Kapitel 2:
SAAMISCHE VIELFALT
Im vergangenen Kapitel habe ich dargelegt, dass man die Menschheit nicht problemlos in
einzelne Kulturen einteilen kann. In diesem Kapitel werde ich meine Argumentation an einem
konkreten Fall weiterführen. Nordnorwegen, und besonders die Finnmark (siehe Karte Finnmark und Info / Uebersichtskarte Norwegen)ist ein Gebiet mit
grosserer kultureller Vielfalt. Mit kultureller Vielfalt meine ich zum einen die heterogene
Zusammensetzung der Bevölkerung: in Nordnorwegen leben seit Jahrhunderten mehrere
Bevölkerungsgruppen zusammen: Saamen, Kvener, Norweger und einige andere. Mit kultureller
Vielfalt meine ich auch die Vielzahl an unterschiedlichen Lebensformen innerhalb einer
ethnischen Gruppe wie die der Saamen - historisch sowie gegenwärtig. Damit einher geht eine
Vielfalt an Identifikationsmöglichkeiten. Sowohl die norwegische Politik wie die saamische
Ethnopolitik basieren jedoch auf eindeutigen Grenzziehungen zwischen Saamen, Norwegern und
Kvenen. Auch setzen sie die ethnische Identität gleich mit persönlicher Identität. Dass
Grenzziehungen nicht so einfach sind und Identität nicht so einfach zu definieren ist, zeigt dieses
Kapitel.
2.1. Historische Vielfalt
Seitdem Menschen leben, ist die Bevölkerung Finnmarks bunt zusammengemischt. Die Saamen
wohnten nie alleine in diesem Landesteil.
Die Saamen sind als Urbevölkerung anerkannt. Das liegt daran, dass sie von den heute in
Nordnorwegen lebenden ethnischen Gruppen am längsten dort wohnen - mindestens seit 2000
Jahren. Die Kolonisation durch die Norweger fand erst nach 1000 n.Chr. statt.
Es ist nicht einfach, eine transethnische Geschichte Nordnorwegens zu schreiben. Die meisten
Abhandlungen sehen Geschichte als Geschichte einer Nation an, und in ihnen finden andere
Volksgruppen wenig Platz. Herkömmliche Werke behandeln "norwegische Geschichte", neuere
"saamische Geschichte" oder "kvenische Geschichte". Eine Ausnahme ist das 1994 heraus
gekommene "Nordnorsk Kulturhistorie" (Nordnorwegische Kulturgeschichte). National und
ethnisch zentrierte Geschichtsschreibungen sind weit verbreitet und dienen oft zur nationalen
oder ethnischen Identitätsbildung.
Ich versuche, die wenigen Informationen aus verschiedenen Quellen zusammen zu tragen. Auf
die frühere Geschichte werde ich nur skizzenhaft eingehen. Ausführlicher werde ich die Zeit ab
dem 18. Jahrhundert behandeln, als ein Ereignis stattfand, auf das man sich heute immer wieder
aus verschiedenen Gründen beruft: Det tre stammers møte - das Treffen der drei Stämme. Damit
meint man die Norweger, Saamen und Kvener.
Frühere Geschichte
Einhart Lorenz (1981) hat ein kleines Büchlein über saamische Geschichte geschrieben, das heute
als Standardwerk gilt. Er verweist auf den unklaren Ursprung der Saamen. Sicher ist, dass schon
vor 2000 Jahren die Bevölkerung heterogen zusammen gesetzt war. Lorenz schreibt, dass die
ganze Zeit über Menschen in Bewegung waren und neue Gruppen einwanderten. Um 100 v.Chr.
gab es einen starken Einfluss der finnisch-ugrischen Ananjinokultur aus der Region des heutigen
Moskau. Zu Beginn des saamischen Eisenzeitalters um das Jahr 0 herum war ein Einfluss von
sibirischen Kulturen spürbar. Daher hat man immer wieder behauptet, dass die Saamen nicht
eingewandert sind, sondern dass "verschiedene Kulturen und verschiedene Völker sich
verschmolzen" hätten (LORENZ 1981:22-23).
"Verschiedene Völker sind verschmolzen"
Der saamische Historiker Odd Mathis Hætta (1976) vertritt auch diese Auffassung. Zwischen den
Gesellschaften in der Arktis gab es regen Austausch. Die arktischen Naturverhältnisse förderten
solch einen Verkehr, besonders im Winter, wenn Flüsse und Seen zugefroren waren, Schnee und
Eis die Natur leicht begeh- und befahrbar machten. Seit es Nationalstaaten mit festen Grenzen
gibt, ist die Mobilität eingeschränkt. Hætta schreibt:
Die Saamen sind nicht eingewandert, sondern durch einen gut 4000 Jahre langen Prozess
entstand im Land der Saamen eine Bevölkerung, die vor mehr als 2000 Jahren als die ersten
Saamen galten
(Hætta 1976: 4).
Die Historiker Randi Rønning Balsvik und Michael Drake (1994) vertreten eine ähnliche Theorie.
Archäologen haben Spuren von Menschen aus dem Steinzeitalter (dauerte bis etwa 1800 v. Chr.),
die offenbar von verschiedenen "Stämmen" stammen. Einige seien gekommen, andere wieder
gegangen. Man weiss nicht, welche Sprache sie sprachen, ob sie Vorläufer von Saamen oder
Norwegern waren. Man weiss auch nicht, wie viele es waren. Das Wissen über diese Zeit besteht
zu einem grossen Teil aus Interpretationen von Spuren, welche die frühen Menschen hinterlassen
hatten: Spuren von Wohnorten, Essensabfällen, Werkzeugen, Waffen, Schmuck, Gräbern und
Felszeichnungen. Es gibt nur wenige schriftliche Quellen. Balsvik und Drake schliessen:
Wir können uns denken, dass die Jäger- und Fischerkultur des Steinzeitalters sich nach
und nach änderte, indem das Steinzeitalter-Volk sich mit anderen Völkern vermischte, die
aus Russland, Finnland und Skandinavien kamen. Jede Gruppe trug zu der Ausformung
saamischer und norwegischer Kultur bei
(Balsvik und Drake 1994:85).
... ähnlich wie die verschiedenen Einwanderer ihren Teil zur US-amerikanischen Kultur
beitrugen, lässt sich hier anfügen. Oder wie jede "nationale Kultur" das Ergebnis verschiedenster
Einflüsse ist, wie die in der Einleitung behandelte Nationalismus-Forschung zeigt.
Lassen sich heute Aussagen machen über die Identifizierungen von Menschen zu Beginn unserer
Zeitrechnung? Das ist sicher ein schwieriges Unterfangen. Es gibt zumindest schriftliche
Quellen, die von der Existenz der Saamen als Volksgruppe zeugen. Ottar, ein reicher
nordnorwegischer Handelsmann, unternahm im Jahr 890 eine Reise durch Nordnorwegen und
war der Erste, der von der Existenz einer saamischen Volksgruppe schrieb. Aus seinem
Reisebericht an König Alfred von England lässt sich schliessen, dass verstreut in der ganzen
Finnmark Saamen wohnten. Die Saamen trieben im Sommer Fischfang an der Küste und lebten
auch im Binnenland und an den Fjorden in Nordland und Troms. Norweger wohnten nicht
nördlicher als in Nord-Troms (Balsvik und Drake 1994:87).
Traditionelle Mobilität
Ob von Ost, West oder Süd - immer wieder kamen in den Jahrhunderten nach dem
Jahrtausendwechsel neue Gruppen von Menschen. Die Bevölkerungszahl im Norden Norwegens
war während den vergangenen tausend Jahren grösseren Schwankungen ausgesetzt als im Süden
Norwegens. Sie war unter anderem abhängig von der Verfügbarkeit von Ressourcen im Meer oder
im Binnenland. Das Meer lockte Leute aus Russland, Schweden, Finnland (Balsvik und Drake
1994:84). Manche blieben, manche gingen. Manche blieben unfreiwillig. Es gibt Orte in der
Gegend westlich und östlich des Nordkapps, die von spanischen Schiffsbrüchigen gegründet
wurden, wie ich im örtlichen Museum in Gamvik erfuhr. Ressourcenmanagement in diesen
Breitengraden setzt saisonale Wanderungen von Gruppen und Individuen voraus. Dadurch
haben Saamen immer Kontakt mit anderen kulturellen Gruppen (Anderson 1978:182ff).
Internationale Handelskultur
Viele Auswärtige führte der Handel in den Norden. Im Mittelalter waren die Saamen fest
eingebunden ins europäische Handelssystem. Die Saamen im Binnenland trieben Pelzhandel
ostwärts, mit der Kola-Halbinsel sowie mit dem Baltikum. Saamen an der Küste nahmen am
Handelssystem der Hanse teil, einem Zusammenschluss norddeutscher Handelsstädte, der sich
in Bergen um 1250 etabliert hatte. An der Küste entwickelte sich schnell eine lebendige
internationale Küstenkultur.
Es ist gut dokumentiert, dass die nordnorwegische Küste die
folgenden 500 Jahre lang, also bis ins Jahr 1800, an die europäische Marktwirtschaft
angeschlossen war. Den kulturellen Einfluss konnte man unter anderem an der Saamenkleidung
erkennen, die Elemente der europäischen Trachtenmode übernahm. Ab dem 13. Jahrhundert kann
man sagen, dass Nordnorwegen "vollständig in den europäischen Kulturkreis eingetreten ist"
(Bratrein und Niemi 1994:160-166, Bjørklund 1983:777). Die ersten Steuerlisten (die älteste ist von
1520) zeugen davon, dass Leute aus Schweden, Dänemark, Deutschland, Holland, von den
britischen Inseln, den Færøyern und Island im nördlichsten Landesteil wohnten. Nebenbei
bemerkt: Alle Bewohner unabhängig ihrer Herkunft (von den Saamen abgesehen) zählten als
Norweger (Niemi 1994: 121).
Russen, Schweden, Finnen und Norweger konkurrieren um Finnmark
Die Grenzen zwischen Norwegen, Schweden, Finnland und Russland existierten bis ins 18.
Jahrhundert nicht. Während des grössten Teils des Mittelalters lag die Finnmark ausserhalb
dessen, was man als "das Reich" (riket) auffasste und wurde von verschiedenen Reichen
verwaltet. Die Saamen mussten teilweise an mehrere Herrscher Steuern zahlen: an norwegische
Häuptlinge bzw. den König, zeitweise an Leute aus Karelien für das Fürstentum in Novgorod. Die
Schweden und die Kvenen am finnischen Meerbusen forderten ebenfalls ihren Anteil (Lorenz
1981:24-25).
Erst ab dem 16./17. Jahrhundert, als sich in Europa Staaten zu bilden begannen, wuchs das
Interesse, die Finnmark ins "Reich" zu integrieren. Die Kontrolle über die Finnmark wurde auch
aus wirtschaftlichen Gründen wichtig. Die Küste Finnmarks sollte Ausgangspunkt für die
Kontrolle der Handelswege nach Russland und den Fernen Osten dienen (der Traum von der
Nordostpassage). Man erhoffte, von der Finnmarksküste einen Weg dorthin zu finden, es sollte
aber erst 1878/79 durch Adolf Erik Nordenskiöld glücken. Im 16./17. Jahrhundert wurde die
Finnmark immer interessanter, Russland, Schweden und Dänemark-Norwegen rivalisierten um
Territorien. Im Grossen Nordischen Krieg (1611-1613) musste Schweden seine Träume um die
Kontrolle der Küste begraben. Nun begann die Kolonisierung saamischer Gebiete in Finnmark
durch Norweger (Lorenz 1981:32, Bratrein und Niemi 1994:169-172).
Ab dem 19. Jahrhundert ging es dann darum, eine eigene norwegische Nation aufzubauen. 1814
wurde Norwegen unabhängig von Dänemark. 1826 waren alle Staatsgrenzen vertraglich
festgelegt. Jetzt ging es nicht mehr nur darum, "das Reich" möglichst effektiv zu verwalten. Jetzt
war die Ideologie so, dass es für die Wahrung der Interessen des Staates ein zusammen
geschweisstes und homogenes Volk brauchte. Diese Versuche der staalichen Zentralbehörden zur
Vereinheitlichung und Nationalisierung der Bevölkerung schlugen jedoch immer wieder fehl. Die
Gegenkräfte waren stärker als angenommen. Das lag daran, dass die Bevölkerung wie geschildert
bei weitem nicht homogen war. Für die staatlichen Behörden war die Bevölkerung (auch die
ethnisch norwegische) faktisch fremd. Sie hatte "eine andere kulturelle und ethnische Verankerung
als die Mehrheitsbevölkerung" weiter südlich (Bratrein und Niemi 1994:168).
"Das Treffen der drei Stämme"
Es ist merkwürdig, dass man in diesem Landstrich im äussersten Lappland nicht weniger
als sieben oder acht verschiedene Sprachen hören kann. Die Einheimischen gehören zu
drei verschiedenen Volksgruppen, und die Schiffsfahrt führt Menschen aus fünf Nationen
hierher
(in Brantenberg, Hauan, Knutsen 1994:406).
Diese Aussage stammt vom Geologen B.M. Keilhau. Im Jahr 1827 war er auf einer Reise durch die
Finnmark und gerade in Hammerfest angekommen. Keilhau beschreibt hier etwas, das
Auswärtige immer wieder verblüffte, für die Einheimischen jedoch etwas Selbstverständliches
war: die Internationalität. Nicht nur das. Auch die Vielsprachigkeit der Einheimischen. Etwas
später in Varanger im Osten war er beeindruckt davon, dass die einheimischen Fischer bis zu vier
Sprachen beherrschten (Brantenberg, Hauan, Knutsen 1994:406-407).
Seit dem 18. Jahrhundert besteht die konstante Wohnbevölkerung zum grössten Teil aus drei
ethnischen Gruppen: Norwegern, Saamen und Kvenern. "Det tre stammers møte" wird das Treffen
der drei Stämme auf Norwegisch genannt. Einwanderer aus Finnland gab es zwar schon seit
Jahrhunderten. Im 18. Jahrhundert startete eine finnische Einwanderung grösseren Ausmasses.
Das 18. Jahrhundert war das Jahrzehnt der Einwanderung in Nordnorwegen und das der
Auswanderung norwegenweit. Es war eine Zeit grosser Umw&;auml;lzungen, u.a. durch die industrielle
Revolution. Überall waren Menschen in Bewegung. In Norwegen und sonst in Europa packten
Familien ihre Koffer, um ihr Glück in Amerika zu suchen. Auch innerhalb Europas verliessen
Familien ihre Heimat. In Nordeuropa suchten Finnen Arbeit in Mittelschweden und in den
russischen Städten an der Ostseeküste (Niemi 1994:122).
Orte mit finnischer Mehrheit
Zu der Zeit wanderten vermehrt Finnen und Südnorweger nach Nordnorwegen ein. Die reichen
Fischgründe lockten, ebenso Arbeitsplätze in den Kupferwerken Kåfjord, Alta und Kvænangen
und überhaupt ein wirtschaftlicher Aufschwung. Viele Finnen liessen sich als Landwirte nieder.
Das freute die dänisch-norwegischen Behörden. Sie waren daran interessiert, dass die Finnmark
von fleissigen kundigen Bauern bewohnt und bearbeitet wurde. In der Ost-Finnmark verteilten die
Behörden bis 1863 gratis Land. Es gab auch eine "Kinder-Einwanderung". Arme finnische
Familien schickten ihre Kinder mit Rentier-Saamen auf ihre Wanderung an die Küste, damit sie
dort bei Norwegern aufwuchsen, die sie ernähren konnten. Die Folge war, dass in Städten wie
Vadsø 1845 bereits jeder dritte Einwohner Finne war, 40 Jahre später waren 62% Finnen. In ganz
Finnmark waren nach offizieller Statistik 1875 24,2% Finnen. Saamen stellten 33,5% und
Norweger 42,3%. Die Masseneinwanderung endete gegen Ende des 19. Jahrhunderts, als es eng
wurde mit Platz und die Fischschwärme ausblieben. Amerika avancierte zum
Auswanderungsziel Nummer Eins (Niemi 1994: 125, Balsvik und Drake 1994: 104).
Dreisprachigkeit und Wechsel von Identität
Die Grenzen zwischen den drei Gruppen waren nicht absolut. Es gab zwar einzelne finnische,
saamische oder norwegische Ghettos in den Städten. Es gab aber auch viele Heiraten zwischen
Kvenen und Saamen und zwischen Kvenen und Norwegern. Anfangs wurden viele Kvenen zu
Saamen, trugen saamische Trachten und lernten die saamische Sprache (Niemi 1994:124).
Mehrsprachigkeit war verbreitet. Laut einer Untersuchung von J.A. Friis anno 1861 waren 80%
der Familien in der Küstengemeinde Kvænangen dreisprachig: 29 von 57 norwegischen Familien,
54 von 58 kvenischen Familien und 98 von 111 saamischen Familien (Bull und Gaski 1994:247).
Der bereits oben zitierte Geologe B.M. Keilhau schildert 1831 ein Erlebnis von seiner Expedition
an den Varangerfjord, bei der er von drei Kvenen im Boot mitgenommen wurde...
... bei dem besonders der eine, ausser seiner Muttersprache Finnisch, auch Saamisch,
Norwegisch und Russisch verstand und redete. Er war ein ganz einfacher Mann, der diese
Sprachkenntnisse allein durch den Kontakt mit den vier zusammen treffenden Nationen
erworben hatte
(in Bull und Gaski 1994:246).
Keilhau schreibt, dass in der östlichsten Region Nordnorwegens Mehrsprachigkeit verbreitet ist.
Eine dieser Vielsprachigen porträtieren Tove Bull und Harald Gaski (1994). Es ist eine alte
Meersaamin namens Anna. Nach ihrer Schulzeit reiste sie von Norwegen mit einem Kaufmann
nach Joensuu in Finnland. Sie hatten sich auf einem der regelmässig stattfindenden Märkte in der
Finnmark getroffen, wo Händler aus vielen Ländern zusammen kamen. Aber das Verhältnis hielt
nicht ewig. Anna reiste weiter nach Helsinki. Finnisch hatte sie zu Hause gelernt. In dem kleinem
Ort, wo sie aufgewachsen war, erzählt sie, sprachen die Einwohner vier Sprachen: saamisch,
norwegisch, finnisch und russisch. Manche konnten auch noch einige Worte englisch oder
deutsch, die sie von Handelsreisenden aufgeschnappt hatten. Anna kann sich gut erinnern, wie
beeindruckt "Obrigkeitspersonen aus dem Süden" über die Sprachkenntnisse im Norden waren
und wie erstaunt Lehrer darüber waren, wie schnell die Kinder sich neue Sprachen aneigneten
(Bull und Gaski 1994: 248-249).
Es gab ausserdem genug Norweger, Kvenen und Saamen, die Freundschaften, Beziehungen und
Ehen mit Angehörigen anderer ethnischer Gruppen eingingen. An der Küste, fand Trond Thuen
heraus, stieg die Anzahl der gemischten Heiraten trotz beginnender Norwegisierung markant an.
So fiel die Rate von Heiraten zwischen Leuten gleicher Herkunft in einer Gemeinde von 90% im
Jahr 1865 auf 40% in 1930. Die Rate von Heiraten zwischen Partnern, bei denen eine(r) der Beiden
gemischter Herkunft ist, stieg in der Periode von 0 auf 50%. Der Anteil von Heiraten zwischen
Norwegern, Saamen und Kvenen stieg zwischen 1865 und 1875 von 10 auf 20% und stabilisierte
sich dann bei 10%. Heiraten zwischen Norwegern und Saamen waren weniger üblich als
zwischen Saamen und Kvenen (Thuen 1989:60).
Randi Rønning Balsvik und Michael Drake stellen folgendes Muster auf:
- Finnen haben saamische Frauen den norwegischen Frauen vorgezogen
- Finninen wollten am liebsten norwegische Männer
- Norweger wählten finnische Frauen lieber als saamische Frauen.
(Balsvik und Drake 1994:107).
Standesschranken bedeutender als ethnische
Diese obigen Daten sind wie alle Statistiken mit Vorsicht zu gebrauchen. Die behördlichen
Konzepte von Ethnizität und Nationalität, so gibt Trond Thuen zu bedenken, müssen nicht
dieselben sein wie die der "einfachen Leute". Seine Daten belegen einmal mehr, welch flexible
Einheiten ethnische Gruppen sind und dass Mitgliedschaft in einer ethnischen Gruppe nur selten
allein von der Abstammung abhängt. Er schreibt in Bezug auf Heiratspartner:
In most cases, when an individual exhibits a willingness to be treated according to the rules
of conduct laid down by a particular ethnic group which is not his or her own by birth, he
or she may be regarded as an acceptable marriage partner to a group member (...)
(Thuen 1989:56).
Thuen hat die Registrierungen einzelner Leute einer Küstengemeinde von 1865 bis 1930 im
Abstand von etwa zehn Jahren miteinander verglichen und stiess auf einen flexiblen Umgang mit
Gruppenzugehörigkeit. Er fand heraus, dass die Selbst-Identifikation einiger Leute von "rein" zu
"gemischt" wechselte. Für viele Leute war diese Unterscheidung persönlich gar nicht so wichtig.
Für die Einheimischen war die wichtigste Unterscheidung zu der Zeit die zwischen der normalen
lokalen Bevölkerung und der kleinen norwegischen Elite von Kaufleuten und Lehrern, die auch
die wichtigen politischen Ämter inne hatten (Thuen 1989:61).
In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts verschlechterte sich das Verhältnis der Norweger zu
den Kvenen. Das hatte laut Einar Niemi (1994) mit der Konkurrenzsituation auf dem Arbeitsmarkt
zu tun wie auch mit dem beginnenden Norwegen-Nationalismus. Die Kvenen wurden als
nationales Sicherheitsproblem gesehen. In der Perspektive der staatlichen Behörden ballten sich
die Kvenen in Grenzregionen und hatten Wurzeln in einem Land, dem Grossherzugstum
Finnland, das an Russland angeschlossen war und offenbar Grossmachtambitionen hatte. Die
Behörden begannen von einer "finnischen Gefahr" zu reden und versuchten alles, um die
Eigenheiten in Sprache und Kultur zu eliminieren (Niemi 1994:125).
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Das Wesentliche: In Nordnorwegen hat das Überschreiten von sogenannten ethnischen Grenzen
Tradition. Aufgrund wirtschaftlicher Ursachen und persönlicher Neugier und Zuneigung wurde
der Landesteil ein buntes Gemisch aus (mindestens) "drei Stämmen", die sich immer wieder
vermischten. Sympathie für "die Andere" und "den Anderen" war in vielen Fällen gewichtiger als
die nationalistische Propaganda von staatlicher Seite, welche sich um die Loyalität Sorgen machte
und versuchte, die Bewohner zu homogenisieren und Vorurteile über "Andere" verbreitete.