3.3. Landrechte für Saamen?
Ich komme nun zum heikelsten Thema, das derzeit in Nordnorwegen diskutiert wird: Wie sollen
Grund und Boden sowie die Ressourcen in Finnmark künftig verwaltet werden? Gegenwärtig
verwaltet der Staat über 95 % des Landes in der Finnmark. Die Saamen sind als Urbevölkerung
Nordskandinaviens anerkannt. In der Wissenschaft ist man sich grösstenteils darüber einig, dass
die Saamen vor den Norwegern die nördlichen Landesteile besiedelt haben und später durch die
Norweger von ihrem Land verdrängt worden waren. Stehen deshalb heute den Saamen
Sonderrechte auf Land und Wasser gegenüber den Norwegern zu? Soll man ihnen ihr Land
zurückgeben? Und wenn ja, wie? Gibt es andere Lösungen? Wir werden sehen, dass diese Fragen
- so eindeutig die Rechtslage zu sein scheiint - so einfach nicht zu beantworten, geschweige denn
umzusetzen sind.
Die historische Ausgangslage
Werfen wir zuerst einen Blick auf den historischen Hintergrund der Landrechtsfrage. Das
Rechtsverständnis über die Eigentumsfrage war bis vor wenigen Jahren ein ganz anderes als
heute. Dies zu wissen ist notwendig, um die gegenwärtige Auseinandersetzung zu verstehen.
Finnmark als "terra nullius"
Der Staat mit seinen Institutionen hat sich lange Zeit als alleiniger Eigentümer des Landes
bezeichnet, ob in Heimatliedern oder in neueren Broschüren der Forstwirtschaft. Überall wird
Finnmark als seit Urzeiten herrenloses Land dargestellt. Oft wird zur Begründung dieser Position
auf eine offizielle Beurteilung aus dem Jahr 1848 zurück gegriffen, schreibt Historiker Steinar
Pedersen (1999). Sie lautet:
Die eigentliche Finnmark ist (...) seit alters her betrachtet worden als dem König oder dem
Staate zugehörig, weil sie ursprünglich nur von einem Nomadenvolk, den Lappen, ohne
feste Wohnungen bewohnt worden war
(aus Pedersen 1999:17).
Norwegen, so Pedersen weiter, habe Finnmark wie England in den 1770er-Jahren Australien als
eine "terra nullius" betrachtet, als ein herrenloses Gebiet. Historische Untersuchungen zeigen
dagegen, dass das Eigentumsrecht des Königs oder Staates auf Teile oder weite Gebiete
Finnmarks relativ neueren Datums ist. Der dänisch-norwegische Staat hatte vor 1613 keinerlei
Gebietshoheit (enejurisdiksjon) in der Finnmark. Das Innere Finnmarks lag bis 1751 ausserhalb
von Norwegens Grenzen. Die heutige Finnmark hat ihre endgültige Form erst 1826 bekommen, als
Norwegen das ostsaamische Gebiet Sør-Varangers zugesprochen bekam (Pedersen 1999:15).
Menschen wohnten in der Finnmark seit über 10 000 Jahren. Es besteht trotz einiger
Unsicherheiten Einigkeit unter Historikern und Archäologen, dass es die Saamen sind, welche als
erste ihre Geschichte mit der Region verknüpfen können. Diese sei mindestens 2000 Jahre alt. Es
sei nicht zufällig, dass das Gebiet Finnmark heisse - es bedeute schliesslich "Land der Saamen".
Saamische Souveränität bis ins 18. Jahrhundert
Erst vom Ende des 13. Jahrhunderts oder vom Anfang des 14. Jahrhunderts an begann eine
permanente Besiedlung durch Norweger. Sie waren Fischer und liessen sich an der Küste nieder.
Zu dieser Zeit war Finnmark ein von Saamen dominiertes Gebiet. Man weiss, dass Saamen bis ins
frühe 17. Jahrhundert hinein Pacht von norwegischen Bauern verlangten, wenn sie sie sich in
saamischen Gebieten ansiedelten. Es ist dokumentiert, dass im Tana des 17. Jahrhunderts Saamen
die Rechte über die Lachsfischerei hatten. Norweger, die in die Fjordgebiete zogen, mussten erst
mit den Saamen verhandeln (Pedersen 1999:19-21).
In den ersten Jahrhunderten norwegischer Besiedlung gab es mehrere Konflikte über die
Herrschaft über Nordskandinavien. Es war also nicht so, dass Finnmark dem norwegischem
König oder Staat unterstellt war. Die norwegische Kolonisierung kollidierte mit den Interessen des
Reiches von Novgorod im Osten. Mehrmals im 13. und 14. Jahrhundert wurden nordnorwegische
Fischerdörfer von den Novgorodern angegriffen. Trotz eines Friedensabkommens im Jahre 1326
setzten sich die gegenseitigen Plünder- und Kriegszüge über die nächsten 150 Jahre fort (Pedersen
1999:19-20). Es ist aus dieser Perspektive mehr oder weniger ein historischer Zufall, dass
Finnmark heute Teil Norwegens ist.
Von 1611 bis 1612 führten Dänemark-Norwegen und Schweden Krieg um die Herrschaft über
Nordskandinavien. Dänemark-Norwegen gewann und bekam die Alleinherrschaft über die
nordnorwegische Küste nördlich von Tysfjord zugesprochen. Erst dann wurden die Saamen in
Teilen Finnmarks dem König in Kopenhagen unterstellt. Weite saamische Gebiete wie das Innere
der Finnmark und das ostsaamische Gebiet blieben ausserhalb der Grenzen Dänemark-
Norwegens. Das Innere Finnmarks unterstand schwedischer Gerichtsbarkeit (jurisdiksjon). Die
Saamen mussten dennoch an Dänemark / Norwegen Steuern zahlen. Steinar Pedersen, Mitglied
des Saamenrechtsausschuss, deutet die Quellen so, dass die Saamen in diesem Gebiet bis zur
endgültigen Grenzziehung 1751 mehr oder weniger autonom ohne grosse Einmischung von
schwedischer Seite lebten (Pedersen 1999:23-24).
Doch selbst nach der Einverleibung des Inneren der Finnmark in das dänisch-norwegische
Staatsgebiet änderte sich nicht viel an dem autonomen Status der Saamen. Zum Grenzvertrag
gehörte ein Anhang zur rechtlichen Stellung der Saamen (Lappekodisill), dessen Ziel es war, dass
"die lappische Nation" weiter bestand. Die Saamen durften unter anderem weiterhin die Grenzen
auf der Jagd oder bei ihren Wanderungen mit den Rentieren überqueren. Pedersen hat
Verwaltungsdokumente aus den 1750er- und 1760er-Jahren hinsichtlich Eigentumsfragen
studiert. Daraus, so Pedersen, gehe hervor, dass der König sich nicht als Eigentümer des Gebietes
auffasste. Der Grenzvertrag wollte lediglich die Grenzen zwischen den Ländern endgültig
festlegen (Pedersen 1999:25-27).
Die Kolonisierung von Süden her
Die Politik gegenüber Saamen änderte sich im Laufe des 19. Jahrhunderts mit dem Aufkommen
nationalistischer und sozialdarwinistischer Ideologien (siehe Kap.2). Dann begann die
Kolonisierung Nordnorwegens durch den Staat vom Süden her. Die Kolonisierung äusserte sich
in verschiedenen Eingriffen rechtlicher Art wie die zitierte Feststellung von 1848, welche die
saamische Bevölkerung quasi rechtlos machte. Das norwegisch-schwedische Lappengesetz von
1883 (Felleslappeloven), teilte das Gebiet der Saamen in Distrikte ein und ermöglichte es den
Staaten, den Saamen dort das Weiderecht zu entziehen, wo die Rentierzucht ein Hindernis für die
Landwirtschaft war (Lorenz 1981:71). Der "Höhepunkt" war ein Gesetz aus dem Jahr 1902,
welches den Verkauf von Land nur an Leute erlaubte, "die Norwegisch zum täglichen Gebrauch
reden, lesen und sprechen können" (Lorenz 1981:76, Pedersen 1999:37).
Im Laufe des 19. Jahrhunderts begann sich das Grosskapital, gefördert vom Staat, für
Nordnorwegen zu interessieren. Im Landesinneren auf norwegischer und schwedischer Seite gibt
es grosse Eisenerzvorkommen. 1826 begann eine englische Gesellschaft mit dem Bergbau in
Kåfjord bei Alta, 1887 startete der Probebetrieb in der Grube von Sulitjema, die schnell einer der
grössten Arbeitsplätze in ganz Norwegen wurde. 1883 wurde die Eisenbahn zwischen Narvik
und Kiruna gebaut, ab 1903 war die Grube bei Kiruna in vollem Betrieb. Zu dieser Zeit begann
man auch mit dem Abbau von Nickel im ostsaamischen Gebiet um Petsjenga (Lorenz 1981:73-74).
Aktuelle politische Ausgangslage
Ich habe erwähnt, dass sich der norwegische Staat erst durch die Proteste gegen den Dammbau
am Alta-Kautokeino-Fluss genötigt sah, seine Politik gegenüber den Saamen zu überdenken. Die
Regierung ernannte ein Komitee, welches die rechtlichen Ansprüche der Saamen untersuchen
sollte.
NOU 1984:18: Für Sonderbehandlung, gegen Autonomie
Eine Teilgruppe veröffentlichte 1984 den Bericht "Om Samenes Rettstilling" (NOU 1984:18, Über
die rechtliche Stellung der Saamen). Darin wurde vor allem die Bedeutung des Zivilpaktes der
Vereinten Nationen diskutiert. Man kam zum Schluss, dass Artikel 27 durchaus eine positive
Sonderbehandlung der Saamen vorschreibe, zum Beispiel ökonomische Unterstützung, damit die
Saamen "ihre Kultur pflegen" können (NOU 1997,5:16-17). Der Forderung nach Selbstbestimmung
für die Saamen als Volk erteilten sie jedoch eine Absage. Das Recht des Nationalstaates, seine
territoriale Integrität zu sichern, habe Priorität gegenüber dem Selbstbestimmungsrecht jedes Teils
der Bevölkerung. Deren Rechte seien durch den Artikel 27 des Zivilpakts der UNO geschützt
(Thuen 1995:228).
NOU 1993:34: Saamen haben keinen Anspruch auf Land
1993 folgte der nächste Bericht (NOU 1993:34). Die Rechtsgruppe hatte ihn erarbeitet zur Frage,
wessen Recht, das saamische oder das norwegische, gelten sollte hinsichtlich der Landrechte. Die
Mehrzahl fand, dass die völkerrechtliche Entwicklung, welche dem Staat Pflichten gegenüber den
Saamen auferlegt, nur für Massnahmen in der Zukunft von Bedeutung sei und nicht für die
Festlegung des heutigen Rechtes. Zudem sei der Staat als rechtlicher Besitzer des Grundes in
Finnmark über Jahrhunderte aufgetreten und habe Rechte erworben vor der Entwicklung des
Völkerrechtes. Sie zweifelten auch daran, dass wie NOU 1984:18 meinte, der Artikel 27 den Staat
verpflichte, Minderheitenkulturen aktiv zu unterstützen (NOU 1997,5:18-19).
Die Perspektive dieses Berichtes ist viel kritisiert worden. Besonders wurde bemängelt, dass die
saamischen Rechtsauffassungen nicht untersucht worden seien. Auf Drängen des
Saamenparlaments hat das Justizdepartment beschlossen, ein Forschungsprojekt über saamische
Rechtsauffassungen in Gang zu setzen (NOU 1997:5:16-19).
NOU 1997:4: Für Gleichbehandlung, für Sicherung saamischer Interessen
Am 30. Januar 1997 ist der lang erwartete Bericht des Saamenrechtskomitees über die
"Naturgrundlage für saamische Kultur" erschienen (NOU 1997:4). Monate, teils Jahre vor der
Fertigstellung sind Entwürfe in der Öffentlichkeit diskutiert worden. In dem Bericht ist auch ein
Regelwerk über die künftige Verwaltung von Land und Ressourcen in Finnmark enthalten. Das
Komitee schlägt Massnahmen vor, die alle Einwohner eines Gebietes gleich behandeln sollen.
Finnmark, schreiben sie, habe eine gemischte Bevölkerungsstruktur. Saamische Interessen
müssten gegenüber denen anderer Volksgruppen abgewogen werden. Mit dem Prinzip der
Gleichbehandlung aller Einwohner sollten mögliche Konflikte, beispielsweise der Landnutzung,
gedämpft werden.
Der Ausschuss sieht es als notwendig an, Instrumente und Regeln einzuführen, die saamischen
Einfluss sicher stellen. Deshalb wird die Errichtung eines neuen Organes zur Verwaltung der
Finnmark und eine stärkere lokale Steuerung der Verwaltung vorgeschlagen. Die Mehrheit des
Ausschusses befürwortet, ein Organ namens Finnmark grunnforvaltning (Finnmark
Grundverwaltung) zu schaffen, bestehend aus acht Mitgliedern, wovon vier von der Finnmark-
Bezirksverwaltung (fylkesting), vier vom Saamenparlament ernannt werden. Die Verwaltung der
erneuerbaren Ressourcen (Fischfang, Jagd, Multebeeren) sollen die Gemeinden übernehmen. Das
Komitee schlägt auch eigene Regeln vor, um die saamische Naturgrundlage vor Eingriffen zu
schützen (nach NOU 1997,4).
Unterzeichnung der ILO 169: Verpflichtung Norwegens den Saamen gegenüber
Relevant für die Rechte von Saamen ist die Unterzeichnung der Konvention 169 der
Internationalen Arbeitsorganisation (ILO) durch Norwegen. Auf sie wird immer wieder Bezug
genommen, auch in den Untersuchungen des Saamenrechtskomitees. Diese sogenannte
Urbevölkerungskonvention spricht Urbevölkerungen das Eigentumsrecht auf das Land zu, über
das sie einmal geherrscht hatten. Das heisst, sie müssen dort permanent gewohnt haben. Das
Land in dem Gebiet muss hauptsächlich von ihnen genutzt worden sein. Über Gebiete, über die
sie nicht geherrscht, das sie aber tradionell genutzt hatten, wird ihnen das Nutzungsrecht
zugestanden. Norwegen ist durch die Unterzeichnung politisch und völkerrechtlich verpflichtet,
den Saamen die Rechte zu geben, auf die sie Anspruch haben (nach Skoghøy 1999:79,93).
Die Bedeutung der Konvention ist jedoch umstritten. Anthropologe Thrond Thuen (1995) findet
sie zu schwammig, da ihre Umsetzung zu sehr vom "Goodwill" der Regierung abhängig sei, auch
von NSR wurde sie als "nicht weit genug gehend" kritisiert (Thuen 1995:234). Da sich die
Saamenrechtsgruppe immer wieder auf ihn beruft als Grundlage für Entscheidungen, hier der
Wortlaut des Artikels 4, der die Rechte indigener Völker definiert:
- 1. The rights of ownership and possession of the peoples concerned over the lands which
they traditionally occupy shall be recognised. In addition, measures shall be taken in
appropriate cases to safeguard the right of the peoples concerned to use lands not
exclusively occupied by them, but to which they have traditionally access for their
subsistence and traditional activities. Particular attention shall be paid to the situation of
nomadic peoples and shifting cultivators in this respect.
- 2. Governments shall take steps as necessary to identify the lands which the peoples
concerned traditionally occupy, and to guarantee effective protection of their rights of
ownerships and possession.
- 3. Adequate procedures shall be established within the national legal system to resolve
land claims by the peoples concerned
(aus Thuen 1995:231).
Die öffentliche Debatte: Theorie und Praxis
Auf dem Papier ist die Sache eindeutig. Saamen haben Anspruch auf Sonderbehandlung. Artikel
26 des Zivilpaktes legitimiert positive Diskriminierung. Auch aus philosofischer Sicht ist das
vertretbar (Oksal 1999). Die Realität ist komplexer. Die Frage, wie diese Ansprüche umgesetzt
werden sollen, spaltet Parteien - norwegische wie saamische.
Ich werde nun einige Statements auflisten und mich dabei auf Positionen von Saamen, Kvenen
und Mischlingen konzentrieren. Diese Debatte ist weniger übersichtlich wie die über
Sprachgesetz oder Lehrplan. Es geht nicht um Ja oder Nein, sondern um das Wie.
Es steht fest,
dass sich in der Verwaltung von Land und Wasser in Teilen Nordnorwegens etwas ändern wird.
Bei den norwegischen Parteien sind es nur die konservative Høyre und die rechtspopulistische
Fremskrittspartiet , die beim letzten Wahlkampf im Herbst 1999 alles beim Alten belassen wollten.
Die anderen Parteien treten für Änderungen ein, haben keine Stellung bezogen oder sind
gespalten. Die einen legen mehr Wert auf eine stärker lokale, kommunale Verwaltung von Grund
und Boden, andere debattieren über die ethnische Zusammensetzung des neuen
Verwaltungsorgans der Finnmark: Sollen gleich viel Norweger wie Saamen vertreten sein, oder
vielleicht doch mehr Norweger - oder mehr Saamen? Die Hauptfrage ist: Wie verteile ich Rechte
am gerechtesten in einer traditionell gemischt zusammen gesetzten Bevölkerung, die zur Zeit der
Nationalisierung vom Staat kolonisiert wurde?
In einem Punkt sind sich die meisten Parteien und Verbände - ob nun saamisch oder norwegisch -
einig: Es darf keine Rechteverteilung auf ethnischer Grundlage geben. Diese Diskussionen in der
Bevölkerung sind kaum wissenschaftlich untersucht, ein Grossteil meines Materials sind
Zeitungsartikel.
Saamen: Realos und Fundos
Bei den Saamen kann man ähnliche Lager wie bei der Grünen Partei unterscheiden:
Fundamentalisten (Fundis) und Realisten (Realos). Erstere gehören zu der Minderheit, die
durchaus Politik nach ethnischen Kriterien führen möchte. Beispielhaft für die
Auseinandersetzung zwischen den saamischen Lagern ist eine Krisensitzung im NSR.
Mitte Juni 1999 stellte Saamenparlaments-Präsident Sven Roald Nystø die Vertrauensfrage. Das
geschah, während der nationale Verband der Saamen (NSR), wo Nystø Mitglied ist, die
Landrechtsfrage debattierte. NSR war kurz davor, sich aufzuspalten. Nystø konnte die Forderung
nach saamischem Besitz- und Nutzungsrecht über die gesamte Finnmark nicht gut heissen. Der
NSR-Vorsitzende Janos Trosten hatte gefordert:
Ganz Finnmark ist saamisches Eigentum. Der Staat muss die Verwaltung (sjøtet) der Land-
und Wassergebiete dem Saamenparlament zurück geben. Es muss eine saamische
Landverwaltung errichtet werden, wo das Saamenparlament die Mehrheit hat
(aus Nordlys, 21.06.99)
Die Mehrheit des Rechtsausschusses des NSR stand hinter Trosten. Nystø und der Grossteil der
NSR-Fraktion im Saamenparlament unterstützen Nystø, der erwiderte:
Wir müssen daran denken, dass nicht nur Saamen in Finnmark wohnen, und dass die
anderen Gruppen auch Rechte haben. Deshalb ist es zu einfach zu sagen, dass ganz
Finnmark ein saamisches Gebiet ist
(aus Nordlys, 21.06.99).
Der Streit zwischen Fundis und Realos ist nicht neu. Es ist ein Streit, der sich um Gesetze und
deren Auslegung dreht, um das eigene Bild von Nordnorwegens Geschichte und um persönliche
Selbstidentifizierung. Die folgenden "Realos" finden, die Forderungen der Fundis seien zu
abstrakt und nicht auf die multikulturelle Gegenwart Finnmarks übertragbar. Einmal diskutierte
man im Saamenparlament die von der Urbevölkerungsgruppe der Vereinten Nationen in Genf
verwendeten Begriffe "Recht auf Selbstbestimmung" und "Eigentumsrecht über traditionelle
Gebiete", die der Saamenrat in einer Erklärung übernehmen wollte. Steinar Pedersen gab
folgendes zu bedenken:
Hier finden wir Worte und Ausdrücke, vor denen wir seit Jahren gewarnt haben. Was
bedeutet es zum Beispiel, wenn der Saamenrat schreibt, die Saamen hätten das Recht, über
ihre eigenen Gebiete zu bestimmen? (...) Die Forderungen, die sie aufstellen, sind wenig
realistisch, zweideutig und geeignet, Konflikte zu schaffen
(Nordlys 27.02.98).
Nystø stimmte ihm inhaltlich zu:
Es ist heute nicht möglich, eine Karte zu zeichnen und zu sagen, was saamische Gebiete
sind
(Nordlys 27.02.98).
Das, so Nystø weiter, sei eine politische Aufgabe, welche die Behörden zu leisten hätten.
Für Politiker und Saamischlehrer Kjell Ballari basierte vieles, was unter Saamenpolitik lief, auf
fragwürdigen Grundannahmen und leeren Phrasen. Auf einer Konferenz über Saamenpolitik
sagte er:
Für mich ist die Debatte voll mit abgenutzten Phrasen. Begriffe und Aussagen wie "die
saamische Gesellschaft", "Rehabilitierung von saamischer Kultur", "Sicherung der
Identität", "gleiche Rechte für die ganze Bevölkerung Finnmarks", "Nein zu saamischen
Sonderrechten" und "Rechte auf ethnischer Grundlage" sind sehr problematisch und
erklären absolut nichts in der politischen Argumentation. (...) Viele sehen zum Beispiel die
Modernisierung und die wirtschaftliche Entwicklung nach dem Zweiten Weltkrieg
einseitig als einen negativen Faktor in Bezug auf saamische Identität und Kultur an,
vergessen aber, dass sie eine Voraussetzung waren für die Exponierung dieser Kultur und
Identität im modernen Norwegen. (...)
Ich vermisse eine genauere Analyse des komplexen Phänomens Identität. Ausserdem
vermisse ich Hinweise auf die Probleme, die man in der Praxis (mit Saamenpolitik) hat (...)
(apwww.mogul.no/internett/org/sentraleorg/saamepol/2014, Link nicht mehr verfuegbar).
In einem Leserbrief zur Arbeit des Saamenparlaments vertritt Per-Ivar Henriksen, "norwegischer
Saame aus Kokelv", wie er sich nannte, eine ähnlich kritische Meinung. Er deutet einen
Generationenkonflikt an:
Wir jungen Saamen sollten zu "den Alten" im Saamenting sagen, dass sie an unsere
Zukunft und nicht an ihre Vergangenheit denken sollen. Wir leben ja im Land Norwegen,
als Minderheitenvolk zusammen mit den "Norwegern". Deshalb sollte das übergeordnete
Ziel sein, dass wir Saamen über unseren Distrikt und unser Land zusammen mit den
"Norwegern" bestimmen können
(aus Nordlys 08.03.2000).
Als veraltet bezeichnet auch der Jurist Ande Somby das Ziel mancher Saamenaktivisten, ethnisch
basierte Politik zu führen, in einem Zeitungsinterview:
Staatsbildung auf ethnischer Grundlage ist etwas, das der Vergangenheit angehört. Das
war einmal Grundlage für die europäischen Staaten. Sie sind aber nicht mehr sogenannte
"ethnisch reine" Gebiete. Weshalb sollten wir Saamen Zeit und Kraft für etwas aufwenden,
dass vollständig passé ist? Einen saamischen Staat auf ethnischer Grundlage zu bilden
wäre absurd. Alle Gesellschaften, auch die saamische, müssen in der Zukunft
multikulturell sein
Bei diesem Streit geht es viel um Paragrafen und deren Deutung, um Prinzipien, auch um
Identität. Es geht aber auch um Macht - und um die Bewahrung der eigenen Lebensgrundlage.
Man denke an die unterschiedlichen Ansichten unter Rentier- und Meersaamen im Alta-Konflikt.
Ragnhild Enoksen, Journalistin bei Nordlys und Saamin, analysiert wie folgt:
Kurz zusammengefasst haben in Finnmark alle vor allen Angst. Die, die sich selbst als
norwegisch auffassen, haben Angst davor, dass die, die im Saamenregister stehen, zu viel
Macht bekommen könnten. Die Rentierzüchter haben Angst davor, dass die Saamen an der
Küste die Kontrolle über das Weideland der Rentierherden übernehmen, während die
Meersaamen sich davor fürchten, dass die Rentierbesitzer und das Innere der Finnmark
dominieren. Alle unterstützen Verwaltungsmodelle, die verhindern sollen, dass es so läuft,
wie sie es fürchten
(Nordlys 5.3.99)
Konkurrenz zwischen Kvenen und Saamen
In der öffentlichen Debatte (und in der Wissenschaft) gehen die kritischen Stimmen der Kvenen oft
unter. Sie fühlen sich in der Rechtsdebatte völlig ignoriert. "Die Kvenen - eine vergessene
Minderheit", so oder ähnlich lauten inzwischen zahlreiche Überschriften von Zeitungsartikeln,
Tagungen oder ersten wissenschaftlichen Berichten. Warum vergessen? In einer Stellungnahme
des Norwegischen Verbandes der Kvenen (Norske Kveners Forbund, NKF) zum jüngsten Bericht der
Saamenrechtskommission beklagen sie, dass einer ethnischen Gruppe ein grösserer Einfluss
zugestanden werde als anderen:
Der NKF sieht Finnmark an als ein Gemeinschaftsgebiet für Kvenen, Saamen und
Norweger. Die Geschichte Finnmarks ist eine Geschichte des Zusammentreffens dreier
Stämme: Kvenen, Norweger und Saamen. Den Untersuchungen, die bisher gemacht
worden sind, fehlt der Aspekt, wie Finnmark als Gemeinschaftsgebiet verschiedenster
Volksgruppen in der Region während über 1000 Jahren genutzt worden ist
(aus Nordlys, 28.1.99).
Der Verband betont in diesem Leserbrief weiter, dass den Kvenen als nationaler Minderheit in
Norwegen auch Rechte zustünden. Sie kritisieren, dass deren Situation, obwohl dies vom
Saamenrechtskomitee in NOU 1984:3 empfohlen und vom Verband immer wieder angemahnt
worden war, nicht analysiert worden sei. Manche Vertreter der Kvenen gehen so weit, den
Urvolkstatus für sich zu reklamieren. In manchen Gebieten seien sie die Ersten gewesen, welche
sich ansiedelten. Sie würden genauso lang in Nordskandinavien umher ziehen wie die Saamen,
so Egil Sunderlin (Nordlys, 21.12.95).
In den letzten Jahren ist eine Konkurrenzsituation zwischen saamischen und kvenischen
Interessenorganisationen entstanden. Das ist eine neue Situation. Ragnhild Enoksen rollt die
Geschichte auf (Nordlys 8.1.96):
Von Ende des 19. Jahrhunderts bis in die 1950er-Jahre gab es keine Kluft zwischen Saamen und
Kvenen. Sie sassen im selben Boot, die Regierung führte dieselbe Politik gegen sie: sie sollten
norwegisiert werden. Anfang der 60er-Jahre begann die norwegische Politik, Saamen und Kvenen
zu unterscheiden: Langsam nahm man von der Norwegisierungspolitik Abstand. In den 1980er-
Jahren sind die Saamen schliesslich als Urvolk anerkannt worden. Dass es in Nordnorwegen
noch eine finnischsprechende Bevölkerung gab, wurde plötzlich nicht mehr wahrgenommen. Die
ersten kvenischen Organisationen sind von den Behörden als Einwanderer wie Pakistani und
Somali angesehen und behandelt worden. Erst Mitte 1995 hat der damalige Kommunalminister
Gunnar Berge beschlossen, dass das Büro für saamische Angelegenheiten auch eine Abteilung für
die Finnischsprachigen einrichten soll. Kurze Zeit später beschloss die Regierung, dass Finnisch
in der Schule eine Zweitsprache (sidemål) sein kann.
Das entfachte einen ersten Streit zwischen saamischen und kvenischen Verbänden: Werden nun
Schüler Finnisch statt Saamisch wählen? Schwächt die neue Wahlmöglichkeit saamische Sprache
und Kultur? Die Konkurrenz drehte sich auch um Geld, schreibt die saamische Journalistin. Eine
Person saamischer-kvenischer Herkunft, die sich als Saame ausgibt, ist ein Kven weniger. Ein
Budgetposten für mehrsprachigen Unterricht, der plötzlich auch für Finnisch benutzt wird, kann
weniger Geld für Saamisch bedeuten. Und wenn kvenische Führungspersonen wie Sunderlin auf
saamische Ansprüche auf Land und Wasser losgehen, beginnt es gar um die Lebensgrundlage zu
gehen.
Ragnhild Enoksen selber kann nicht der Position des NKF und Sunderlins zustimmen. Saamen
und Kvenen hätten nicht dieselben Bedürfnisse und niemandem diene es, wenn sie der
norwegische Staat gleich behandele. Die Saamen stünden schwächer da als die Kvenen, welche
vom nur wenige Kilometer entfernten finnischen Staat Hilfe holen können, seien es
Finnischlehrer, Journalisten, Fernsehprogramme, Lehrbücher. Saamen hätten keinen Staat, auf
den sie sich stützen könnten. Die meisten Saamen wohnen in Norwegen. Deshalb habe Norwegen
eine besondere Verantwortung, saamische Sprache und Kultur zu bewahren (Nordlys, 22.12.95
und 8.1.96).
Die zwischen die Kategorien fallen
Lange Zeit nicht beachtet wurde das Faktum, dass es Unterschiede gibt zwischen offiziellen und
persönlichen Identitätskategorien. Die offiziellen sind norwegisch, saamisch oder kvenisch. Doch
viele Leute in Finnmark sehen sich als ethnisch gemischt und identifizieren sich ungern nur mit
einer der offiziellen Identitätskategorien.
Dies sorgt für manches persönliches Dilemma in der Debatte um Landrechte, wie die
Untersuchung von Britt Kramvig (1999) zeigt. Wie soll ich mit einer Identität umgehen, die
Fragmente von der saamischen, kvenischen und norwegischen Welt beinhaltet? Dies, so Britt
Kramvig, sei für viele Bewohner der Küste und der Fjorde die zentrale Frage. Das Dilemma für
viele Leute in der gegenwärtigen Debatte um Landrechte ist, dass es keine offizielle kulturelle
Kategorie gibt, die den Erfahrungen der Leute vor Ort entspricht (Kramvig 1999:119). Denn in der
Debatte geht es um die Saamen, die Kvenen und die Norweger - aber nicht um Finnmarkinger -
so wie sich manche eher fühlen. Sie forschte in einem der vielen ethnisch gemischt zusammen
gesetzten Dorf an der Küste West-Finnmarks. Für die meisten Einwohner war die Identifizierung
mit ihrem Dorf der Identifizierung mit einer ethnischen Gruppe übergeordnet (Kramvig 1999: 119-
124).
In den Diskussionen während ihrer Feldforschung hörte Kramvig eine klar abweisende Haltung
gegenüber saamischen und norwegischen Politikern heraus. Die wichtigsten kulturellen Werte
vor Ort, die Kramvig ausmachte, waren Gleichheit zwischen Leuten und Freiheit, über sich selbst
bestimmen zu können. Die politischen Prozesse, die das Saamische als kulturelle Kategorie
etablierten, haben offenbar nicht viel von den Erfahrungen der Leute an der Küste einbezogen. Die
Landrechtsdebatte sei etwas, was sie deshalb "nichts angeht". Während die Medien die
Landrechtsdebatte zum Top-Thema im Wahlkampf 1997 hochspielten, interessierte es die
Bewohner an der Küste viel mehr, ob ihre Dorfgemeinschaften im gegenwärtigen politischen
Klima der Zentralisierung überleben können oder nicht, ob Post und Schulhaus weiter im Ort
bleiben (Kramvig 1999:128-132).
Eine ähnlich abweisende Haltung hat Arild Hovland für eine andere Gemeinde (Kåfjord) heraus
bekommen. Viele Leute hielten sich bei der Debatte über Landrechte heraus. Die wenigsten
könnten sich für die eine oder andere Lösung erwärmen. Es drehe sich eigentlich für sie, schreibt
er, gar nicht um Landrechte als Grundlage für saamische Kultur. Die Fronten liefen woanders
und ihr Verlauf zeige, dass Identität mehr sei als nur Ethnizität: Der Streit in der Bevölkerung, so
Hovland, handle vom Recht, über sich selbst bestimmen zu dürfen, vom Recht auf Vielfalt versus
das Recht auf Eindeutigkeit: Die einen betonen die Vielfalt innerhalb
saamischer/nordnorwegischer Kultur und widersetzen sich Festschreibungen von innen oder
aussen. Die anderen legen Wert auf einheitliche nationale Konventionen: sie betonen die
Gegensätzlichkeit von Saamisch-Sein und Norwegisch-Sein (Hovland 1999:184).
letzter link-check: 31.3.04