"P 2" - Chef verschwunden

Genf - Der Chef der verbotenen italienischen Geheimloge "P 2" (Propaganda Due), Licio Gelli, ist in der Nacht zum Mittwoch aus dem schweizerischen Gefängnis Champ Dollon bei Genf ausgebrochen oder entführt worden. Gelli saß dort seit September letzten Jahres in Auslieferungshaft. "Die näheren Umstände sind derzeit völlig unklar" erklärte der Sprecher des schweizerischen Justiz- und Polizeiministeriums. Das Verschwinden des 64jährigen wurde bemerkt, nachdem eine Polizeistreife in der Nacht ein Loch in der Umzäunung der Strafanstalt entdeckt hatte, die nicht weit von der französischen Grenze entfernt ist.

Die italienischen Strafverfolgungsbehörden beschuldigen den 64jährigen unter anderem des Betrugs und des betrügerischen Konkurses zum Nachteil der Mailänder Ambrosiano-Bank. Gelli galt als der "Mann hinter den Kulissen" mit engen Beziehungen beispielsweise zum durch Selbstmord in London geendeten früheren Chef der Ambrosiano-Bank Roberto Calvi. (dpa)

in Rheinische Post Nr 184 (?)

"P 2" - Chef Gelli

Flucht im Auto des Aufsehers

Associated Press. Genf - Mit der Verhaftung des 31jährigen schweizerischen Gefängniaufsehers Edouard Ceresa ist am Freitag das Geheimnis um das rätselhafte Verschwinden des Chefs der :italienischen Geheimloge "P II", Licio Gelli aus dem Genfer Gefängnis Champ Dollon gelöst worden: Der Aufseher gestand, den prominenten Häftling für eine Bestechungssumme von rund 20 000 Franken (etwa 22 000 Mark) aus der Haftanstalt geschleust und über die nahe Grenze nach Frankreich gebracht zu haben. Dies gab der Untersuchungsrichter Jean-Pierre Trembley in Genf bekannt.

Rätselhafte Spuren in der Zelle Gellis, Löcher im Gefängniszaun sowie ein am Fuß der Gefängnismauer gefundener Nachschlüssel stellten sich mit der Festnahme des Wärters als absichtlich gelegte falsche Fährten heraus. Das Geständnis des verhafteten Beamten klärte auch die Frage, warum in der Nacht zum Mittwoch zwischen der Meldung einer Polizeipatrouille über ein Loch im Drahtzaun um das Gefängnisgelände und der Entdeckung der Flucht Gellis fast vier Stunden vergangen waren. Nach den Worten Trembleys hatte Ceresa alle drei Alarmmeldungen entgegengenommen und so weitere Nachforschungen blockiert. Gelli befand sich zu dieser Zeit noch immer innerhalb der Gefängnismauern. Erst nach Beendigung der Nachtschicht gegen 7.30 Uhr schleuste der Beamte Gelli in die Freiheit. Mit seinem kleinen Lieferwagen fuhr der Beamte mit dem unter Decken verborgenen Häftling durch das Haupttor des Gefängnisses hinaus.

Nach Mitteilung des Untersuchungsrichters brachte Ceresa Gelli über die nur einen Kilometer entfernte Grenze nach Frankreich und setzte ihn dort an einem nicht näher bezeichneten Ort ab. Beim Passieren der Zollkontrolle habe Gelli vorn neben dem Justizvollzugsbeamten gesessen, und die Zöllner hätten keine Ausweispapiere verlangt. Der Gefängnisaufseher, der seit 1978 in Champ Dollon arbeitete, blieb nach dem geglückten Fluchtunternehmen noch einen Tag in, Frankreich und konnte erst am Donnerstag vorn Untersuchungsrichter vernommen werden. Trembley zufolge gab Ceresa unter anderem zu, über mehrere Monate hinweg die Summe von 20 000 Franken in einzelnen Beträgen erhalten zu haben. Das Geld kam offenbar von Gellis Familie. Der Beamte gab als Motiv für seine Tat auch an, von Gellis Persönlichkeit beeindruckt gewesen zu sein.

Rätsel um Logenchef

Licio Gelli weiß zuviel

Von Wolfgang Saile

Rom - Die Flucht Licio Gellis, des ehemaligen Chefs der Geheimloge P II, aus einem Schweizer Gefängnis hat in Italien größtes Aufsehen erregt. Gelli gilt als "Graue Eminenz" hinter allen Bestrebungen, Italien in eine Präsidialrepublik zu verwandeln und den Einfluß der Parteien zurückzudrängen. Es ist bis zur Stunde unklar, ob der Logenmeister aus dem Gefängnis entführt wurde oder geflohen ist. Nach übereinstimmender Ansicht gibt es zu viele Leute, die um jeden Preis verhindern wollen, daß Gelli vor dem Mailänder Untersuchungsrichter über seine finanziellen und politischen Verbindungen aussagt. Entweder hat er sich nach Argentinien abgesetzt, wo er lange Jahre lebte, oder "Freunde" haben ihn stumm gemacht. Für die Fluchtversion spricht, dass Gellis Frau gleichzeitig aus ihrer Villa im toskanischen Arezzo verschwunden ist. Dem 64jährigen wird allerdings kaum zugetraut, aus eigener Kraft die sieben Meter hohe Gefängnismauer überwunden zu haben. Die Polizei fand Blutspuren, eine Spritze und einen wahrscheinlich äthergetränkten Wattebausch in der Zelle, von der mit Papiertaschentüchern ausgestopfte Schlafanzug einen schlafenden Gelli vortäuschen sollte. Gelli war am 13. September aufgrund eines internationalen Haftbefehls in Genf verhaftet worden. In Champ- Dollen sass er in Auslieferungshaft. Am 19. August sollte entschieden werden, ob einem italienischen Auslieferungsersuchen stattgegeben wird.

Quelle: Rheinische Post


Flucht im Flugzeug

Lyon- Der aus schweizerischer Haft geflohene ehemalige Chef der italienischen Freimaurerloge "P 2", Lucio Gelli, ist mit einem Privatflugzeug illegal aus Frankreich ausgeflogen worden. Die französische Polizei gab in Lyon bekannt, dass Gelli von einigen inzwischen identifizierten Personen "freiwillig oder unfreiwillig" dabei geholfen worden sei. Franzosen seien nicht beteiligt gewesen. Das Ziel sei unbekannt. Spekulationen in diesem Zusammenhang sprechen von Südamerika oder den USA. (Quelle: dpa)

Die Bosse in der Loge ?

Palermo - Mehrere der im großen Mafia-Prozeß von Palermo angeklagten "Bosse"sind angeblich zusammen mit sizilianischen Juristen, Unternehmern und Chefärzten Mitglieder einer Freimaurerloge, wie Staatsanwälte angeblich gestern erklärten. Die Standesorganisation der Juristen in Palermo wies am Freitag darauf hin, dass keiner der in der angeblichen Mitgliederliste der Loge aufgeführten Richter und Staatsanwälte mit Ermittlungen und Prozessen gegen die Mafia befaßt gewesen sei. (Quelle: dpa)

Nach vier Jahren Flucht gab Licio Gelli auf
Logen-Chef stellt sich in Genf der Justiz

Von dpa-Korrespondent Frank Rafalski

Rom - "Hochverehrte Richter! Ich habe mich heute freiwillig dem Schweizer Richter gestellt. Ich will meine Position endgültig klären, um meine vollständige strafrechtliche Unschuld zu beweisen. Ich stehe Ihnen zum Verhör zur Verfügung". Dieser Brief des bisher meistgesuchten Italieners wurde gestern dem Mailänder Untersuchungsgericht übermittelt, kurz nachdem Licio Gelli nach vierjähriger Flucht in Genf wieder aufgetaucht war.

Die italienischen Beamten hatten allerdings gehofft, dass sich der schwerkranke 68jährige in Italien stellen würde, wo auf ihn eine lange Latte von Anklagen wartet: betrügerischer Bankrott, mafiose Bandenbildung, militärische und politische Spionage, Terroranschläge, um nur die dicken Brocken zu nennen.

Gelli war am 10. August 1983 aus der Auslieferungshaft im Genfer Gefängnis Champ-Dollon geflüchtet. Der Ausbruch gelang ihm dank der Hilfe eines Gefängniswärters. .Das Schweizer Bundesgericht hatte am 18. August 1983 entschieden, Gelli sei an Italien auszuliefern. Seit seiner Flucht meldete sich der "meistgesuchte Mann Italiens" nur noch in schriftlicher Form. In Briefen und Interviews, die nach den Mutmaßungen der Behörden aus einem Versteck in Südamerika geschickt worden sind, erklärte sich Gelli mehrfach bereit, sich den italienischen Behörden zu stellen, falls ihm die für über 65jährige vorgesehene Hafterleichterung des Hausarrests gewährt werde.

Die Flut der Verdachtsmomente gegen den geheimnisumwitterten Logen-Meister ist selbst für Eingeweihte kaum zu übersehen. Es gibt nur wenige Skandale in Italien seit 1971, bei denen Gelli nicht eine mehr oder weniger wichtige Rolle gespielt haben soll. Für die breite Öffentlichkeit wurde der frühere Matratzen-Großhändler ein Begriff, als am 17. März 1981 seine Villa in Arezzo durchsucht wurde. Die Polizei fand hochbrisante Geheimakten und eine Liste über die 953 Mitglieder seiner geheimen Freimaurer-Loge "Propaganda 2". Höchste Militärs, die Chefs der Geheimdienste, namhafte Publizisten, Politiker und Industrielle waren demnach Mitglieder der "P2", die staatsgefährdender Umtriebe verdächtigt und anschließend verboten wurde. Die Regierung des Christdemokraten Forlani stürzte über diesen Skandal und für Gelli begann die Zeit der Flucht.

Ein später in Rom eingesetzter parlamentarischer Untersuchungsausschuss versuchte die dunklen Machenschaften des ehemaligen Geheimdienstmannes auszuleuchten, der zu seinen Glanzzeiten in den römischen Regierungspalästen nach Belieben ein- und ausging. Die "P2"-Loge - so die Erkenntnisse der Parlamentarier, zielte darauf ab, Einfluß auf Politik, Militär und Wirtschaft zu nehmen und diese Bereiche im autoritären Sinne zu beeinflussen. Dies geschah nicht nur über die gezielte Anwerbung und Bestechung von hochgestellten Persönlichkeiten, sondern offenbar auch mit kriminellen Methoden in der Wirtschaft und - sollte sich der Verdacht bestätigen - durch Terrorismus.

Der im Juni 1982 unter mysteriösen Umständen in London ums Leben gekommene Bankier Roberto Calvi, der auch für den Vatikan arbeitete, war seit Anfang der 70er Jahre Logenbruder Gellis. Als die Mailänder Banco Ambrosiano zusammenbrach und 1,4 Milliarden Dollar Schulden zurückblieben, wurde Gellis Rolle als "Mittelsmann" bei den illegalen Finanzpraktiken Calvis bekannt. Dazu gehörte auch die Beteiligung der beiden an dem Verlag der größten italienischen Tageszeitung, "Corriere della Sera", mit der sie zusätzlich öffentlichen Einfluß zu gewinnen suchten. "

Nach der Flucht Gellis, dessen Loge auch in mehreren Ländern Lateinamerikas eine dubiose Rolle spielt, riss die Serie der Haftbefehle gegen den "ehrwürdigen Großmeister" in Italien nicht mehr ab. Im Dezember 1985 wurde er angeklagt, ein Drahtzieher des rechtsextremistischen Bombenanschlags auf den Bahnhof von Bologna am 2. August 1980 gewesen zu sein, bei dem es 85 Tote gab. Der zeitlich letzte Haftbefehl wurde am 10. Dezember 1986 in Florenz wegen Bildung einer kriminellen Vereinigung ausgestellt.

Sollte Gelli nach Überwindung seiner Krankheit doch noch einmal an Italien ausgeliefert werden und sich entschließen auszupacken, könnten einige Persönlichkeiten in Italien wieder ins Schwitzen geraten. Schließlich standen auf der "P2"- Mitgliederliste neben vielen anderen namhaften Italienern auch drei Minister, 30 Generäle des Heeres, der Carabinieri und der Finanzpolizei, acht Admirale der Marine und 43 Parlamentarier. Mehrere von ihnen haben inzwischen ihre Posten verloren, doch was sie wirklich von Gellis Machenschaften wussten, hüten sie als ihr Geheimnis.

aus: Rheinische Post Nr. 221 - Dienstag, 22. September 1987