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BUCHAUSZUG
Auf der Suche nach Christlicher Freiheit Kapitel 9: Blut und Leben, Gesetz und Liebe von Raymond Franz (Übersetzung: Herbert Raab)
Teil 2
,Enthaltet euch von Blut'
Der Brief, den die Apostel und die älteren
Männer in Jerusalem absandten und der in Apostelgeschichte, Kapitel
15, aufgezeichnet ist, gebraucht den Ausdruck "enthalten" in Verbindung
mit Dingen, die Götzen geopfert wurden, mit Blut, Erwürgtem und
mit Hurerei. Der dort verwendete griechische Ausdruck (apékhomai)
hat die Grundbedeutung "sich von etwas fernhalten." In Wachtturm-Veröffentlichungen
wird unterstellt, dass er in bezug auf Blut einen absoluten, umfassenden
Sinn habe. So heißt es in der Publikation Du kannst für immer
im Paradies auf Erden leben auf Seite 216: 'sich
des Blutes zu enthalten' [bedeutet], überhaupt kein Blut in den Körper
aufzunehmen. Ähnlich sagt der Wachtturm vom 1.Mai 1988, Seite
17: In den Fußstapfen Jesu zu wandeln bedeutet, kein Blut in den
Körper aufzunehmen, weder oral noch auf eine andere Weise. Hat denn
aber dieser Ausdruck, wie er in der Heiligen Schrift verwendet wird, eigentlich
den absoluten Sinn, wie es diese Publikationen unterstellen? Oder hat er
vielleicht eine relative Bedeutung und eine spezielle, begrenzte Anwendung?
dass er wohl nicht in einem totalen, umfassenden
Sinn, sondern begrenzt und spezifisch gilt, kann man seiner Verwendung
in Textstellen wie 1.Timotheus 4:3 entnehmen. Dort warnt der Apostel Paulus,
einige angebliche Christen würden verderbliche Lehren einführen,
indem sie verbieten zu heiraten und gebieten, sich von Speisen zu enthalten,
die Gott geschaffen hat, damit sie mit Danksagung [...] genossen werden.
Er meinte damit natürlich nicht, diese Personen würden gebieten,
sich völlig, in jeder Hinsicht von allen Speisen zu enthalten, die
Gott geschaffen hat. Das würde totales Fasten bedeuten und zum Tode
führen. Offensichtlich meinte er also, sie würden besondere
Speisen verbieten, augenscheinlich die, die unter dem mosaischen Gesetz
verboten waren.
Einen ähnlichen dringenden Rat gibt der Apostel
Petrus in 1.Petrus 2:11:
Geliebte, ich ermahne euch als
Fremdlinge und zeitweilig Ansässige, euch der fleischlichen Begierden
zu enthalten, die ja mit der Seele im Streit liegen.
Nähmen wir diesen Ausdruck wörtlich, in
absolutem Sinne, so würde das heißen, dass wir überhaupt
kein fleischliches Bedürfnis befriedigen könnten. Das hat der
Apostel mit seinen Worten aber sicher nicht gemeint. Wir haben viele "fleischliche
Begierden"; so müssen wir essen, atmen, schlafen, uns Ruhe gönnen
und vieles mehr, das völlig richtig und gut ist. Sich "der fleischlichen
Begierden zu enthalten", kann also nur im Textzusammenhang der Schrift
des Apostels verstanden werden. Es bezieht sich nicht auf alle fleischlichen
Bedürfnisse, sondern nur auf schädliche, sündhafte Begierden,
die in der Tat "mit der Seele im Streit liegen."
Die Frage ist also, in welchem Kontext
Jakobus und das Apostelkonzil den Ausdruck "von Blut enthalten" gebrauchten.
Das Konzil selbst befasste sich speziell mit dem Bemühen einiger,
von den Heidenchristen zu fordern, sich nicht nur beschneiden zu lassen,
sondern auch "das Gesetz Mose zu halten." Das war das Thema, das der Apostel
Petrus ansprach: das Einhalten des mosaischen Gesetzes, das er als schwer
zu tragendes "Joch" bezeichnete. Als Jakobus vor der Versammlung sprach
und seine Empfehlungen gab, wovon sich die Heidenchristen unbedingt enthalten
sollten Dinge, die durch Götzen verunreinigt sind, Hurerei,
Erwürgtes und Blut , ließ er dem die Feststellung folgen:
Denn seit alten Zeiten hat Moses
von Stadt zu Stadt solche gehabt, die ihn predigen, weil er in den Synagogen
an jedem Sabbat vorgelesen wird.
Bei seiner Empfehlung dachte er ganz offensichtlich
an das, was die Menschen hörten, wenn ,Moses in den Synagogen vorgelesen
wurde.' Jakobus wusste, dass es in alter Zeit Heiden gab, "Leute
aus den Nationen", die in Israel lebten und unter der jüdischen Gemeinde
weilten. Welche unbedingten Erfordernisse hatte ihnen denn das mosaische
Gesetz auferlegt? Sie mussten sich nicht beschneiden lassen, aber
sie mussten sich sehr wohl gewisser Praktiken enthalten, die
im 3. Buch Mose, Kapitel 17 und 18, aufgeführt waren. Das Gesetz bestimmte,
dass nicht nur die Israeliten, sondern auch die "als Fremdlinge Ansässigen"
sich von folgenden Dingen enthalten mussten: von der Beteiligung an
Götzenopfern (3.Mose 17:7-9), vom Blutgenuss, was nicht ausgeblutete
Tiere mit einschloss (3.Mose 17:10-16) und von ausgesprochen unmoralischen
sexuellen Handlungsweisen wie Blutschande und Homosexualität.
3.Mose 18:6-26.
Das Land Israel selbst stand nun unter der Kontrolle
von Nichtjuden, und eine große Zahl von Juden lebte außerhalb
Israels in verschiedenen Ländern (man nannte sie "Diaspora", was "die
Zerstreuten" bedeutet). Doch Jakobus wusste, dass die jüdische
Gemeinde in vielen Städten im Römischen Reich wie ein Mikrokosmos
war, der die Situation im Palästina des Altertums widerspiegelte,
wo es für Heiden völlig normal war, die Versammlungen der Juden
in den Synagogen aufzusuchen und sich so unter sie zu mischen. Die Urchristen
selbst, Juden- wie Heidenchristen, besuchten diese Versammlungen in den
Synagogen weiterhin, ja wir wissen sogar, dass Paulus und andere dort
sehr häufig predigten und lehrten. Wenn Jakobus davon spricht, dass
Moses in den Synagogen von Stadt zu Stadt vorgelesen wird, kann man daher
annehmen, dass er bei der Aufzählung der zuvor genannten Dinge
an das dachte, was Moses in alter Zeit dargelegt hatte, wovon sich die
Heiden in der jüdischen Gemeinschaft enthalten sollten. Wie wir gesehen
haben, führte Jakobus nicht nur genau dasselbe auf, das in 3.Mose
steht, er tat das sogar in derselben Reihenfolge: sich von Götzenopfern,
von Blut, Erwürgtem (also nicht Ausgeblutetem) und von geschlechtlicher
Unmoral zu enthalten. Er empfahl den Gläubigen aus den Heiden, sich
von denselben Dingen fernzuhalten, und der Grund dafür war offensichtlich
der damalige Umstand, dass die Christenversammlungen aus Juden und
Heiden zusammengesetzt waren und Friede und Harmonie gewahrt bleiben sollten.
Als den Heidenchristen dringend empfohlen wurde, ,sich von Blut zu enthalten',
war das nicht in einem umfassenden Sinn zu verstehen, sondern ganz klar
in dem speziellen Sinn, kein Blut zu essen, etwas, das die Juden
verabscheuten. Wenn man darüber hinausgeht und versucht, dem Blut
an sich eine Art "Tabustatus" zuzuweisen, heißt das, dass
man das Thema aus dem biblischen und historischen Zusammenhang herausnimmt
und ihm eine Bedeutung aufzwingt, die es nicht hat.
Interessanterweise führte Jakobus Dinge wie
Mord oder Diebstahl nicht mit auf, als er forderte, gewisse Handlungen
zu meiden. Dies wurde von den Heiden allgemein bereits ebenso verurteilt
wie von den Juden. Aber die Heiden billigten nun einmal Götzendienst,
das Essen von Blut und von nicht ausgebluteten Tieren, und sie hießen
auch geschlechtliche Unmoral gut. Sie hatten sogar "Tempelprostituierte"
an den Orten ihrer Anbetung. Das, was sie meiden sollten, war also auf
diejenigen Bereiche heidnischer Praktiken konzentriert, von denen zu erwarten
war, dass sie bei den Juden großen Widerstand hervorriefen und
zu Reibereien führten. Das mosaische Gesetz hatte nicht die
Beschneidung als Bedingung für Fremde gefordert, die in Frieden innerhalb
Israels leben wollten, und deshalb stellte auch Jakobus keine derartige
Forderung auf.
Der Brief, der das Ergebnis der Empfehlung des
Jakobus war, war speziell an Heidenchristen gerichtet, an Leute
"von den Nationen" in Antiochien, Syrien und Zilizien (Gebiete, die sich
im Norden von Israel erstreckten), und wie wir gesehen haben, behandelte
er speziell das Thema des Versuchs, von Gläubigen aus den Heiden zu
fordern, "das Gesetz Mose zu halten." Er handelte von denjenigen Bereichen
des Verhaltens, von denen am ehesten Schwierigkeiten zwischen Judenchristen
und Heidenchristen zu erwarten waren. Wie später gezeigt wird, gibt
es keinen Hinweis darauf, dass der Brief als "Gesetz" beabsichtigt
war, als ob die Forderungen, vier Dinge zu meiden, einen "Quadrilog" bildeten,
der den "Dekalog" oder die Zehn Gebote im Gesetz Mose ersetzen sollte.
Es war ein besonderer Rat für einen besonderen Umstand, der zu jener
Zeitperiode herrschte.
Vorzugsbehandlung
Während meiner Zeit in der leitenden Körperschaft
hatte ich immer den Eindruck, dass Richtlinien in gewisser Weise unterschiedlich
angewendet und solche Personen bevorzugt werden, die in einer Sache Fachleute
sind. Lehrer dürfen die Evolutionstheorie lehren, wenn sie das von
einem "rein objektiven Standpunkt aus" tun und der Klasse, vorzugsweise
zu Beginn, ihre abweichende Auffassung erklären. Wie wir gesehen haben,
dürfen Rechtsanwälte in Wahlbüros dienen. Vielleicht am
bemerkenswertesten ist jedoch, dass Ärzte nicht nur medizinischen
Organisationen angehören dürfen, die solche Praktiken wie Bluttransfusionen
und Schwangerschaftsunterbrechungen billigen; man sagt ihnen auch, sie
selbst dürften einem Patienten, der kein Zeuge ist, auf seinen Wunsch
hin eine Transfusion geben. Das wird damit begründet, dass das
mosaische Gesetz den Israeliten erlaubte, Ausländern Fleisch von verendeten
Tieren zu verkaufen! Doch das Blut dieser Tiere befand sich noch immer
in den Körpern; es war nicht entfernt und gelagert worden ein
Vorgang, den die Organisation als Verachtung des Gesetzes Gottes verurteilt.
Die ganzen lauten Forderungen, "tiefen Respekt vor der Heiligkeit des Blutes"
zu zeigen; all die Warnungen vor Blutschuld, wenn man Blut missbraucht;
die ganze Argumentiererei, die jedes Lagern von Blut als Verachtung vor
den Gesetzen Gottes verurteilt: das alles verliert plötzlich an Wert,
wenn es dabei um Zeugen geht, die Chirurgen sind.
In aller Aufrichtigkeit und ohne jemandem zu nahe
treten zu wollen: Wenn ich all die verschiedenen Verfügungen der Organisation,
die Vorschriften, Richtlinien und fachlichen Details, die wir betrachtet
haben, noch einmal an mir vorbeiziehen lasse, dann kann ich eigentlich
nur noch glauben: Wenn jemand in den "alltäglicheren" Dingen des Lebens
eine solche Argumentation gebraucht, wie sie in diesen Standpunkten und
Vorschriften zum Ausdruck kommt, dann müssten die Leute wohl
an seinem gesunden Menschenverstand zweifeln.
Warum nehmen Menschen das an?
Der Apostel Paulus sprach in seinen Tagen von
Menschen, die "unter Gesetz sein wollen." (Galater 4:21) Heute wollen
das viele immer noch. Vielleicht wird nicht wie bei den Judaisten in den
Tagen des Paulus eine Unterordnung unter das mosaische Gesetz befürwortet.
Aber durch Gesetzesdenken wird das Christentum zu einem Gesetzeskodex,
einem Regelwerk gemacht. Man schafft eine Art Versklavung unter Vorschriften
und überkommene Richtlinien, und diese beherrschen das Verhältnis
der Menschen zu Gott.
Warum aber beugen sich andere derartigen Forderungen?
Was bringt Menschen dazu, die kostbare Freiheit preiszugeben, in moralischen
Dingen, ja sogar in den intimsten Bereichen des Lebens selbst zu entscheiden?
Was veranlasst sie, sich den Auslegungen und Vorschriften unvollkommener
Menschen auch auf die Gefahr hin zu unterwerfen, ihre Arbeitsstelle zu
verlieren, ins Gefängnis zu kommen, ihre Ehe großen Belastungen
auszusetzen, selbst das eigene Leben oder das eines nahestehenden Menschen
aufs Spiel zu setzen?
Viele Dinge spielen dabei eine Rolle. Vielleicht
üben das soziale Umfeld oder die Familie Druck aus, und Konformität
ist ein möglicher Weg, Differenzen oder sogar Konflikte zu vermeiden.
Es kann die nackte, lähmende Angst sein, von Gott verworfen und schließlich
vernichtet zu werden, wenn man außerhalb der "Arche" Organisation
landet. Es gibt jedoch einen weiteren, vielleicht fundamentaleren Grund,
der oft noch genauer den Kern der Sache trifft.
Die meisten Menschen mögen es, wenn Dinge
schwarzweiß gemalt werden, wenn Themen sich ordentlich in den Schubladen
"richtig" oder "verkehrt" befinden. Eigene Gewissensentscheidungen
zu treffen, kann schwierig, manchmal mühselig sein. Viele unterziehen
sich lieber nicht dieser Mühe. Sie lassen es sich eher von jemand
anderem sagen, lassen ihn für sich Gewissen spielen. Das ist der Grund,
warum in den Tagen Jesu die Kontrolle durch die Rabbiner und eine Sammlung
rabbinischer Überlieferungen entstehen konnten. Statt etwas auf der
Grundlage des Wortes Gottes und des eigenen Gewissens zu entscheiden, handelte
man nach der Devise "Frag den Rabbi." Bei Jehovas Zeugen ist daraus unzweideutig
"Frag die Organisation" oder einfach "Frag Brooklyn" geworden.
Ein weiterer Grund ist die Feinheit, mit der solche
durch Gesetzesdenken geprägten Begründungen und Auslegungen vorgebracht
und für verpflichtend erklärt werden. Die Betonung von Gesetzen
seitens der Religion, Legalismus, ist sei jeher durch den Gebrauch von
Fachfragen und Spitzfindigkeiten gekennzeichnet, durch eine Art des Argumentierens,
die nicht nur subtil ist; sie ist einleuchtend und manchmal sogar sehr
geschickt und doch falsch. Diese Argumentation zu entwirren und als
das zu erkennen, was sie wirklich ist, macht Mühe; eine Mühe,
mit der sich viele nicht abgeben und die andere wohl einfach nicht aufbringen
können.
Dazu wollen wir uns eben zwei Beispiele aus alten
rabbinischen Quellen genauer ansehen. In früherer Zeit gaben "Gesetzeslehrer"
der Verfügung aus 2.Mose 16:29 (Niemand gehe am siebten Tag aus seinem
Ort hinaus) eine deutlichere Form. Sie legten fest, dass man am Sabbat
nur eine bestimmte Wegstrecke (etwas weniger als 3.000 Fuß) über
die Stadt- oder Ortsgrenze hinaus zurücklegen durfte. Das nannte man
eine "Sabbat-Tagereise" (ein Begriff, der zu Jesu Zeit gebräuchlich
war; siehe Apostelgeschichte 1:12). Und doch gab es eine Möglichkeit,
einen längeren Weg zurückzulegen und nach rabbinischer Auffassung
immer noch "in Übereinstimmung mit dem Gesetz" zu handeln. Wie ging
das?
Man konnte sich praktisch einen zweiten Wohnsitz
in irgendeinem Haus oder an einer Stelle außerhalb des eigentlichen
Wohnortes "schaffen" (aber noch innerhalb der 3.000 Fuß), indem man
dort einfach am Tag vor dem Sabbat Proviant für wenigstens zwei Mahlzeiten
abstellte. Dann konnte man sich am Sabbat zu diesem zweiten "Wohnsitz"
begeben und von dort aus weitere 3.000 Fuß Weg zurücklegen.
Auf die gleiche Art wurde auch das Verbot aus
Jeremia 17:22, "am Sabbattag [...] Last aus euren Häusern hinaus[zu]tragen",
erweitert. Die Gesetzeslehrer argumentierten, es sei nirgends verboten,
Gegenstände von einem Teil eines Hauses in einen anderen zu
tragen, auch wenn das Haus von mehr als einer Familie bewohnt werde. So
legten sie fest, dass die Menschen, die in den Häusern eines
bestimmten Blocks lebten (z.B. in Häusern, die um einen gemeinsamen
Hof herum gebaut waren), einen Eingang "nach dem Gesetz" für den gesamten
Block errichten konnten, indem sie am Straßenzugang zum Block Türpfosten
aufstellten, vielleicht mit einem Querbalken als Türsturz. Jetzt sah
man den ganzen Block als praktisch einen Wohnsitz an, und Gegenstände
konnten in diesem Bereich von Haus zu Haus getragen werden, ohne dass
das Gesetz verletzt wurde.
Diese Art der Argumentation und Spitzfindigkeit
vergleiche man nun einmal mit der Methode, derer sich die Wachtturm-Gesellschaft
bei der Anwendung ihrer Regeln zu gewissen Aspekten ärztlicher Tätigkeit
bedient. Im Wachtturm vom 1.März 1989 wird in der Rubrik "Fragen
von Lesern" die Methode erörtert, einem Patienten einige Zeit vor
einer Operation Blut zu entnehmen und es zur Wiederverwendung während
oder nach der Operation zu lagern. Dann heißt es kategorisch, dass
Jehovas Zeugen "mit diesem Verfahren NICHT einverstanden" sind. Aus welchem
Grund? Das Blut ist "kein Bestandteil des Betreffenden mehr." Es wird der
Text aus 5.Mose 12:24 angeführt, wo gesagt wird, dass das Blut
getöteter Tiere auf die Erde ausgegossen werden müsse. Man sieht,
mit welcher Begründung auch immer, dieses Gesetz über das Töten
von Tieren so an, als sei es ein Parallelfall zur eben beschriebenen Lagerung
von Blut eines lebenden Menschen.
Doch dann fährt der Artikel mit der Besprechung
einer weiteren Methode fort, bei der das Blut des Patienten während
einer Operation durch eine Herz-Lungen-Maschine oder ein Hämodialysegerät
(Künstliche Niere) zur Anreicherung mit Sauerstoff und zur Filterung
geleitet wird, ehe es in den Körper des Patienten zurückkehrt.
Der Artikel informiert die Leser darüber, dass diese Methode
anders als die zuvor genannte von einem Christen als zulässig angesehen
werden kann. Und warum? Weil Christen das "als eine Erweiterung ihres
Kreislaufsystems" betrachten können, "durch die das Blut ein künstliches
Organ passieren" kann. So können sie in dem Glauben sein, das Blut
in diesem geschlossenen Kreislauf [sei] immer noch ein Teil von
ihnen und [müsste] nicht ,ausgegossen' werden.
Inwiefern unterscheidet sich diese technische
"Erweiterung" des Kreislaufsystems von dem Gesetzesdenken der Rabbiner,
das die "Erweiterung" einer Sabbat-Tagereise durch die Spitzfindigkeit
eines künstlichen zweiten Wohnsitzes erlaubte? Oder wie unterscheidet
sich die Einordnung, das Blut befinde sich technisch gesehen in einem "geschlossenen
Kreislauf", von dem Legalismus alter Zeit, nach dem man eine Anzahl Häuser
mit Hilfe eines künstlichen Eingangs zu einem "geschlossenen Kreis"
machen konnte? In beiden Fällen wird dieselbe Art Haarspalterei betrieben,
bestimmt Gesetzesdenken den Gebrauch von Finessen, früher wie heute.
Im Grunde ihres Herzens denken viele Zeugen vielleicht,
dass die erste Methode, die Eigenblutkonservierung, wirklich nicht
weniger bibelgemäß ist als die zweite, das Blut durch eine Herz-Lungen-Maschine
laufen zu lassen. Doch sie dürfen sich nicht frei nach ihrem Gewissen
entscheiden. Ein Leben mag auf der Kippe stehen, doch den Begründungen
und Spitzfindigkeiten der Wachtturm-Gesellschaft muss Folge
geleistet werden, weil sie Teil der "richtigen theokratischen Gesetzessammlung"
sind. Ihnen nicht zu gehorchen hieße, den Ausschluss zu riskieren.
Die Schwäche von Gesetz
und die Macht der Liebe
Das Gesetz bringt oftmals eine äußerliche
Anpassung hervor, die verdeckt, was die Menschen innerlich sind. In den
Tagen Jesu ließ es geistliche Führer durch peinlich genaues
,Leben nach den Vorschriften' äußerlich den Menschen als Gerechte
[erscheinen], innerlich aber [waren sie] voll von Heuchelei und Gesetzlosigkeit.
Heutzutage wirkt ein Gesetz genauso.
So ist ein Gesetz dort am wenigsten wirksam, wo
es um die innersten Beweggründe geht. Das Gesetz kann einen Dieb ausmachen
und bestrafen. Es kann das gleiche jedoch nicht, wenn jemand zwar gesetzestreu,
aber auch habsüchtig ist und seine Begierde und Knauserigkeit anderen
Leid zufügen. Das Gesetz kann einen Mörder verurteilen und sogar
hinrichten. Aber es hilft nur wenig bei der Verfolgung eines Hassers, eines
Eifersüchtigen, Neiders, Intriganten oder Rachsüchtigen
besonders wenn er so vorsichtig ist, sich "rechtlich zulässiger" Mittel
zu bedienen. Ich habe Leute von dieser Art gekannt; dabei waren auch Männer
in hohen Stellungen.
Man erkennt den auffallenden Gegensatz zwischen
dem Gesetzesdenken, durch "Richtlinien", Regeln und Vorschriften Kontrolle
auszuüben, und der Haltung, wie sie der Apostel Paulus einnahm, als
er gegen Bösestun ermahnte. Sein Aufruf betont konsequent vor allem
die Liebe, nicht das Gesetz. Daher schreibt er in seinem Brief an die Römer:
Seid niemandem irgend etwas schuldig,
außer dass ihr einander liebt; denn wer seinen Mitmenschen liebt,
hat das Gesetz erfüllt. Denn das geschriebene Recht: Du sollst nicht
ehebrechen, du sollst nicht morden, du sollst nicht stehlen, du sollst
nicht begehren und was immer für ein Gebot es sonst noch gibt, ist
in diesem Wort zusammengefasst, nämlich: Du sollst deinen Nächsten
lieben wie dich selbst. Die Liebe fügt dem Nächsten nichts Böses
zu; daher ist die Liebe die Erfüllung des Gesetzes.
Paulus zeigte diese Einstellung daran, wie er Probleme
anging. Ein bemerkenswertes Beispiel ist das, wo es um das Essen von Götzen
geopfertem Fleisch geht (eins der vier Dinge, die in dem Brief nach Apostelgeschichte
15 genannt sind). In Korinth gingen einige Christen sogar regelmäßig
in Götzentempel, wo solches Fleisch nach seiner Opferung gekocht und
in den Vorhöfen der heidnischen Tempel (gegen Bezahlung) aufgetischt
wurde. dass ein Christ dort aß, sahen manche der Mitjünger
besonders die Judenchristen zweifellos so an, wie es Jehovas
Zeugen täten, wenn eines ihrer Mitglieder heutzutage sagen wir
einmal: in der römisch-katholischen St.Patrick's-Kathedrale in New
York an einem von der Kirche veranstalteten Essen teilnähme;
mit Speisen, die zuvor von Priestern gesegnet und dann aufgetischt wurden,
wobei die Kirche eine Bezahlung erhielte. Der Standpunkt mag derselbe sein,
doch die Sache selbst war weit schwerwiegender. Wie behandelte nun der
Apostel die Angelegenheit?
Drohte er denen, die das Fleisch aßen, mit
rechtlichen Schritten und wahrscheinlichem Ausschluss? Verwies er
auf das Gesetz, auf ein Regelwerk als Mittel, sie wegen ihrer Handlungsweise
an die Kandare zu nehmen? Ganz im Gegenteil! Er zeigte, dass die Handlung
an sich nicht zu verurteilen war. Aber sie konnte unerwünschte,
sogar tragische Folgen haben. Er gab seinen Rat nicht auf der Grundlage
eines Gesetzes, sondern von Liebe:
Wir sind darin einig, dass
jeder von uns etwas von Gott und von seinem Willen weiß. Freilich,
das Wissen allein, die Verstandesschärfe allein schaffen nur Dünkel.
Wer nichts sucht als Wissen und Erkenntnis, sucht im Grunde nur sich selbst.
Die Liebe aber führt uns mit den anderen zusammen, die Liebe baut
die Gemeinde auf zum Haus Gottes. Wenn jemand darum meint, er sei ein "Wissender",
hat er noch nicht begriffen, in welchem Sinne er "wissend" sein soll. Wenn
aber jemand Gott liebt, ist er (umgekehrt) durch Gottes Wissen und Kenntnis
mit Gott verbunden, eben dadurch, dass Gott von ihm weiß (und
das ist wichtiger). Was nun die Speise betrifft, die in den Tempeln der
Götter geweiht wurde: Wir wissen doch wohl, dass es keine Götter
in der Welt gibt und dass niemand ein "Gott" ist außer dem Einen.
. . . Allerdings: Nicht jeder lebt als Christ in erster Linie aus dem Wissen.
Es gibt einige unter euch, die von früher her gewohnt sind, diese
Götter für Wirklichkeiten zu halten. Sie essen das Fleisch, das
sie kaufen, noch immer so, als ob es Göttern geweiht wäre, und
ihr Gewissen, das noch keine rechte Kraft hat, wird unrein dabei. . . .
Achtet aber wohl darauf, dass eure Freiheit, euer Kraftgefühl
nicht auf Kosten der Schwächeren geht (der "engen" und "Rückständigen").
Wenn dich nämlich jemand im Göttertempel vor einer Mahlzeit geweihten
Fleisches sitzen sieht und sagen muss: Das ist einer, der besonders
viel über den Glauben weiß wird ihn das nicht dazu verleiten,
nun ebenfalls davon zu essen, aber in einem ganz anderen Sinne als du .
. . ? Und er verliert Christus, weil du ihm deine Einsicht vorgelebt hast,
die er doch nicht versteht. Dabei ist er dein Bruder, den zu retten Christus
gestorben ist! Wenn ihr euch also an euren Brüdern vergeht [durch
den Missbrauch der christlichen Freiheit] und ihr schwaches Gewissen
überfordert, versündigt ihr euch an Christus.
Ob ein Christ aß oder nicht, hing also nicht
vom Gesetz oder von der Befürchtung ab, nach dem Gesetz für schuldig
befunden zu werden, sondern von der Liebe und dem Bemühen, sich nicht
gegen seinen Bruder zu vergehen, "den zu retten Christus gestorben ist"
wahrlich eine edlere Haltung, die Christen offenbaren ließ,
was in ihren Herzen war. Das war keine bloße Nachgiebigkeit gegenüber
einer Vorschrift.
Dieser Rat zeigt auch, dass Paulus die Entscheidung
der Apostel und der anderen in Jerusalem (die in Apostelgeschichte 15 aufgezeichnet
ist) nicht als "Gesetz" ansah. Wäre sie ein Gesetz gewesen,
hätte er nie in dieser Weise an die Korinther Christen geschrieben
und offen gesagt, Götzen geweihtes Fleisch zu essen sei eine Gewissenssache,
bei der nur entscheidend ist, ob sie andere zum Straucheln bringt oder
nicht. Den Brief aus Jerusalem als Gesetz zu betrachten und auf dieser
Basis zu behaupten, dass er von Blut spreche, zeige, dass Christen
weiterhin unter den Bestimmungen im Gesetz Mose ständen, heißt
ganz klar, die Aussagen des Apostels Paulus zu ignorieren. Denn aus seiner
Behandlung des Themas "Götzen geopfertes Fleisch" ergibt sich logisch,
dass eine solche Argumentation nicht schlüssig ist. War es unwahrscheinlich,
dass jemand zum Straucheln kam, dann konnte niemand Paulus oder einen
anderen Christen für das Essen solchen Fleisches richten. Daher sagt
Paulus:
Denn warum sollte meine Freiheit
von dem Gewissen eines anderen gerichtet werden? Wenn ich mit Danksagung
teilhabe, warum soll bezüglich dessen, wofür ich Dank sage, über
mich lästerlich geredet werden?
Christliche Freiheit sollte niemals unempfänglich
für das Gewissen und die Bedenken anderer machen. Ebenso hat aber
auch niemand das Recht, das eigene Gewissen zum Maßstab für
andere zu machen und dabei deren Freiheit in Christus Grenzen zu setzen.
Und es hat auch kein Kreis von Auserwählten, der sich zu Vollstreckern
apostolischer Gewalt aufwirft, das Recht, andere dem eigenen Gruppengewissen
zu verpflichten und auf dieser Grundlage Verfügungen herauszugeben.
Im vorigen Kapitel wurde der Unterschied zwischen
Gesetz und Moralgesetz erklärt. Die Macht des ersten kommt aus der
Erzwingung durch Autorität, das zweite vermittelt durch Lehren Grundsätze.
Jesus lehrte gewöhnlich in Gleichnissen; durch Geschichten, die keine
Gesetze erklärten, sondern machtvolle Grundsätze, entscheidende
moralische Lektionen zu Bewusstsein brachten. Mit dem Gleichnis vom
verlorenen Sohn wird kein Gesetz gegeben, dass man seine widerspenstigen
Kinder wieder aufnehmen, ihnen ein Fest bereiten, usw. soll. Es wird vielmehr
der Geist der Liebe betont, eine großzügige, barmherzige
Einstellung. In der Bibel sind unterschiedliche Darstellungsweisen vereint
da gibt es zwar Verfügungen, die zu einer Handlungsweise auffordern,
doch es wird auch positiv über Lebensweisen berichtet (wie
man Liebe auslebt oder friedliche Beziehungen zu anderen bewahrt). Es gibt
Antworten auf Fragen, die gerade gestellt wurden. So beantwortet z.B. Paulus
eine ganze Reihe davon, aber er macht seine Antworten keinesfalls zum Gesetz,
sondern er gibt vernünftigen geistigen Rat zu einem bestimmten, gerade
aktuellen Thema.
Wie echt ist die hergestellte
Einheit?
Es stimmt, dass man eine Art Einheit und
Ordnung herstellen kann, wenn man andere durch Gesetze kontrolliert. Aber
wie echt ist das? Handelt es sich dann nicht um Einheit und Ordnung, die
auf Einheitlichkeit und Konformität beruhen? Wirkt andererseits die
Weigerung, Menschen durch ihre legalistische Auslegung in das
Privatleben hineinregieren zu lassen, wahrer Einheit und Geschlossenheit
entgegen? Heißt das, jeder wird dann eine eigene Richtung einschlagen,
er wird eigensinnig, unabhängig oder selbstgefällig? Das muss
nicht sein und sollte es auch nicht wenn man sich aufrichtig
der Leitung des Einen unterstellt, der diese Freiheit verleiht.
Ebenso wie man nicht den unsichtbaren Gott lieben
und gleichzeitig den Nächsten hassen kann, so kann man nicht mit dem
unsichtbaren Sohn Gottes verbunden sein und mit irgendwelchen anderen,
die auch mit ihm verbunden sind und sich in Demut ihm unterwerfen, im Streit
liegen oder keine Beziehung zu ihnen haben. Nach der Heiligen Schrift ist
es die Liebe und nicht die Mitgliedschaft in einer Organisation, die ein
"vollkommenes Band der Einheit" bildet, denn die Liebe ist langmütig,
gütig, nicht eifersüchtig, sie prahlt nicht und bläht sich
nicht auf oder blickt nach ihren eigenen Interessen aus; sie sucht vielmehr
das Gute im anderen.
Liebe zwingt Menschen nicht in eine stimmige Beziehung,
sie zieht sie in herzlicher Weise zueinander. Jede angebliche christliche
Einheit, die auf einer anderen Grundlage beruht, ist vorgetäuscht,
nicht echt, und kann nur durch unchristliche Mittel aufrechterhalten werden.
Der Segen christlicher Freiheit
Heute gibt es unter Jehovas Zeugen ein unglaublich
komplexes Regelwerk, das ihnen in einem sehr weiten Bereich des Lebens
und Verhaltens die Freiheit nimmt, nach dem eigenen Gewissen zu handeln.
Es macht sie zu Objekten einer kirchlichen Gesetzgebung mit einem obersten
Gerichtshof, der aus ein paar fehlbaren Männern besteht. Als ehemaliges
Glied dieser Gesetzgebungsgewalt und Gerichtsbarkeit bin ich davon überzeugt,
dass die Wurzel der Probleme darin besteht, nicht die Wahrheit anzuerkennen,
dass wir als Christen nicht mehr unter Gesetz stehen, sondern unter
Gottes liebender Güte in Christus. In Gottes Sohn können wir
uns dessen erfreuen, keine Gesetze mehr halten zu müssen; wir können
uns in einer Gerechtigkeit freuen, die nicht aus dem Beachten von Regeln
kommt, sondern aus Glauben und Liebe.
Mangelnde Wertschätzung für diese göttliche
Vorkehrung; Zweifel, dass es für ein unsichtbares Wesen auch
ohne hochorganisierte, sichtbare Machtstruktur, die als Kirchengericht
dient, möglich ist, die Nachfolger auf Erden wirksam zu führen
und zu leiten; Widerwille gegen den Glauben, Menschen könnten auch
ohne einen sie umgebenden "Zaun" aus Gesetzen, Regeln und Erlassen davor
geschützt sein, Böses zu tun: das ist es, was viele, vielleicht
die meisten Menschen bei dem Gedanken einen Schock empfinden läßt,
nicht unter einem Gesetz zu stehen; etwas, das sie als nicht nur undurchführbar,
sondern als gefährlich, zersetzend und Zügellosigkeiten Vorschub
leistend ansehen. Sie lassen sich dadurch leicht von den Argumenten derer
beeinflussen und überreden, die eine in den Worten der Wachtturm-Gesellschaft
"Rechtsordnung" einführen wollen, die mit einem religiösen
Gerichtswesen "durchsetzbar" ist.
Weil der von Jesus Christus verliehene heilige
Geist höhere Macht hat als ein Gesetz und Christen dazu bewegen kann,
Gott und den Nächsten zu lieben, konnte der Apostel schreiben:
Der Geist Gottes dagegen lässt
als Frucht eine Fülle von Gutem wachsen: Liebe, Freude, Frieden, Geduld,
Freundlichkeit, Güte, Treue, Demut und Selbstbeherrschung. Wer so
lebt, den kann das Gesetz nicht verurteilen.
Das ist das Großartige an der Freiheit eines
Christen: zu wissen, dass wir aus uns heraus diese göttlichen
Eigenschaften hervorbringen können, ohne dass eine religiöse
Macht einschreiten und die Liebe, Güte, Freundlichkeit oder die anderen
Eigenschaften unterbinden darf. Wir können ohne Furcht so handeln,
da wir wissen, dass "das Gesetz [uns] nicht verurteilen" und kein
Regelwerk uns hindern kann, das zu tun, was nach unserer tiefen Überzeugung
richtig und gut, gütig und liebevoll ist und von Gott gutgeheißen
wird, auch wenn gewisse Menschen es missbilligen.
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