann auf ausdrücklichen Wunsch des Führers das Verbot des Stückes forderte. Wenige Tage später, am 7. Juni 1941, wurde Bormanns Weisung von den Reichsministern Goebbels und Rust ausgeführt.

 

Nicht das Thema des Stückes, der Aufstand gegen die Unterdrücker, scheint jedoch der direkte Anlaß für das Verbot gewesen zu sein. Wichtiger war wohl die Auseinandersetzung mit der Schweiz, die den deutschen Anschlußabsichten mit einer Mobilmachung geantwortet hatte. Aber auch der im Schauspiel gestaltete Tyrannenmord scheint eine wichtige Rolle für die Verbannung des Stückes gespielt zu haben. Wenige Tage vor dem Verbot war der Schweizer Maurice Bavaud hingerichtet worden, der 1938 mehrmals versucht hatte, Hitler durch ein Attentat zu beseitigen.

Bavaud war gescheitert, aber Hitler muß die knapp 140 Jahre zuvor von Schiller formulierte Rechtfertigung des gewaltsamen Widerstandes und Tyrannenmordes für so überzeugend und gefährlich gehalten haben, daß er sie verbieten ließ:

Nein, eine Grenze hat Tyrannenmacht. / Wenn der Gedrückte nirgends Recht kann finden, / Wenn unerträglich wird die Last - greift er / Hinauf getrosten Mutes in den Himmel / Und holt herunter seine ew'gen Rechte, / Die droben hangen unveräußerlich / Und unzerbrechlich, wie die Sterne selbst - / Zum letzten Mittel, wenn kein andres mehr / Verfangen will, ist ihm das Schwert gegeben - / Der Güter höchstes dürfen wir verteidigen, / Gegen Gewalt –

 

©

© Olaf Gaudig 2003